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Kommentare zu "Geheimnisse"

Bei Tanoshii Enterprises herrschte hektische Betriebsamkeit. Ein riesiger Saal war mit Stühlen vollgestellt worden. Vorne auf dem Podest stand ein Rednerpult mit Mikrofon und daneben gab es eine gewaltige Leinwand. In gut zwei Stunden würde hier die Hölle los sein, obwohl jetzt schon in allen Ecken Scheinwerfer und Fernsehkameras aufgebaut waren. Zusätzliche Mikrofone wurden am Rednerpult befestigt, denn kein lokaler und auch überregional großer Fernsehsender wollte sich diesen Moment entgehen lassen. Es war der Tag, an dem ein großes Geheimnis enthüllt werden sollte. So sehr sich auch Reporter und Fotografen von Printmedien, Fernsehen und Radio bemüht hatten, etwas zu erfahren – es war ihnen nicht gelungen. Tanoshii Enterprises hatte es tatsächlich geschafft, über ein ganzes Jahr nicht die kleinste Einzelheit nach draußen dringen zu lassen. Man hatte Angestellte bestochen und zu ködern versucht, um wenigstens ein wenig über die Sensation zu erfahren, die von der Spielzeugfirma geplant war. Doch niemand hatte Erfolg gehabt.

Deswegen würden sie heute alle hier sein. Jeder Berichterstatter, der entbehrt werden konnte, würde sich an diesem Ort aufhalten. Es war ein großer Tag, vielleicht sogar der allergrößte in der Geschichte von Tanoshii Enterprises.

Frauen und Männer rannten aufgeregt hin und her. Sie hatten im Zimmer nebenan Tische zusammengestellt, auf denen später das Buffet serviert werden sollte. Schüsseln, Essstäbchen,  Löffel, Servietten und Gläser waren bereits auf einem extra Tisch platziert worden. Alles musste perfekt sein. Die Angestellten dekorierten die Tische mit Blumen und schmückten den Raum. Es sah schon sehr festlich aus, aber noch gab es wahnsinnig viel zu tun.

Ein Catering-Service würde bald die Speisen und Getränke bringen und jeder hoffte, dass die Leckereien in dem Moment angeliefert wurden, in dem im Saal nebenan das große Spektakel über die Bühne ging, damit keiner etwas von dem mitbekam, was in diesem Zimmer vor sich ging.

Natürlich ging das ganze Spektakel nicht ohne Sicherheitsleute über die Bühne. Sie standen an fast jeder Ecke und beobachteten jeden noch so kleinsten Winkel. Überwachungskameras hingen an der Decke und surrten hin und her, wobei sie alles aufzeichneten. Es hätte niemand in der Nase bohren können, ohne dass es jemand mitbekam, entweder die Kamera oder ein Sicherheitsbeamter der Firma.

Im Stockwerk darunter ging es nicht ganz so hektisch zu, aber dennoch war auch hier die Stimmung sehr angespannt. Überall befanden sich uniformierte Wachen. Sie standen vor einer Tür Patrouille und liefen im Gang hin und her. Jeder, der vorbei kam, wurde mit Argusaugen beobachtet. Man traute niemandem, vollkommen gleich, ob man ihn gut kannte oder er in der Rangliste der Firma an einer der oberen Positionen stand.

Hinter der Tür, die so streng bewacht wurde, befand sich ein Zimmer, in dem sich vier weitere Wachleute aufhielten. Es ging hier um enorm viel, deshalb wurden keine Kosten gescheut, um sicherzustellen, dass nichts schief ging. In diesem Fall konnte sich Tanoshii Enterprises eine Panne ganz und gar nicht leisten. Sie hätte das Aus von mehreren Monaten Arbeit und den Verlust von mehreren hundert Arbeitsplätzen bedeutet.

Die Männer in dem Zimmer bewachten einen mittelgroßen Kasten, der seitlich an der Wand lehnte. Einer der vier Wachleute behielt permanent die Decke im Auge, obwohl es sehr unwahrscheinlich war, dass von dort oben eine Bedrohung erfolgen konnte. Aber es wurde nichts dem Zufall überlassen.  Jede halbe Stunde übernahm ein anderer Beamter die Überwachung der Zimmerdecke.

Es ging hier um Millionen von Dollar, die in Gefahr waren. Und sie waren so lange in Gefahr, bis die Pressekonferenz vorbei war. Keine Sekunde früher durfte man sich in Sicherheit wiegen oder entspannen. Hier handelte es sich um eine äußerst sensible Angelegenheit. Die Sicherheitsvorkehrungen waren dementsprechend hoch gewesen. Ein und dieselbe Person hatte immer nur einen kleinen Teil des Projektes mitbekommen. Selbst wenn ein Angestellter geredet hätte, so hätte er nichts wichtiges erzählen können. Dafür wären seine Kenntnisse über die Sache zu gering und zu lückenhaft gewesen.

Hier zeigte sich die Loyalität der Mitarbeiter gegenüber ihrer Firma. Und über keinen von ihnen hatte man über die ganzen Monate enttäuscht sein können. Sie hatten alle hervorragende Arbeit geleistet und würden dafür die entsprechende Anerkennung erhalten.

Die Tiefgarage des Gebäudes glich ebenfalls der Sicherung von Fort Knox. Jedes Fahrzeug, dass die Schranke zur Einfahrt oder zur Ausfahrt benutzen wollte, wurde so sorgfältig wie möglich durchsucht. Auch die Insassen der Fahrzeuge mussten eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Und das galt nicht nur für Besucher, sondern auch für alle Angestellten, die hier ihren Job verrichteten. Selbst der Eigentümer der Spielwarenfabrik, Kou Minami, bildete hier keine Ausnahme. Ganz abgesehen davon, dass er es auch gar nicht wollte.

Als sein Chauffeur heute morgen in die Tiefgarage gefahren war, ging immer ein Sicherheitsbeamter neben dem Wagen her, bis der Wagen auf seinem üblichen Stellplatz geparkt worden war. Kou und der Chauffeur mussten aussteigen und wurden abgetastet, während zwei andere Beamten das Auto unter die Lupe nahmen.

„Na, Charlie, sind Sie schon aufgeregt?“, hatte Kou den Mann gefragt, der ihn abgetastet hatte.

„Ja, Sir.“

„Aber sicherlich sind sie nicht halb so aufgeregt wie ich.“

„Das kann ich nicht beurteilen, Sir. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich, wenn die Gelegenheit dafür vorhanden wäre, alle halbe Stunde austreten müsste.“

Kou hatte schallend angefangen zu lachen. Er hatte es seinem Angestellten überhaupt nicht übel genommen, dass er ihn durchsuchte. Aber Charlie war ziemlich unwohl dabei gewesen, seinen Chef körperlich berühren zu müssen. Doch Kou hatte es selber so angeordnet und daher musste es getan werden.

„Würden Sie sich bitte umdrehen, Sir?“

Kou war der Aufforderung gefolgt. „Die Ohren nicht vergessen zu kontrollieren?“ hatte er gescherzt, um die Situation ein wenig zu entspannen.  

„Dort habe ich bereits kontrolliert, Sir. Der Kaugummi geht in Ordnung.“

Die beiden Männer hatten sich angegrinst und dann hatte Kou den Weg zu seinem Büro eingeschlagen. Ohne Chipkarten und Sicherheitscodes kam man in diesem Gebäude keine zwanzig Meter weit. Selbst wenn ein Unbefugter sich unberechtigt Eintritt verschaffen würde, käme er nur bis zur nächsten Tür. Und davon gab es hier mehr als genug.

Im Augenblick saß Kou in seinem großen Ledersessel. Der Chef von Tanoshii Enterprises stieß sich sanft mit dem Fuß ab, so dass sich der Sessel langsam um sich selbst drehte. Dabei begutachtete Kou das Innere seines Büros. Dort stand sein Schreibtisch aus Mahagoni, auf dem sich eine Lampe, diverse Büromaterialien und ein Foto von seiner Frau Aya sowie seines Sohnes Takeo befanden. In den Schubladen des Tisches waren Akten verstaut. Außerdem gab es dort einen Mini-Billardtisch, den Kou manchmal zur Entspannung nutzte. Er konnte bei einem Billardspiel wunderbar abschalten.

Neben dem Schreibtisch war eine Regalwand aufgebaut, die mit Büchern und Zeitschriften gefüllt war. Zwischen den beiden Fenstern hinter dem Schreibtisch hatte eine große Standuhr Platz gefunden. Sie kam in diesem Raum wunderbar zur Geltung und war sofort ein Blickfang für jeden, der durch die Tür trat. Kou mochte diese Standuhr sehr gerne und wollte nicht mehr auf sie verzichten.

An der Wand neben der Eingangstür hing ein Bild eines unbekannten Malers. Es zeigte ein kleines Mädchen, das damit beschäftigt war, Bauklötze aufeinander zu stapeln. Neben ihr war ein Mann zu sehen, der vermutlich ihr Vater oder ein anderer Verwandter war. Er tat genau das gleiche, womit das Mädchen ebenfalls beschäftigt war. In mittelgroßer Schrift stand über dem Bild „Spiel ohne (Alters)Grenzen“.

An der Wand neben den Regalen hing noch ein kleineres Bild, auf dem ein übergroßer Würfel zu sehen war. In ihm befanden sich Spielkegel, Dominosteine, Spielkarten, Spielsteine und andere Utensilien, die man für das Spielen benötigte.

Doch all diese Dinge nahm der Unternehmer gar nicht wirklich auf. Seine Gedanken kreisten einzig und allein um die heutige Präsentation, die einfach ein Erfolg werden musste. Es war zu hart und zu intensiv daran gearbeitet worden,  als dass man es leichtfertig aufs Spiel setzen konnte. Kou lächelte, als ihm dieser Ausdruck in die Gedanken kam. Er war unendlich aufgeregt, auch wenn er es nach außen hin niemals zeigen würde. Für ihn stand die Existenz der ganzen Firma auf dem Spiel.

Die Gegensprechanlage summte und Kou drückte den Knopf, der es ihm ermöglichte, mit seiner Sekretärin im Vorzimmer zu sprechen.

„Mister Hino ist hier“, verkündete die schnarrende Stimme.

„Er soll bitte hereinkommen.“

Zwei Sekunden später öffnete sich die Tür und ein Japaner mit schwarzen Haaren und einer randlosen Brille betrat den Raum. Er trug einen grauen Anzug.

„Hallo Yuen“, begrüßte Kou seine rechte Hand, „wie laufen die Vorbereitungen?“

„Alles im grünen Bereich.“

Kou nickte zufrieden. Yuen Hino wusste über alles Bescheid, was in diesem Betrieb vor sich ging. So konnte er seinen Chef notfalls vertreten, was auch häufiger der Fall gewesen war. Yuen war mindestens genauso aufgeregt wie sein Chef, aber er konnte es nicht so gut verbergen. Auch er wusste, dass es heute um alles oder nichts gehen würde.

„Wir haben noch einmal alles gecheckt. Mikrofone und Kameras arbeiten tadellos. Eventuelle Hindernisse, über die man fallen könnte, haben wir aus dem Weg geräumt. Und es wird emsig am Buffet gearbeitet. Die Anlieferung erfolgt pünktlich zum Präsentationsbeginn. So haben wir eine dreiviertel Stunde Zeit, um alles aufzubauen.“

„Sehr gut“, lobte Kou. „Bestimmt ist noch mehr Zeit, da ich mir gut vorstellen kann, dass uns die Reporter mit Fragen bestürmen werden. Unser neuer Plan wird einschlagen wie eine Bombe. Ab morgen werden wir in jeder Zeitung des Landes und im Fernsehen zu sehen sowie im Radio zu hören sein. Ich rechne damit, dass wir das größte und spektakulärste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten bekommen werden.“

„Das wird sogar noch unsere Spezialbrille toppen“, mutmaßte Yuen.

Vor drei Jahren hatte Tanoshii Enterprises eine spezielle Brille herausgebracht, zu der kleine Chips gekauft werden konnten. Auf diesen Chips war ein Film gespeichert. Und durch die Brillengläser konnte man sich diese Filme anschauen und hatte das Gefühl, mitten im Ort des Geschehens zu sein. Es gab einen Film über eine Wüstenfahrt, bei der man sich besser ein Getränk bereit legte. Auf einem anderen Chip war die Wanderung durch einen Dschungel zu sehen und man wurde mit Käfern und sonstigem Kleingetier konfrontiert. Und es gab noch viele weitere Chips.

Die Brille war der Renner gewesen und man hatte sie den Verkaufsläden förmlich aus der Hand gerissen. Mittlerweile war die Begeisterung für die Brille auch wieder abgeebbt, trotzdem waren die Verkaufszahlen alles andere als schlecht. Doch mit dem, was sie jetzt präsentieren wollten, war ihnen die Krönung gelungen.

Noch wusste niemand davon. Nach der heutigen Pressekonferenz würde es sich wie ein Lauffeuer in den gesamten Vereinigten Staaten und auch im Ausland verbreiten. Es waren extra Bestell-Center eingerichtet worden. Man rechnete mit einem noch größeren Ansturm als damals auf die Brillen. Tanoshii Enterprises hatte schon immer die Wünsche seiner Kunden vorausahnen können.

Kou verschränkte die Hände hinter dem Rücken, trat ans Fenster und sah hinunter auf die Straße. „Ganz bestimmt sind schon einige Leute von der Presse hier.“

„So ist es. Aber sie werden noch nicht ins Haus gelassen. Da dürfen sie sich noch eine Stunde gedulden. Stellen Sie sich mal vor, jemand mag diese Stunde nicht abwarten und geht wieder zurück in seine Redaktion, ohne bei der Konferenz dabei gewesen zu sein.“

Kou drehte sich um und blickte seinen Angestellten an.

„Der arme Kerl stünde schneller auf der Straße als er mit den Augen blinzeln kann.“

Aber es war äußerst unwahrscheinlich, dass jemand wieder fortgehen würde. Dafür war die Presse und das Fernsehen viel zu gespannt. Geheimnisvoll genug hatten sie es den Fernsehleuten ja unter die Nase gehalten, dass heute hier das Ereignis des Jahres stattfinden würde. Nun mussten sie nur noch beweisen, dass sie mit ihren Äußerungen nicht übertrieben hatten.
Und wir werden es beweisen, dachte Kou Minami bei sich.

*****

Isamu Akabashi fackelte überhaupt nicht lange. Ohne lange nachzudenken und ohne, dass es ihn auch nur im entferntesten interessierte, dass er eigentlich als letzter die Klasse zu verlassen hatte, packte er in aller Eile nach dem Klingelzeichen seine Tasche und war so schnell aus dem Zimmer verschwunden, dass Kagura ihn fast gar nicht hatte hinausgehen sehen.

„Hast du das gesehen?“, fragte sie ihre Freundin.

„Was?“

„Mister Akabashi ist fast wie ein Blitz aus unserem Klassenzimmer verschwunden.“

„Und das wundert dich?“, fragte Azu.

Kagura gab keine Antwort. Dafür sprach Azu weiter. „So wie du ihn immer bedrängst, kann er ja nur so reagieren. Wenn ich er wäre, dann würde ich auch machen, dass ich so schnell wie möglich hier raus komme, damit ich nicht jeden Tag die Annäherungsversuche einer gewissen Schülerin ertragen müsste.“

Das Mädchen riss die Augen auf und starrte ihre Freundin an.

„Ich bin nicht blöd“, sagte diese. „Hast du wirklich gedacht, ich wüsste nicht ganz genau, was du vorhast, wenn du zu mir sagst, ich solle schon mal in die Pause gehen und du würdest gleich nachkommen? Du hältst mich für reichlich naiv, oder?“

„Aber woher … ich meine, wieso hast du denn die ganze Zeit nichts gesagt, wenn du es schon wusstest?“

„Na, ich wollte dir deinen Spaß nicht verderben. Aber jetzt mal ehrlich. Bist du wirklich in unseren Japanischlehrer verknallt? Du kannst es mir ruhig sagen, du weißt, dass ich nicht in der Gegend herumtratsche wie andere Leute.“

Mittlerweile waren die beiden Mädchen ganz alleine in der Klasse zurück geblieben. Um Zeit zu gewinnen, ging Kagura zur Tür und schloss diese. Dabei überlegte sie. Es stimmte, sie konnte Azu vertrauen. Schon so manches Mal hatte Kagura ihr ganz persönliche Dinge anvertraut und war mehr als dankbar dafür gewesen, dass ihre Freundin diese nicht in der Öffentlichkeit herausposaunt hatte. Also entschied sie sich dafür, auch in diesem Fall mit der Sprache herauszurücken.

„Ja, das bin ich. Es ist eben einfach so passiert. Er sieht toll aus, ist gebildet und immer höflich und nett.“

„Aber das sind andere Jungs doch auch“, warf Azu ein.

„Andere Jungs“, meinte Kagura verächtlich. „Andere Jungs sind Kindsköpfe. Mister Akabashi ist jemand mit Lebenserfahrung. Er weiß schon so verdammt viel und kann mir vielleicht helfen, dass ich mich besser aufs Leben vorbereiten kann. Verstehst du, was ich meine?“

„Ja, ich glaube, ich weiß, was du damit sagen willst. Aber du wählst den falschen Weg. Es kann nicht gut gehen mit euch zwei. Das sage ich nicht, weil ich es dir nicht gönne. Es ist fast immer zum Scheitern verurteilt, wenn sich ein Schüler und ein Lehrer ineinander verlieben.“

„Genau das sagt Mister Akabashi ebenfalls“, seufzte Kagura.

„Siehst du. Und nicht nur er und ich sagen das. Viele haben diese Meinung. Ganz einfach, weil sie sich immer wieder bestätigt.“

Kagura fuhr herum und packte ihre Freundin am Arm. „Aber verstehst du denn nicht? Mister Akabashi sagt das doch nur aus Selbstschutz. Er sagt das, weil er sich nicht eingestehen will, dass er mich liebt. Weil es ihm peinlich ist.“

„Kagura, ich verzichte darauf, dir irgendwelche Ratschläge zu geben, weil das bestimmt schon sehr viele gemacht haben. In deiner momentanen Verfassung ist es auch klar, dass du diese Ratschläge gar nicht hören, geschweige denn sie annehmen willst. Deshalb lasse mich dir nur folgendes sagen, als deine Freundin. Zur Zeit schwebst du auf einer Wolke im Himmel. Und dort ist es wunderschön. Du würdest am liebsten immer dort bleiben.“

„Ich wusste, dass du mich verstehst“, meinte Kagura froh. „Du bist wahrscheinlich auch die einzige.“

Doch ihre Freundin sprach weiter, ohne auf Kaguras Worte einzugehen. „Irgendwann wirst du durch diese Wolke hindurch fallen und immer schneller und schneller auf die Erde zusegeln. Du wirst mit dem Rücken hart auf dem Boden landen und es wird sehr schmerzhaft sein. Es wird so weh tun, wie dir noch nie etwas weh getan hat. Dann bin ich für dich da, das weißt du. Du kannst jederzeit zu mir kommen. Und ich würde dich auch gerne vor diesem schmerzhaften Sturz bewahren, aber das kann ich nicht.“

Kagura lächelte Azu an und beteuerte: „Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen. Ich werde nicht durch diese Wolke fallen. Glaube mir.“

Azu sagte nichts dazu, sondern griff nach ihrer Schultasche. „Komm, wir müssen ins andere Schulgebäude. Und wir haben nur noch fünf Minuten.“

Widerwillig folgte Kagura ihr.

„Was machst du eigentlich heute abend?“, wollte Azu wissen.

Ihre Freundin zuckte mit den Schultern.

„Es wäre so schön, wenn wir mal wieder etwas gemeinsam machen könnten. Heute abend wäre die ideale Gelegenheit. Aber bei mir ist ja dieser blöde Stubenarrest im Weg.“

„Sind deine Eltern etwa immer noch sauer?“

„Ja, und ich habe das Gefühl, vor dem nächsten Jahrtausend beruhigen die sich auch nicht wieder. Vor allem bringt es ja nichts, mich Tag und Nacht einzusperren.“

„Vielleicht können sie dich einsperren, aber sie können dich ja nicht zum Lernen zwingen. Selbst wenn sie Tag und Nacht bei dir sind und deine Lernerei kontrollieren. Sie sehen dann zwar, dass du deine Nase in das Buch steckst, aber was in deinem Kopf vorgeht und ob du tatsächlich büffelst, können sie ja nicht prüfen.“

„Ich bemühe mich ja, aber es klappt einfach nicht. Ich behalte nichts. Und jetzt, wo ich unter Druck arbeiten muss, schon gar nicht. Es wäre so toll, wenn meine Eltern das endlich mal einsehen würden. Ich habe schon so oft Stubenarrest wegen schlechter Leistungen in der Schule bekommen. Und hat es irgendetwas gebracht?  In auch nur einem einzigen Fall? Nein, natürlich nicht. Aber das sehen sie ja nicht. Hauptsache, sie haben wieder eine Strafe durchgedrückt. Dann muss es ja funktionieren. Manchmal glaube ich, sie sehen in mir nur einen Sklaven, mit dem sie machen können, was sie wollen.“

„Und wenn du heimlich weggehst?“

„Vergiss es, Kagura. Wenn sie das rauskriegen, dann wird es nur noch schlimmer. Sie würden mich zwar nicht schlagen oder mir sonstige körperliche Gewalt antun, aber es wäre ihnen zuzutrauen, dass sie mich von der Schule nehmen und in ein Internat geben.“

Das in ihren Lehrer verliebte Mädchen war entsetzt, versuchte es aber nicht so offen zu zeigen. Azus Eltern schienen im finstersten Mittelalter zu leben. Schrecklich, dass es so etwas in der heutigen Zeit noch gab.

Mittlerweile hatten die beiden Schülerinnen den gläsernen Durchgang zum Gebäude A erreicht. Kagura legte ihrer Freundin die Hand auf die Schultern.

„Wenn du irgendwelchen Krach mit deinen Eltern oder sonstige Schwierigkeiten hast, dann kommst du zu mir. Ich versuche dir zu helfen, auch wenn ich gerade selber andere Sorgen habe.“

Azu lächelte matt. „Das ist sehr nett von dir. Aber mit meinen Eltern muss ich allein klarkommen. Wenn du dich da einmischt, dann denken sie, ich hätte sie schlecht gemacht. Egal, was ich mache, es würde alles für mich nur noch schlimmer enden. Also gehorche ich ihnen lieber.“

*****

In der ersten großen Pause verbrachten Haruka und ihr Klassenkamerad Kazuki die Freizeit einmal nicht auf dem Schulhof, sondern hatten es sich im Park auf dem Rasen bequem gemacht. Noch war das Wetter einigermaßen gut, so dass man nicht fror. Doch der Herbst kündigte sich schon an und es würde nicht lange dauern, dann würde es beginnen zu regnen und der Wind würde kalt und mit starkem Tempo durch den Park wehen und wie im Spiel ein paar Blätter von den Bäumen reißen und für eine kleine Strecke mit sich tragen, ehe er sie zu Boden fallen ließ, wo sie sich selbst überlassen waren..

„Du bist heute schon den ganzen Tag so schweigsam“, sagte der Junge. „Hast du etwas? Liegt es an mir? Habe ich dich mit etwas gekränkt oder beleidigt?“

Haruka erschrak. Sie wollte auf keinen Fall, dass Kazuki dachte, er sei der Grund für ihre Stimmung am heutigen Tag. Im Gegenteil, Kazuki war der erste Mensch, bei dem sich das schüchterne Mädchen wohl fühlte, bei dem es nicht den Drang verspürte, dass es sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten musste, um dem Jungen zu gefallen.

„Nein, du bist nicht der Grund. Denke das auf keinen Fall. Dieser Nobu ist schuld an meiner heutigen Laune.“

„Nobu? Wer ist Nobu?“

„Ach, du weißt doch, dieser komische Junge, der mir letztens hier auf dem Schulhof seinen Vortrag gehalten hat.“

„Ach, der“, erinnerte sich Kazuki. „Woher kennst du seinen Namen?“

„Ich habe ihn am Freitag wieder getroffen“, sagte Haruka nach einigem Zögern.

Kazuki sah sie mit großen Augen an. „Wo? Hat er dir etwas getan?“

Die Schülerin schüttelte den Kopf. „Es ist alles in Ordnung. Naja, oder auch nicht. Jedenfalls hat er mich nicht angefasst.“

„Was wollte er denn?“

Lange schwieg Haruka und Kazuki wartete wie immer geduldig darauf, dass seine Klassenkameradin von sich aus anfing zu erzählen.

„Ich war auf dem Weg nach Hause, da kam er aus dem Fotoladen, der bei uns in der Nähe liegt. Und er hat mir eine Geschichte von einem Frosch erzählt. Dann hat er mir angeboten, dass er mir beibringen wolle, wie man mehr Selbstvertrauen gewinnt. Und ich soll heute abend zum alten Parkplatz beim Einkaufszentrum kommen.“

Der Twen musterte das Mädchen. „Und, wirst du hingehen?“

„Ich weiß nicht“, antwortete sie unsicher. „Was würdest du denn an meiner Stelle tun?“

„Ich kann dir keine Antworten in den Mund legen. Es ist deine Entscheidung, ob du zum Parkplatz gehen willst oder nicht. Und vollkommen egal, wie deine Entscheidung auch ausfällt, nichts ist daran falsch.“

Haruka schaute auf den Boden und überlegte. „Nein, ich denke, ich werde nicht hingehen.“

„Weil du nicht willst oder aus einem anderen Grund?“

„Na, ich kenne diesen Nobu doch gar nicht. Und warum bestellt er mich zu diesem Parkplatz? Das kann ja auch nur ein Vorwand sein.“

„Würdest du dich sicherer fühlen, wenn ich mitkommen würde?“, fragte Kazuki.

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. „Würdest … würdest du das denn tun?“

„Also, ich habe heute nach der Schule nichts vor. Ich könnte dich zum Parkplatz begleiten und auch die ganze Zeit dort bleiben. So kannst du sicher sein, dass dir nichts passiert.“

Das Mädchen wurde vor Verlegenheit rot. „Also, wenn du mitkämst, dann würde ich vielleicht doch gehen.“

„Kein Problem. Mache ich gerne. Habt ihr eine bestimmte Zeit ausgemacht, wann ihr euch treffen wollt?“

„Er hat gesagt, ich solle um neunzehn Uhr dort sein.“

„Gut, dann könnten wir doch vorher noch eine Pizza essen gehen. Was hältst du davon?“

„Sehr viel“, flüsterte sie. „Danke, dass du mitkommen willst. Und du hast auch wirklich nichts anderes vor? Ich will nicht, dass du meinetwegen etwas anderes sausen lässt.“

Kazuki zuckte mit den Schultern. „Ich würde zu Hause herumsitzen und mich langweilen. Und der Parkplatz ist bestimmt spannender.“

Haruka dachte nach. „Er hat mich erst zweimal gesehen. Und wir haben gar nicht richtig miteinander gesprochen. Warum will er ausgerechnet mir mehr Selbstvertrauen beibringen?“

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber wir sehen ihn ja heute abend. Dann können wir ihn also gleich fragen.“

Das Mädchen war sehr erleichtert. Kazuki kam mit ihr. Sie hatte sich nicht getraut, ihn zu fragen, denn eigentlich war sie doch ein wenig neugierig, was dieser komische Nobu ihr beibringen wollte. Vielleicht war es auch nur ein Vorwand, um sie aufs Kreuz zu legen. Bestimmt wartete er gar nicht am Parkplatz auf sie, sondern hielt sich irgendwo in der Nähe versteckt und lachte sich ins Fäustchen, wenn sie stundenlang auf dem Platz stand und auf ihn wartete. Und am nächsten Schultag würde er über sie lachen und jedem erzählen, wie dumm sie doch war, auf einem verlassenen Parkplatz auf jemanden zu warten.

Der Gedanke, dass das ganze nur dazu diente, um sie zu verulken, kam ihr jetzt erst. Aber nun war Kazuki ja dabei und da spielte das dann keine Rolle mehr. Mit ihm würde sie selbst drei Stunden irgendwo herumstehen und warten. In seiner Gegenwart fühlte sie sich wohl. Woher das kam, wusste sie selbst nicht so genau. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, dass er bei ihr war.

*****

Zur gleichen Zeit hielten sich auch Takeo Minami und seine Klassenkameradin Chizuru Miyamoto im Park auf. Takeo spielte mit einem Tannenzapfen, indem er ihn zwischen seinen Fingern kreisen ließ. Chizuru hatte ihn schon mehrmals dabei beobachtet, gelächelt und sich ihren Teil gedacht. Vermutlich benötigte er diese Beschäftigung, um sich von irgendwelchen Dingen abzulenken. Mit diesen Gedanken traf die Schülerin genau ins Schwarze. Momentan versuchte der Junge sich von etwas abzulenken, was er in der Pause tun wollte, sich aber nicht so recht traute.

„Ist er dir schon mal runter gefallen?“, wollte das schwarzhaarige Mädchen wissen.

„Mittlerweile bin ich so geschickt, dass er das fast nie mehr tut.“

Schon als kleiner Junge hatte Takeo den Tannenzapfen zu seinem bevorzugten kurzweiligen Zeitvertreib erklärt. Anfangs hatte er sich nur mit ihm beschäftigt, wenn er eine Zeitlang auf etwas warten musste, zum Beispiel auf eine Verabredung oder auf ein öffentliches Verkehrsmittel. Mit den Jahren jedoch war sein Beschäftigungsobjekt auch immer dann zum Einsatz gekommen, wenn er Gefühle verarbeiten wollte oder unentschlossen war oder einfach nur Langeweile und keine Lust hatte, sich mit etwas anderem zu beschäftigen.

Dem Jungen war klar, dass er seinen Zeitvertreib mit ein und demselben Objekt höchstens zwei Tage durchführen konnte. Denn der Tannenzapfen trocknete mit der Zeit aus und dann würde Takeo in seiner Jacke nur noch braune Krümel vorfinden. Deshalb wechselte er auch zweimal in der Woche das Spielzeug. Zum Glück war es kein Problem, Nachschub zu besorgen, denn die Bediensteten kannten Takeos Marotte und sahen zu, dass die Tannenzapfen, die sich im Keller des Hauses befanden, immer feucht gehalten wurden.

„Du könntest dir Kunststücke mit ihm ausdenken“, schlug Chizuru vor.

„Ich habe keine Lust angeguckt zu werden, als sei ich ein Artist im Zirkus. Der Tannenzapfen hilft mir, wenn ich nachdenke.“

„Und worüber denkst du gerade nach?“

Der Teenager hielt inne, ließ den Tannenzapfen in seiner Handfläche verschwinden und sah seine Mitschülerin an.

„Ich habe doch heute die Verabredung mit Chiyo“, begann Takeo und ließ sich dadurch, dass Chizuru ihr Gesicht verzog überhaupt nicht stören. „Und Kazumi hat mir doch geraten, mich vorher über sie zu informieren. Der jetzige Zeitpunkt wäre doch ideal.“

„Wenn du was über Chiyo wissen willst, kannst du auch mich fragen. Ich habe sie in dem Monat, in dem du noch nicht hier warst, beobachtet und war nicht sehr begeistert.“

„Ja, aber ich kann doch noch mehr Leute nach ihr fragen. Es können sie doch nicht alle schrecklich finden.“

„Da hast du Recht, nicht alle finden sie schlimm. Aber der Großteil.“

„Wollen wir wetten?“, fragte Takeo.

„Was? Worum?“

„Einfach so. Ich sage dir, wen ich fragen will und du stellst eine Vermutung an, ob derjenige Chiyo leiden kann oder nicht. Als kleine Auflockerung.“

„Wenn du meinst“, sagte Chizuru und zuckte mit den Schultern. Manchmal weckten Jungs in einem das Gefühl, sie würden niemals erwachsen werden.

Takeo blickte sich um und entdeckte einen kräftigen Jungen, dem anzusehen war, dass er in einer der oberen Klassenstufen den Unterricht über sich ergehen ließ. Ihn wollte der gut aussehende Schüler zuerst fragen. Er machte Chizuru auf den Kerl aufmerksam und fragte das Mädchen: „Was sagst du zu dem da?“

„Der kann sie garantiert nicht leiden.“

„Gucken wir doch mal, ob das stimmt“, grinste Takeo und ging zu dem Schüler hinüber, der gerade im Gespräch mit einem anderen Jungen war.

„Entschuldigung, kennst du Chiyo?“

Der angesprochene Junge hielt in der Unterhaltung mit seinem Freund inne und guckte Takeo aus zusammengekniffenen Augen an.

„Wieso willst du das wissen?“

Bevor Takeo antworten konnte, mischte sich der andere Junge in das Gespräch ein.

„Ich kenne Chiyo. Wenn du Chiyo Taoka meinst.“ Der Junge musterte den Störenfried der Unterhaltung von oben bis unten. „Bist du mit ihr zusammen?“

„Nein, aber ich treffe mich mit ihr.“

„Lasse mich raten. Sie hat dir das Treffen vorgeschlagen, oder?“

Takeo nickte.

„Was hast du denn angestellt, dass du so gestraft wirst?“

„Ich?“, fragte Takeo erstaunt. „Ich habe gar nichts angestellt. Sie hat mich angerempelt und ihr Getränk über mich gekippt. Als Wiedergutmachung hat sie mich zu einem Drink eingeladen.“

„Ach herrje, jetzt stürzt sie sich auch noch in Unkosten. Na, wenigstens ist sie bereit, etwas zu investieren“, meinte der kräftige Schüler, der von Takeo angesprochen worden war.

Sein Freund sagte: „Nimm einen guten Rat von mir an. Vergiss die Verabredung und vergiss Chiyo. Wenn du dich von ihr fernhältst, kann dein Leben nur an Qualität gewinnen. Sie spielt mit dir, so wie sie mit allen Jungs spielt. Ich bin früher auch mal auf sie reingefallen. Ich war ein paar Mal mit ihr aus und war für einige Wochen ihr Freund – na ja, das was sie als Freund bezeichnet. Aber als ich für Madame nicht mehr interessant genug war, hat sie sich ganz schnell überhaupt nicht mehr um mich gekümmert. Gesprächen ging sie aus dem Weg und sie hat auch andere Leute vorgeschickt, damit ich nicht an sie heran kam. Ich bin ganz froh, dass ich nichts mehr mit ihr zu tun haben muss. Jedenfalls würde es mich nicht leid tun, wenn sie mal jemand so behandelt, wie sie die Leute sonst immer behandelt.“

Mehr gab es nicht zu sagen. Die beiden Schüler nahmen ihr unterbrochenes Gespräch wieder auf und ließen Takeo einfach stehen. Dieser ging zu Chizuru zurück.

„Eins zu null für dich“, meinte der Jugendliche. Er blickte sich im Park um.

„Wie wäre es mit dem?“, fragte er und deutete auf einen Jungen mit Übergewicht. Doch Chizuru winkte ab.

„Vergiss es, den würde Chiyo niemals auch nur auf zehn Schritte Entfernung an sich heran lassen.“

Erneut machte sich Takeo auf dem Weg, um an Informationen über seine spätere Verabredung zu kommen.

„Entschuldige, kennst du Chiyo?“

Der fette Schüler guckte ihn an und fragte zurück: „Chiyo? Wer soll das denn sein?“

„Schon okay. Hat sich erledigt“, winkte Takeo ab und ging wieder zu seiner Mitschülerin zurück.

„Na, das war ja ein kurzes Gespräch? Da hast du bestimmt viel Wissenswertes rausgekriegt, oder?“, feixte Chizuru.

„Er kannte sie nicht.“

„Das habe ich dir ja gleich gesagt.“

Abermals blickte sich Takeo im Park um.

„Hast du vor, wieder einen Jungen zu fragen? Das wird doch allmählich langweilig. Suche dir doch mal ein Mädchen aus? Die haben zu Chiyo sicherlich auch eine Meinung. Nimm doch gleich die da drüben. Die sieht so aus, als wäre sie sehr auskunftsfreudig“, meinte Chizuru und deutete mit der Hand auf eine attraktive Schülerin mit Pferdeschwanz.

Der Teenager ging zu ihr hinüber und sprach sie auf die gleiche Weise an wie zuvor die beiden Jungen.

„Was willst du denn?“, gab das angesprochene Mädchen aggressiv zurück. „Glaubt sie etwa, sie könnte sich bei mir einschleimen, indem sie mich mit gut aussehenden Jungs ködert? Du kannst ihr bestellen, dass das bei mir nicht funktioniert.“

Takeo war vollkommen verdutzt. „Aber ich wollte …“, begann er, konnte seinen Satz aber nicht beenden, weil das Mädchen ihm ins Wort fiel.

„Sieh bloß zu, dass du Land gewinnst. Dass du mich überhaupt auf dieses Flittchen angesprochen hast, macht mir große Lust, dir eine zu verpassen.“

Takeo kam zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, wenn er sich so schnell wie möglich zurückzog. Er streckte beide Hände nach vorne und ging dann zu Chizuru zurück.

„Ja, sie kennt Chiyo. Und sie ist nicht gerade sonderlich gut auf sie zu sprechen. Auf mich jetzt übrigens auch nicht mehr.“

„Tja, du solltest eben nicht versuchen, mit solchen Themen die Mädchenherzen für dich zu gewinnen“, grinste seine Klassenkameradin. „Das lässt dich nicht gerade in dem besten Licht stehen.“

„Ich habe es gemerkt. Und ich glaube, ich habe jetzt genug Informationen gesammelt.“

„Ach was, du hast nur Schiss, noch jemanden anzusprechen, gib es doch zu“, meinte die Jugendliche provozierend.

„Ein bisschen Mitleid mit mir würde dir auch nicht schaden.“

Chizuru lachte. „Komm, lass uns wieder rein gehen. Die Stunde fängt bald an. Und du solltest jetzt auf andere Gedanken kommen.“

Takeo nickte und folgte ihr in das Gebäude.

„Wie verhältst du dich denn jetzt auf eurem Rendezvous?“, wollte Chizuru wissen.

„Von einem Rendezvous ist das Treffen heute meilenweit entfernt“, stellte Takeo richtig. „Ich werde abwarten und gucken, wie sie sich mir gegenüber verhält. Und daraus werde ich dann die nächsten Schritte ableiten.“

„Was stellst du dir denn vor, was passieren wird?“

„Wenn sie wirklich so hinter Kerlen her ist, wie mir alle erzählen, dann vermute ich mal, dass sie versuchen wird, sich an mich heran zu machen. Aber dazu gehören ja zum Glück immer zwei.“

„Dann pass nur auf, dass sie dir keinen Alkohol einflößt, um dich willenlos zu machen“, schmunzelte Chizuru. Doch Takeo fand das alles überhaupt nicht witzig.

*****

Das Arbeitszimmer war gewaltig. Sobald man durch die Tür kam, sah man die beiden mit echtem Leder bezogenen Sofas, zwischen denen ein großer Glastisch stand. An der Wand war ein Kamin eingelassen worden. Auf der anderen Seite, direkt gegenüber vom Kamin, befand sich eine kleine Bar mit allerlei alkoholischen Getränken und einem Eiskübel, der von Zeit zu Zeit immer wieder aufgefüllt wurde.

Hinter dem einen Sofa thronte eine große Bücherwand. Hinter dem anderen Sofa war ein Schreibtisch zu finden, auf dem ein Telefon stand. Direkt hinter diesem Schreibtisch saß Aya Minami und tippte auf einer Tastatur, die zu einem der modernsten Computer gehörte. Dieser hatte es sich unter dem Schreibtisch bequem gemacht. Er war sehr leise, nur ab und zu schnarrte er kurz, wobei es sich anhörte, als wäre er eingeschlafen und beginne mit einem Schnarchkonzert. Bereits nach dem ersten kurzen Schnarcher war jedoch nichts mehr zu vernehmen.

Bereits um neun Uhr war Takeos Mutter in diesen Raum gegangen, um zu arbeiten. Sie hatte mit der Überarbeitung eines neuen Romans angefangen, der in mehreren Fortsetzungen in einer Tageszeitung erscheinen sollte. Zehn Fortsetzungen wollte Aya bearbeiten, bevor sie sich eine kleine Pause gönnte.

Für die Überarbeitung hatte sie sich den kompletten Roman ausgedruckt und auf den Schreibtisch gelegt. Sie hasste es, Korrekturen unmittelbar am Computer durchzuführen. Erst musste alles auf dem Papier erfolgen, wobei sie sich mit mehreren Farben durch den Text arbeitete. Jede Farbe stand dabei für eine andere Fehlerform, die berichtigt werden sollte. Rot etwa war die Farbe, mit der Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler korrigiert wurden. Diese Arbeit machte sie als erste. Als nächstes kam der orange Stift an die Reihe. Mit ihm wurden Ausdrucksfehler markiert. Unstimmigkeiten im Ablauf des Textes oder Widersprüche bei auftretenden Personen oder Dingen wurden mit blauer Farbe markiert. Ein solcher möglicher Widerspruch war beispielsweise, wenn der Protagonist einen hellblauen Wagen fuhr, der vier Kapitel später plötzlich rot war.

Nach der Bearbeitung sah der ursprüngliche Text dann aus, als habe er in einem Meer aus Filzstiften gebadet, aber für Aya war es überhaupt kein Problem, alles wichtige aus diesen Farben herauszufiltern.

Erst jetzt wurde der Computer eingeschaltet und der Text am Bildschirm korrigiert, gestrichen und stellenweise neuer Text eingefügt. Viele Autoren hassten die anstrengende Tätigkeit des Überarbeitens, die fast noch mehr Zeit in Anspruch nahm als das Schreiben des eigentlichen Romans. Doch Aya liebte diese Arbeit. Sie sah vor sich, wie sich der Rohtext formte und bog und durch die Korrekturen den richtigen Schliff erhielt und immer weiter und weiter glänzte. Es machte sie glücklich, wenn sie sehen konnte, wie alte Formulierungen abplatzten und darunter neue und viel ausdrucksstärkere Beschreibungen zum Vorschein kamen. Das erstmalige Schreiben des Romantextes war für Aya nur eine Art Vorarbeit zur eigentlichen Schufterei, die sie aber überhaupt nicht als solche empfand.

An den Prozess des Schreibens war sie schon als Kind herangeführt worden. Natürlich hatte es damit begonnen, dass sie zuerst einmal gelesen hatte. Und das hatte sie schon sehr früh gelernt. Im Alter von fünf Jahren hatte sie bereits die Artikel der Tageszeitung vorlesen können. Logischerweise hatte sie keine Ahnung davon, was die Texte in der Zeitung bedeuteten, aber lesen konnte sie sie wenigstens.

Auch ihre Mutter hatte geschrieben, hauptsächlich Artikel für Zeitschriften. Sie begab sich mehrmals in der Woche in ein Café oder eine Bücherei und schrieb dort ihre Artikel mit der Hand. Für Aya gab es dann immer spannende Schreibaufgaben zu erledigen. Meist legte ihr ihre Mutter ein Blatt mit einem ganzen Text vor, zu dem sie Rätsel zu lösen hatte, wie beispielsweise zu einzelnen Wörtern entsprechende Reimwörter zu finden oder aus den Buchstaben eines Wortes andere Worte zu bilden. Aya machte das riesigen Spaß und eines Tages war sie so weit, dass sie ihre eigenen Texte schrieb. Anfangs nur als Tagebuch, später dann ganze Geschichten, die teilweise sogar recht lang waren und zwanzig Seiten nicht unterschritten.

Das Schreiben war Ayas ganze Leidenschaft und sie hatte gehofft, dass sie ihren Sohn Takeo auch zum Verfassen von Texten bewegen konnte, aber da war sie bei ihm auf Granit gestoßen. Sicher, auch er las gerne und hatte schon früh damit begonnen, jedes Buch aufzuschlagen, was ihm in die Finger gekommen war. Aber die magische Kraft vom Lesen eines Textes hin zum Wunsch, sich selbst einen auszudenken und aufzuschreiben hatte sich bei ihm nie entfaltet. Aya hoffte immer noch, dass sich diese Kraft bei Takeo irgendwann noch einmal einstellen würde. Aber bis dahin musste sie sich in Geduld üben, denn zwingen ließ sich ihr Sohn zu gar nichts. Sein Steckenpferd war der Zusammenbau von Eisenbahn- Flugzeug- Schiffs- oder auch Raumschiffmodellen. Hauptsache es ließ sich etwas zusammenkleben, -stecken oder –bauen. Dann war er voll in seinem Element.

Aya fehlte für so etwas das nötige Fingerspitzengefühl und auch die Geduld. Feinarbeit war überhaupt nichts für sie, weswegen sie sich auch nie vorstellen konnte, eine kreative handwerkliche Arbeit wie Nähen oder Stricken oder Malen auszuüben. In solchen Dingen war sie in keiner Weise begabt. Schon alleine die Vorstellung, diese Sachen lernen zu müssen, bereitete ihr Unbehagen. Da war es ihr viel lieber, sie saß an einem Tisch, der mit Papier, auf dem Texte standen, übersät war. Für manche mochte das chaotisch aussehen, in ihr rief dieses Bild pure Glücksgefühle hervor. Aber so hatte eben jeder Mensch seine Vorlieben und es wäre ja schlimm, wenn jeder Mensch sich für das gleiche interessieren würde.

Heute hatte Aya noch einen weiteren Grund zum Schreiben. Heute wollte sie in erster Linie, dass diese Tätigkeit sie ablenkte. Für ihren Mann ging es heute um sehr viel. Es war ein großer Tag, denn Reporter und Fernsehteams würden in seiner Firma auftauchen und hoffentlich mehr als begeistert sein.

Aya wünschte sich so sehr, dass der heutige Tag für Kou ein Erfolg sein würde, denn er hatte sehr lange sehr hart gearbeitet. Nun würde sich zeigen, ob sich die vielen Liter Schweiß, die dabei vergossen wurden, gelohnt hatten. Sie drückte ihm jedenfalls alle Daumen.

Alle gemeinsam hatten sie heute am Frühstückstisch gesessen: Kou, Takeo und sie. Gesprochen hatten sie wenig, aber jeder hatte gewusst, um was es heute ging, weshalb ihre Gedanken nur um das neue Projekt von Tanoshii Enterprises gekreist waren.

Das schrille Läuten des Telefons riss Aya aus ihren Überlegungen. Sie nahm den Hörer ab.

„Verzeihen Sie, Mrs. Minami, aber da ist ein Anruf für Mister Takeo junior“, meldete sich die Stimme ihres Majordomus Hiru Yuki.

„Ist in Ordnung, Hiru. Stellen Sie bitte durch.“

Aya wartete auf das Knacken in der Leitung, dann meldete sie sich. Eine noch ziemlich junge Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung.

„Hallo. Hier ist Joseph. Kann ich bitte Takeo sprechen?“

„Takeo ist in der Schule und wird nicht vor heute abend zurück sein“, informierte seine Mutter. „Kann ich meinem Sohn vielleicht etwas ausrichten?“

Zwei Sekunden lang war es am anderen Ende still, so als überlegte der Anrufer, ob er eine Nachricht hinterlassen wolle. Dann sagte er: „Ja, das können Sie. Sagen Sie Takeo bitte, dass wir uns sehr freuen, ihn bald in unserer Mitte zu wissen.“

„Wer ist denn wir?“, wollte Aya wissen. Doch sie bekam keine Antwort, sondern hörte nur das ihr bekannte Klicken, das immer zu hören war, wenn der Teilnehmer am anderen Ende den Hörer aufgelegt hatte.

„Hallo? Hallo!“

Doch es war zwecklos. Langsam legte Aya Minami den Hörer auf die Gabel. Was war das nur für ein mysteriöser Anruf gewesen? Und offenbar war es nicht der einzige. Hiru hatte in der letzten Woche ebenfalls von einem merkwürdigen Anruf berichtet, den ihr Sohn entgegengenommen hatte. Offenbar war niemand am anderen Ende der Leitung gewesen oder hatte aufgelegt, als Takeo sich gemeldet hatte. Da hatte sie heute wohl ein wenig mehr Glück gehabt, denn der Anrufer hatte wenigstens mit ihr gesprochen.

Was hatte das nur alles zu bedeuten? Aya entschloss sich, mit ihrem Sohn darüber zu sprechen. Vielleicht mussten sie ja eine Geheimnummer beantragen, wenn sich diese Belästigungen häuften. Aber Takeos Mutter hoffte, dass das nicht der Fall sein würde. Sie hatten im Moment genug andere Sachen um die Ohren.

*****

Wieder einmal war Ren Ito alles zuviel gewesen. Wieder einmal hatte er sich bedrängt gefühlt, als mehrere Mädchen um ihn herum standen und ihm allerhand Fragen stellten, mit denen sie nur eines erreichen wollten: möglichst lange in seiner Nähe zu sein. Es ging ihnen nicht darum, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Die Fragen hatten allesamt nur Alibifunktion, damit ein Grund vorhanden war, sich bei ihm aufhalten zu können.

Ren hatte keine Ahnung, weshalb er auf die Mädchen so anziehend wirkte. Es gab Jungen, die viel besser aussahen als er. An seinem Aussehen konnte es also nicht liegen, wie er meinte. Aber er wollte auch gar nicht ernsthaft darüber nachdenken. Er fand es überaus lästig, dass die Mädchen nichts anderes zu tun hatten, als ihm auf die Nerven zu gehen. Ein einziges Mal war er laut geworden und hatte die Girls wütend angefaucht, dass sie ihn in Ruhe lassen sollten. Doch das hatte alles nur noch schlimmer werden lassen. Und im Grunde hatte er sich ja auch lächerlich gemacht, denn was hätte er alleine schon gegen eine ganze Horde junger Schülerinnen ausrichten sollen?

Also hatte er wieder zu einer Notlüge gegriffen, um seine weiblichen Fans loszuwerden. Und seine Flucht hatte ihn dorthin geführt, wo sie ihn immer hinführte – auf das Dach der Carlton Jouchi Daigaku. Heute schien zwar die Sonne nicht, aber trotzdem war das Wetter noch erträglich. Ren hatte sich auf dem Dach ausgestreckt, eine Hand auf seine Brust gelegt und die Augen geschlossen. Er hatte die Augen auch dann nicht geöffnet, als er gehört hatte, wie sich die Katzen näherten. Sein Mund hatte sich lediglich zu einem Lächeln verzogen, als er gespürt hatte, wie die Tiere über seine Beine gestiegen waren und sich um ihn herum ebenfalls hingelegt hatten. Zwei Vierbeiner hatten es sich auf seinen Beinen bequem gemacht und eine Katze hatte ihren Kopf an seiner Hand gerieben, die ausgestreckt auf dem Dach lag.

Dem Jungen war es ebenso schleierhaft, warum sich auch Katzen zu ihm hingezogen fühlten, ebenso wie Mädchen. Aber die Gegenwart der vierbeinigen Lebewesen konnte der Schüler wesentlich besser ertragen. Und das war schon so gewesen, seit er sich erinnern konnte. Schon als er noch im Sandkasten gespielt hatte, waren Katzen auf ihn zugelaufen gekommen. Er hatte geduldig gewartet, bis sie nahe genug an ihn heran gekommen waren, dann hatte er seine Hand ausgestreckt und sie gestreichelt, was sie sich auch geduldig hatten gefallen lassen. Als er es leid geworden war, sich mit ihnen zu beschäftigen, hatte er weiter Kuchen aus dem Sand des Sandkastens geformt, und die Tiere hatten ihm Gesellschaft geleistet. Sie hatten sich an den Rand des Sandkastens gelegt und ihm bei seiner Tätigkeit zugesehen.

Sehr gerne hätte er eine Katze als Gefährten bei sich zu Hause gehabt, aber seine Eltern waren gegen Haustiere. Aber irgendwann würde er eine Katze besitzen, das hatte sich Ren fest vorgenommen. Aber vielleicht war es auch gut, dass er im Moment kein Haustier besaß. Erst seit einem Jahr wohnte er mit seinem Vater und seiner Mutter in Carlton. Der Job seines Vaters brachte es mit sich, dass sie immer wieder in eine andere Stadt zogen. Wenn sie mal zwei Jahre an ein und demselben Ort blieben, dann war es so, als seien sie dort sesshaft geworden. Doch das war bisher, soweit sich Ren zurückerinnern konnte, erst zweimal der Fall gewesen.

Sein Dad war Zoologe, allerdings einer der ganz speziellen Sorte. Er hatte sich auf bestimmte Schmetterlingsarten spezialisiert, von denen noch nicht allzu viel bekannt war. Fakt war allerdings, dass sie eingingen, wenn sie längere Zeit eingesperrt waren. Und wo immer so ein Exemplar gefangen wurde, wurde sein Dad angefordert, um als Experte bei den Untersuchungen, von denen man nie wusste, wie lange sie dauerten, dabei zu sein. Das war das schlimme. Diese Schmetterlingsarten gab es in den ganzen Vereinigten Staaten. Es existierte eine Kartei, in der sein Vater geführt wurde. Und man rief ihn an, wenn er an eine bestimmte Stelle kommen sollte. Und das war meist wieder mit einem Umzug vebunden. Rens Mutter wollte nicht so lange von ihrem Mann getrennt sein, daher war es auch nicht möglich, dass sein Dad einfach für diese bestimmte Zeit in der Stadt blieb, die seine Dienste in Anspruch nehmen wollte, und nach dieser Frist dann wieder in ein festes Zuhause zurück kehrte. Denn man konnte nie voraussehen, wo er als nächstes zur Unterstützung angefordert wurde.

Ein Quietschen durchbrach die Stille auf dem Dach und Ren spürte, wie die Katzen sich aufrichteten und ein paar davon liefen. Der Junge öffnete die Augen und drehte den Kopf nach rechts. Im ersten Moment erschrak er, denn die Luke hatte sich geöffnet und eine Frau kam auf das Dach. Eine Frau, die Ren kannte, da er ab und zu Unterricht bei ihr hatte. Sie trug einen grauen Hosenanzug und unter der aufgeknöpften Jacke eine beige Bluse.

Im ersten Moment wollte Ren aufspringen, aber dann entspannte er sich wieder. Warum sollte er seinen gemütlichen Platz verlassen? Es war bekannt, dass er häufiger verschwand, aber niemand wusste, wo er zu finden war. Jetzt jedoch hatte Maya Ootome seinen Schlupfwinkel ausfindig gemacht. Daran ließ sich nichts mehr ändern, also half es auch nichts, wenn er sich jetzt hektisch aufsetzte. Der Junge blieb deshalb dort liegen, wo er war, und schloss die Augen wieder.

Die Katzen waren von seinen Beinen geflüchtet und standen jetzt in gebührendem Abstand zwischen sich und dem unverhofften Eindringling. Sie starrten die Lehrerin an, als wollten sie sagen, dass sie bloß keinen weiteren Schritt auf sie zu machen solle. Doch damit hatten sie bei der strengen Maya keinen Erfolg. Langsam aber unbeirrt schritt sie auf den schwänzenden Schüler zu, der sie keines Blickes würdigte.

Maya ging neben Ren in die Hocke, hob einen kleinen Ast auf, den der Wind auf das Dach geweht hatte und zog den Ast zwischen Daumen und Mittelfinger hindurch. Ren konnte direkt spüren, wie sie ihn ansah. Er hatte nicht vor, das Schweigen als erster zu brechen und das war auch nicht notwendig. Mit dem, was Maya jedoch sagte, überraschte sie Ren.

„Ein schöner Platz. Du kommst oft hierher, nicht wahr?“

Ren brummte zustimmend. Er war sich sicher, dass Maya die Antwort ganz genau wusste, weshalb ihre Frage auch nur eine rhetorische gewesen war.

„Ich bin mir sicher, dass bei Sonnenschein dieser Platz noch viel, viel schöner ist“, meinte sie. Ren gab ihr keine Antwort.

„Ein idealer Ort, um sich zurückzuziehen und für sich allein zu sein, um nachzudenken oder einfach gar nichts zu tun, um einfach nur da zu sein.“

Genau das dachte sich Ren auch, weshalb er ja diesen Platz gewählt hatte. Und von hier würde ihn niemand vertreiben können. Der Schüler wusste, dass dies ein Trotzgedanke war, denn er würde absolut nichts dagegen tun können, wenn man ihm diesen Zufluchtsort wegnehmen würde.

„Natürlich fällt dein Fehlen von Mal zu Mal mehr auf“, sprach die Lehrerin weiter. „Und niemand wusste, wo du stecken konntest. Es wäre für dich sicherlich das einfachste gewesen, wenn du das Schulgelände verlassen hättest, aber eine Ahnung sagte mir, dass du das nicht getan hattest. Du musstest irgendwo hier in der Nähe stecken.
Ich sprach mit Schülerinnen und Schülern und fand bald heraus, dass du vor vielen Mädchen immer ins Innere der Schule geflohen bist, aber niemals mehr heraus kamst. Jedenfalls nicht, solange noch ein Mädchen in der Nähe war. Wenn du aber in der Schule warst, dann konntest du dich nirgendwo verstecken, weil dich immer jemand gefunden hätte. Selbst das Klo wäre kein sicheres Versteck gewesen. Viel zu groß wäre dort die Gefahr, durch den Hausmeister entdeckt zu werden.“

Ren hörte ihr genau zu. Damals war er tatsächlich zweimal auf die Toilette geflüchtet, und beim zweiten Mal kamen ihm genau diese Bedenken, die Maya soeben ausgesprochen hatte. Er musste ein besseres Versteck finden. Und so war er sehr vorsichtig und aufmerksam durch das Schulgebäude geschlichen und hatte den Raum gefunden, hinter dem sich der Zugang zu seinem eigenen kleinen Paradies befand.

„Also habe ich weiter nach einem möglichen Platz gesucht, wo du dich verborgen halten könntest“, fuhr Maya mit ihrer Erzählung fort. „Und dann kam mir das Dach der Schule in den Sinn. Im ersten Moment dachte ich, dass es absolut ausgeschlossen sein musste, dass sich hier jemand versteckte. Aber ich beschloss trotzdem, vorsichtshalber nachzusehen. Und ich hatte tatsächlich den richtigen Riecher.“

„Glückwunsch“, murmelte er.

„Vielen Dank. Es war gar nicht einfach, dich hier zu finden.“

Das konnte Ren sich lebhaft vorstellen. Aber er konnte es auch nicht leugnen, dass er tief in seinem Inneren gewusste hatte: wenn irgendjemand diesen Platz finden würde, dann würde es Maya sein. Sie besaß ein untrügliches Gespür, jemanden ausfindig zu machen.

„Sind die Katzen immer bei dir?“, fragte die Lehrerin, die die Tiere natürlich schon bemerkt hatte, seit sie auf das Dach gestiegen war.  Sie mochte Katzen und war im ersten Moment erstaunt gewesen, wie viele von diesen Tieren sich hier oben aufhielten. Doch dann hatte sie des Rätsels Lösung. Unter einer Luke am hinteren Ende des Daches lag der Heizungsraum. Die Luke, durch die man ihn erreichen konnte, hatte eine angenehm warme Temperatur und lud die Vierbeiner geradezu ein, die Zeit liegend auf ihr zu verbringen.

„Ja“, bestätigte Ren. „Die waren schon hier, als ich das erste Mal auf dieses Dach gekommen bin.“

Maya setzte sich neben den Jungen, der immer noch dalag, als befände er sich alleine auf dem Dach.

„Wusstest du, dass Katzen keine Zuckerstoffe schmecken können?“

Jetzt hatte Maya seine volle Aufmerksamkeit. Der Schüler setzte sich auf und blickte sie an. Die Vierbeiner schienen zu ahnen, dass sich das Gespräch um sie drehte, denn sie kamen langsam näher, als wollten sie testen, ob ihnen vor der Frau auf dem Dach wirklich keine Gefahr drohte.

„Nein“, antwortete Ren. „Ich weiß eine Menge über Katzen, aber das wusste ich nicht.“

„Okay, dann gucke doch mal, ob du mir etwas erzählen kannst, was ich noch nicht über Katzen weiß.“

Ren dachte nach. Dann fragte er: „Was haben Katzen, Giraffen und Kamele gemeinsam?“

„Das ist leicht“, meinte Maya. „Es sind die einzigen Tiere, die gleichzeitig beide Beine einer Seite bewegen, wenn sie gehen.“

Ren war beeindruckt, denn bisher hatte er niemanden gefunden, der diese Frage richtig beantworten konnte. Maya stieg in seiner Achtung.

„Woher wissen Sie solche Sachen?“

„Ich interessiere mich ebenfalls für Katzen. Ich finde diese Tiere sehr faszinierend. Wie oft können Katzen pro Minute schnurren?“, schoss die Lehrerin für Ren ganz unvermittelt ihre nächste Frage ab.

„Ungefähr 1500 Mal“, sagte Ren ohne lange zu überlegen.

„Erstaunlich“, meinte Maya.

„Katzen können so einiges.“

„Nein, ich finde es erstaunlich, dass du auch diese Fakten über Katzen weiß, die den meisten Katzenliebhabern nicht bekannt sind.“

„Ich habe ja auch einen Katzenclub gegründet, da muss man solche Sachen wissen.“

„Interessant. Wie viele Mitglieder hat er?“

„Eines“, antwortete Ren und blickte betreten zu Boden.

„Darf ich Mitglied werden?“, fragte Maya und überraschte den Jungen abermals. „Was bietet mir dieser Club denn?“

„Eigentlich hatte ich vor, einmal im Monat ein Fanzine mit Katzengeschichten, Rätseln und wissenswerten Dingen über Katzen herauszubringen.“

„Tolle Idee. Ich bin dabei“, meinte Maya. Dann rutschte sie näher an den Jungen heran.

„Aber jetzt müssen wir über ernsthaftere Sachen sprechen“, sagte die Lehrerin und Ren ahnte, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. „Deine Leistungen in den unterschiedlichen Fächern sind ziemlich gut. Dennoch geht es nicht, dass du fast die Hälfte der Unterrichtsstunden hier an deinem Zufluchtsort verbringst. Du musst auch am Unterricht teilnehmen. Zumindest ich als Lehrkraft kann und darf dein Verhalten nicht unterstützen. Daher muss ich dafür sorgen, dass dieser Zugang dir nicht mehr zur Verfügung stehen wird.“

Ren hatte sich schon gedacht, dass etwas in dieser Art passieren würde. Doch er wollte diesen Platz nicht aufgeben. Vielleicht ließ sich die Lehrerin irgendwie von ihrem Vorhaben abbringen, obwohl der Schüler selber nicht damit rechnete.

„Ich weiß, dass du vorsichtig bist“, fuhr die Lehrerin fort. „Aber du weißt selber was alles hier passieren kann. Es muss noch nicht einmal durch deine Schuld passieren. Das Dach ist nicht abgesichert. Eine deiner Katzen kann sich zu nahe an den Rand des Daches wagen, du stürzt hinzu, um sie zu retten, verlierst das Gleichgewicht und fällst hinunter. Unten kann man dich dann als Katzenfutter vom Hof kratzen. Ich bekomme riesigen Ärger, wenn ich dich weiterhin hier auf das Dach flüchten lasse.“

Ren entschied, dass es zwecklos war, seinen Zufluchtsort verteidigen zu wollen. Maya würde dafür sorgen, dass er nicht wieder auf das Dach flüchten konnte, das war so sicher wie der nächste Sonnenaufgang.

„Und jetzt kommst du bitte mit nach unten. Der Unterricht mag zwar langweilig und sehr lästig sein, aber er ist notwendig.“

Seufzend stand Ren auf und auch Maya stellte sich auf ihre Beine. Der Junge überlegte fieberhaft, welche Zufluchtsmöglichkeit es für ihn gab, wenn er wieder von einer Horde pubertierender durchdrehender Mädchen belästigt wurde. Vielleicht gab es im anderen Gebäude ebenfalls einen Zugang aufs Dach, aber er konnte sich nicht denken, dass die Lehrer so dumm waren, diesen Zugang nicht auch zu versperren.

Langsam trottete er hinter Maya her. An der Luke drehte er sich noch einmal um und schaute die Katzenschar an, die ihm mit ihren Augen hinterher blickten. Stumm verabschiedete er sich von ihnen. Er verspürte einen Stich im Herz, als ihm bewusst wurde, dass er sie nie mehr wiedersehen würde. Dennoch würde er von Zeit zu Zeit zur Tür zurückkehren, um zu testen, ob sie nicht versehentlich doch unverschlossen gelassen werden würde. Er spielte sogar mit dem Gedanken, mit einem Dietrich das Schloss zu knacken, aber es war klar, dass beim Entdecken des geknackten Schlosses der Verdacht sofort auf ihn fallen würde.

Auf jeden Fall würde ihm die nächste Zeit nicht langweilig werden, denn Ren nahm sich vor, solange nach einem weiteren Zugang zum Schuldach zu suchen, bis er Erfolg haben würde. Selbst, wenn das bedeutete, dass er über die Feuerleiter oder über einen anderen dritten Weg zu seinem Ziel kommen musste.

*****

„Nur noch ein paar Stunden, dann ist es soweit.“

„Das sagst du jetzt schon den ganzen Tag“, stöhnte Inu.

„Wie wäre es denn, wenn du dich mal mit mir freust. Ich gehe mit dem tollsten Jungen der Welt aus, und alles was du machen kannst ist, dich zu beschweren.“

Das gesamte Wochenende hatte Chiyo an fast nichts anderes als an ihre heutige Verabredung mit Takeo gedacht. Ihre Eltern hatten mitbekommen, dass sie ausgesprochen gute Laune gehabt hatte, aber dass eine neue Eroberung ihrer Tochter dahinter steckte, hatten sie nicht geahnt Sie hatten von sehr vielen Dingen, die ihre Tochter trieb, keinerlei Ahnung und wären in höchstem Maße entsetzt gewesen, wenn sie die Wahrheit erfahren hätten. Und natürlich hatte Chiyo kein Interesse daran, ihren Eltern auf die Nase zu binden, dass sie jeden Monat einen neuen Jungen im Schlepptau hatte.

Die Taokas lebten am anderen Ende von Carlton auf einem kleinen Hügel, auf dem vor zehn Jahren ein Neubaugebiet entstanden war. Zahlreiche Häuser waren in diesem Gebiet aus dem Boden gestampft worden, zusammen mit einem Supermarkt, einem Friseur, zwei Restaurants, einem Bekleidungsgeschäft, einer Reinigung und noch so manchem mehr.

Chiyos Vater besaß einen kleinen Laden in der Nähe der Wohnung, in der er mit seiner Frau und seiner Tochter lebte. In dem Laden konnte man allerlei japanische Lebensmittel, Zeitschriften, Spiele, Bücher, Kleidung und andere Sachen bekommen. Die Geschäfte liefen gut, was nicht zuletzt auch daher kam, dass die Carlton Jouchi Daigaku am entgegen gesetzten Ende ihren Standort hatte. Die Eltern, die in der Nähe wohnten, aber auch deren Kinder selbst kamen sehr häufig in den japanischen Store, um sich über die neuesten Waren zu informieren und das eine oder andere auch mitzunehmen.

Selbstverständlich kauften aber nicht nur asiatisch aussehende Menschen bei Mister Taoka ein. Auch Amerikaner mit weißer, schwarzer und roter Haut betraten den Laden oft. Neben dem Verkauf bot Chiyos Vater auch noch etwas anderes an, was zusätzlich dazu beitrug, dass die Leute gerne wiederkamen und auch noch Bekannte mitbrachten: Service. Mister Taoka räumte dem Service einen sehr wichtigen Platz ein. Er hatte auch ältere und gebrechliche Kunden, die gerne etwas aus seinem Sortiment haben wollten, aber es nicht selbst holen oder jemanden schicken konnten, der es für sie abholte. Solchen Menschen half der Geschäftsinhaber dadurch, dass er die Bestellungen per Telefon aufnahm, sie nach Ladenschluss zusammenstellte und den Kunden direkt bis auf den Küchentisch lieferte. Es war logisch, dass er dafür einen Aufpreis verlangte, aber die Kunden zahlten diesen Aufpreis gerne, denn sie wollten ihren Lieferanten nicht verlieren.

Zum Service zählte außerdem noch die Unterhaltung, die die Kunden untereinander oder auch mit Mister Taoka selbst im Laden führten. Hier wurde nicht nur eingekauft, sondern auch Small Talk betrieben. Egal, ob es sich um die neuesten Wirtschaftsnachrichten handelte oder darüber, dass dem alten Ehepaar an der Ecke der Lincoln Street wieder einmal der Hund entlaufen war – Gesprächsstoff gab es mehr als genug und die Leute schätzten es sehr, dass sie sich während ihres Einkaufes über den neuesten Klatsch und Tratsch austauschen konnten.

Doch es ging nicht nur um Nachrichten und Neuigkeiten aus der Nachbarschaft. Chiyos Vater hatte auch ein offenes Ohr für Menschen, denen es nicht so gut ging, die ein Zipperlein oder sogar eine schlimme Krankheit plagte, die von Geldsorgen gedrückt worden oder im Gefahr liefen, ihren Job zu verlieren. Er hörte geduldig zu, fragte interessiert nach und gab den Leuten den einen oder anderen Tipp, wie sie sich seiner Meinung nach am besten verhalten sollten. Und den sorgenvollen Menschen ging es ein bisschen besser, wenn sie sich bei jemandem ihren Kummer von der Seele reden konnten.

Während Chiyos Vater in seinem Store beschäftigt war, ging ihre Mutter in ihre Näherei, deren Auftragsbücher ebenfalls prall gefüllt waren. Sie nähte Kleider aller Art für alle möglichen Menschen, von normalen Leuten bis hin zu Geschäftsmännern. Allerdings war sie dabei nicht alleine, sondern hatte noch zwei Angestellte, die ebenfalls mithalfen, damit die Kleidung rechtzeitig fertig wurde. Obwohl bei „Taoka Stoffverarbeitung“, wie das Geschäft hieß, alles in Handarbeit hergestellt wurde, hatte es doch eine hohe Qualität und natürlich den entsprechenden Preis, der aber von den Kunden meist anstandslos bezahlt wurde. Schließlich wussten die Leute, die Mrs. Taoka einen Auftrag erteilten, dass sie keinen Ramsch orderten, sondern anständige Ware erhielten.

Doch die Angestellten bei „Taoka Stoffverarbeitung“ stellten nicht nur selber Kleidung her, sie kümmerten sich auch um Reparaturen von Kleidungsstücken, die die Kunden bei ihnen vorbei brachten. War ein Ärmel an der Schulter eingerissen oder die Hose zu eng oder musste irgendwo ein Stück Stoff eingefügt werden, so brachten die Näherinnen das natürlich so schnell wie möglich in Ordnung. Manchmal konnten die Kunden auf die Reparatur warten, manchmal war die Behebung des Schadens so kompliziert, dass es zwei oder drei Tage dauerte, bis das gute Stück wieder zu seinem Besitzer zurück fand. Und die Arbeiten wurden sauber und sorgfältig ausgewählt, weshalb hier auch wieder der Großteil von neuen Kunden durch Mundpropaganda auf die Nähstube aufmerksam gemacht wurde.

Kurz gesagt: in der gesamten Woche hatten Chiyos Eltern genug mit ihren Geschäften zu tun. Nur so konnten sie ihrer Tochter die gute Schulbildung in der Carlton Jouchi Daigaku finanzieren. Schon lange war für sie klar, dass für ihr Kind gar keine andere Schule in Frage kam, als diese. Doch durch ihre Arbeit konnten sie sich natürlich nicht so intensiv um ihre Tochter kümmern, wie sie es gerne gewollt hätten. Deswegen war das Kind, wenn es aus der Schule kam, meist auf sich allein gestellt gewesen. Diese Tatsache hatte Chiyo aber schon früh zu einem selbständigen Mädchen erzogen. Sie musste sich ihr Essen selbst zubereiten, Wäsche waschen, aufräumen, Staubsaugen und sonstige Hausarbeiten erledigen. Ihre Eltern waren sehr zufrieden, dass Chiyo alle Dinge ohne Murren auf sich nahm. Umso entsetzter wären sie gewesen, wenn sie mitbekommen hätten, wie Chiyo mit Jungs umging und sie nur als Objekt, mit dem man seinen Spaß haben konnte, betrachtete. Denn nichts anderes waren Jungen für Chiyo. Nur Spielzeugfiguren, die man in den Schrank legte und nicht mehr beachtete, wenn man ihrer überdrüssig geworden war.

Und nun stand das Mädchen mit ihrer besten Freundin Inu auf dem Pausenhof und je näher die Verabredung mit Takeo Minami rückte, umso aufgeregter wurde Chiyo.

„Wie wirst du denn vorgehen?“, wollte Inu wissen.

„Na, so wie ich immer vorgehe. Ich lasse ihn erst einmal ein bisschen von sich erzählen. Wenn er nichts von sich erzählen will, dann helfe ich ein ganz klein wenig nach und teile ihm etwas über mich mit. Auf diese Art kommt dann ein Gespräch zustande. Ob die Dinge, die ich dem Schönling erzähle, stimmen, kann er ja nicht wissen. Jedenfalls versuche ich auf diese Weise an Informationen über ihn zu gelangen. Vielleicht erzählt er mir ja etwas, das ganz interessant ist und das ich mir unbedingt merken muss. Man weiß ja nie, für was man solche Dinge später noch gebrauchen kann.
Und dann werde ich meine Waffen einsetzen. Das hat bisher noch bei jedem funktioniert. Vielleicht kriege ich ihn heute abend schon so weit, dass ich ihn mit zu mir nehmen kann. Eines ist aber sicher: passieren wird heute noch nichts. Ich habe unendlich viel Zeit, ihn zu vernaschen. Gott, er wird sich wünschen, nur noch mit mir Sex haben zu wollen. Ich werde ihm sein erstes Mal mit mir so schmackhaft wie möglich machen. Er wird verrückt nach mir sein.
Wenn er mir allerdings dumm kommt und Schluss macht, bevor ich ihn abserviere, dann kann er sich schon mal warm anziehen. Niemand beendet meine Affären, es sei denn, ich tue es selber. Mit den Sachen, die er mir heute so bereitwillig von sich erzählen wird, kann ich ihn dann zwingen bei mir zu bleiben.“

„Aber was machst du, wenn er dir nichts erzählt, was so brisant ist, dass du es gegen ihn verwenden kannst?“

Chiyo winkte ab. „Irgendwo hat jeder eine Leiche im Keller. Man muss sie nur finden. Und ich habe bisher noch jeden versteckten Kadaver bei einem Jungen gefunden, selbst, wenn der schon jahrelang vor sich hin gefault ist. Das ist überhaupt kein Problem.“

Die Schülerin sagte das nicht so leichtfertig vor sich hin, sondern war wirklich der festen Überzeugung, dass sie mit Erpressung jeden Jungen bei sich halten konnte. Bisher musste sie dieses Druckmittel nur bei einer Eroberung einsetzen, da sie sich immer schon von ihren Affären getrennt hatte, bevor diese ihr zuvorkommen konnten.

Jonathan allerdings hatte ein wenig zurechtgestutzt werden müssen. Er hatte sich doch tatsächlich eingebildet, er könne mit ihr einfach so Schluss machen. Aber da hatte er die Rechnung ohne Chiyo gemacht. Denn diese wusste, dass er gar nicht zum Musikunterricht ging, den seine Eltern für ihn bezahlten, sondern sich mit seinen Kumpels traf und das Kursgeld in Alkohol umsetzte. Natürlich hatten seine Eltern davon nicht die leiseste Ahnung und genau das war Chiyos Chance gewesen. Sie hatte Jonathan mit seinen Taten konfrontiert und ihm damit gedroht, dass seine Eltern die ganze Wahrheit erfahren würden, wenn er nicht mit ihr zusammen bliebe.

Der Junge wollte partout nicht riskieren, dass seine Mum und sein Dad Wind von der Sache bekämen, deshalb fügte er sich. Ansonsten hätte es riesigen Ärger gegeben und er hätte das Geld wieder zurückzahlen müssen. Jonathan wusste, dass er die ganze Geschichte nicht ewig geheim halten konnte, aber wenigstens so lange es möglich war, wollte er, dass niemand Kenntnis von dem Diebstahl des Geldes bekam. Also fügte er sich zähneknirschend, machte gute Miene zum bösen Spiel und tat, was Chiyo von ihm verlangte.

Allerdings nahm diese eine Woche später die Sache selber in die Hand und gab Jonathan den Laufpass. Und da er es gewagt hatte, Schluss mit ihr machen zu wollen, was Chiyo sowieso schon als Frechheit empfand, hatte sie kurzerhand zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und seine Eltern mit einem anonymen Brief über die „Sauforgien“ ihres Sohnes, wie sie sich in dem Brief ausgedrückt hatte, aufgeklärt.

Am nächsten Tag war Jonathan rasend vor Wut zu ihr gegangen, aber sie hatte alles abgestritten. Beweisen konnte er ihr nicht, dass sie den Brief geschrieben hatte. Zornbebend musste der Junge klein beigeben. Er hatte keine Zeugen und auch sonst nichts gegen sie in der Hand. Den Brief hatte Chiyo in weiser Voraussicht von einer Freundin schreiben lassen und erklärt, es handele sich hierbei um einen Scherz, den sie sich mit jemandem erlauben wolle. Man hätte Chiyo also nicht mal bei einer Handschriftenprobe überführen können. Sie stand vollends auf der sicheren Seite. Das war in ihren Augen auch eines der wichtigsten Dinge bei ihren Methoden: das man sich komplett nach allen Seiten absicherte, damit einem später kein Strick gedreht werden konnte.

Inu meldete sich wieder zu Wort und fragte: „Aber hast du nicht erzählt, dein Traumboy hätte schon ein Mädchen, mit dem er zusammen ist? Meinst du, du hast dann Chancen?“

„Ich weiß nicht, ob die beiden zusammen sind“, knirschte Chiyo. „Ich weiß nur, dass ich den Jungen nicht diesem Flittchen überlassen werde. Er ist etwas besonderes und ich werde ihm klar machen, dass er etwas viel besseres verdient hat, als diese hohle Nuss. Und er wird bald einsehen, dass ich das beste bin, was ihm an dieser Schule passieren kann.“

*****

Auf dem Schulhof der Carlton Jouchi Daigaku standen ebenfalls die Sakurai-Zwillinge zusammen und ließen ihren Blick schweifen. Nach ihrem letzten Unterricht hatten sie sich am Kiosk jeweils einen Schokoriegel mit Haselnüssen und ein Multivitamingetränk gekauft.

Und plötzlich blieb ihr Blick gleichzeitig an einer Person haften.

„Siehst du auch, was ich sehe?“, fragte Makoto.

„Oh ja, und was ich da sehe, gefällt mir überhaupt nicht“, antwortete Tetsuya.

Natürlich waren ihre Blicke auf Chiyo gefallen, die mit ihrer Freundin Inu ein paar Meter entfernt stand und in einer angeregten Unterhaltung vertieft war.

„Was die wohl wieder ausheckt?“

„Keine Ahnung. Aber sie steht sehr oft mit ihrer Freundin zusammen“, stellte Tetsuya fest. „Ob das etwas zu bedeuten hat?“

„Du meinst, Chiyo ist lesbisch?“

Tetsuya sah seinen Bruder an. „Auf was für Gedanken du immer gleich kommst. Aber du hast gar nicht so unrecht. Dieser Verdacht drängt sich einem geradezu auf. Am besten wir gehen hin und fragen sie selber.“

Makoto riss die Augen auf. „Das willst du nicht wirklich tun!“

„Oh, entschuldige“, meinte Tetsuya mit einer leichten Verbeugung, „ich konnte natürlich nicht ahnen, dass du es ihr sagen wolltest. Dann halte ich mich natürlich würdevoll zurück.“

Und mit diesen Worten ging er zu den beiden Schülerinnen hinüber. Makoto folgte ihm aufgeregt und sprach hektisch auf ihn ein. Doch Tetsuya kümmerte sich gar nicht um die Proteste seines Bruders, die ihm eine saftige Strafe androhten, wenn er es wagen sollte zu erwähnen, dass die Frage, ob Chiyo auf Mädchen stand, von ihm, Makoto, käme. Dann hatten die beiden Jungen ihr Ziel erreicht und Tetsuya freute sich innerlich bereits wie ein kleines Kind auf den Schlagabtausch, der unweigerlich stattfinden würde.

„Hallo“, grüßte Tetsuya. „Überlegt ihr wieder mal, wie ihr jemanden fertigmachen könnt?“

„Oh nein“, stöhnte Chiyo, als sie die beiden Zwillinge sah.

„Freut uns auch, dich zu sehen“, meinte Makoto lächelnd.

Chiyo konnte die Zwillinge absolut nicht ausstehen. Von allen nervigen Schülern, die sie kannte – und das waren immerhin gut drei Viertel dieser Schule – waren die beiden Sakurais die schlimmsten. Sie wäre die erste gewesen, die eine gewaltige Party organisiert hätte, wären die beiden Plagegeister, die schlimmer waren als jede Pest, von der Schule geworfen worden. Doch bisher war nichts dergleichen geschehen. Doch etwas musste in dieser Richtung unternommen werden und zwar schleunigst. Chiyo beschloss, sich darum zu kümmern, sobald sie sich Takeo gekrallt hatte.

Die Antipathie bestand ebenfalls in der anderen Richtung. Auch Makoto und Tetsuya konnten Chiyo auf den Tod nicht leiden. Wie einigen anderen an dieser Schule ging es ihnen gegen den Strich, wie das Mädchen mit den Jungs umsprang. Deshalb nutzten die Zwillinge jede Gelegenheit, um ihr das Leben schwer zu machen und sie ordentlich zu ärgern und zu provozieren, was ihnen auch meist gelang. Dabei waren sie in der Wahl ihrer Mittel nicht gerade zimperlich.

Als Chiyo sich beispielsweise an den Sohn eines Bademeisters herangemacht hatte, verging kein Tag, an dem sie von den Zwillingen nicht mit Wasser bespritzt oder im schlimmsten Fall übergossen worden war. Sie schossen mit von Gummibändern abgefeuerten Papierkrampen nach ihr, bewarfen sie aus dem sicheren Versteck in einem Baum mit Eicheln oder waren ihr im Dunkeln behilflich, den Weg nach Hause zu finden, indem sie ihr mit Taschenlampen mitten ins Gesicht leuchteten. Ihrem Einfallsreichtum war absolut keine Grenze gesetzt. Und Chiyo wagte es nicht, gegen sie vorzugehen. Den Grund dafür kannte nur sie und die Zwillinge. Irgendwie mussten die Zwillinge einmal den Spieß umgedreht und nun ihrerseits etwas gegen Chiyo in der Hand haben. Was das war, wusste niemand. Aber es musste offensichtlich so brisant sein, dass es Chiyo einen Heidenrespekt einflößte.

„Könnt ihr nicht dorthin gehen, wo ihr gebraucht werdet?“

„Oh, glaube mir“, lächelte Tetsuya Chiyo an, „wo du dich aufhältst, werden wir immer gebraucht. Wir sind sozusagen die Retter unserer Spezies. Wir wollen nur nicht, dass du mit einem Jungen unglücklich wirst, daher unternehmen wir alles, um diese böse Art der Menschen von dir fern  zu halten.“

„Das ist ja sehr selbstlos von euch. Schön, dass ihr euch so um mich sorgt. Aber ich benötige keine Babysitter. Also geht wieder dorthin, wo ihr hergekommen seid. Am besten zu dem Ort, an dem ihr vor zwanzig Jahren gewohnt habt“, sagte Chiyo betont freundlich.

„Oh, aber das ist sehr weit von hier entfernt. Da können wir uns ja nicht mehr sehen und das wäre doch schade“, bedauerte Makoto.

„Je weiter ihr von mir entfernt seid, desto wohler fühle ich mich. Hier beginnt es nämlich gerade extrem zu stinken.“

Tetsuya zog schnuppernd die Luft durch die Nase ein. „Ich rieche nichts. Du, Makoto?“

Der angesprochene Bruder schnüffelte ebenfalls und schüttelte dann den Kopf.

Tetsuya ging mit der Nase ganz dicht an Chiyos Arm und schnüffelte erneut. Dann verzog er das Gesicht und entfernte sich mit dem Kopf von ihr.

„Ja, jetzt rieche ich es auch. Meine Güte, habt ihr für eure Dusche keine Betriebsanleitung?“

„Unglaublich witzig“, giftete Chiyo. „Ihr beide geht mir schon seit dem ersten Tag auf die Nerven. Wird Zeit, dass euch mal jemand zeigt, dass ihr euch nicht alles erlauben könnt.“

Tetsuya fuhr mit erschrockenem Gesichtsausdruck zurück. „Makoto, hilf mir. Ich kriege gerade fürchterliche Angst.“

„Warum lasst ihr uns nicht einfach in Ruhe?“, fragte Inu.

„Das werden wir tun, wenn wir sicher sein können, dass deine Freundin hier ihre Mitmenschen anständig behandelt“, antwortete Makoto.

„Im Klartext“, lächelte Tetsuya Inu an, „wir werden euch nie in Ruhe lassen.“

Chiyo packte Inu am Arm. „Komm, wir gehen. Vielleicht ist ja heute unser Glückstag und die beiden werden auf dem Nachhauseweg von einem Auto überfahren.“

„Wenn du am Steuer sitzt und dabei auch das zeitliche segnest, dann würden wir uns sogar freiwillig vor das Auto werfen“, konterte Tetsuya, während Chiyo und Inu wieder ins Schulgebäude gingen.

„Wie ausgesprochen armselig“, meinte Makoto mit dem Kopf schüttelnd.

„Stimmt“, antwortete Tetsuya und blickte seinen Bruder an. „Aber Chiyo und Inu sind auch nicht viel besser.“

Bis zum Ende der Pause war Makoto damit beschäftigt, seinen lachenden Bruder über den Schulhof zu jagen. Zu fassen bekam er ihn jedoch nicht.

*****

Das Blitzlichtgewitter war enorm. Sofort, nachdem Kou und Yuen aus dem Aufzug getreten waren, hatten sich die Reporter auf sie gestürzt und wie wild auf die Auslöser ihrer Kameras gedrückt. Den Sicherheitsleuten fiel es unglaublich schwer, die Meute im Zaum zu halten. Fragen wirbelten durch den Raum, die nicht zu verstehen waren, weil jeder durcheinander redete und lauter redete als der Reporter neben ihm. Eine nicht zu bändigende Flut von sich überlagernden Stimmen brandete den beiden Männern entgegen.

Doch diese lächelten nur. Insgeheim amüsierte sich der Eigentümer von Tanoshii Enterprises über die Reporter, die so begierig darauf waren, endlich in Erfahrung zu bringen, warum diese Pressekonferenz angesetzt worden war, und dabei gar nicht bemerkten, dass sie sich in ihrem Redefluss gegenseitig behinderten.

Die Sicherheitsleute drängten mit Mühe die Reporter zurück und baten sie unaufhörlich, in den Saal zurückzugehen. Nach einiger Zeit hatten sie sogar Erfolg und die Meute machte sich auf den Rückzug. Takeos Vater und seine rechte Hand blieben derweil höflich lächelnd vor dem Aufzug stehen, bis die Reporter sich wieder im Saal versammelt hatten. Erst dann bekamen sie von der Security das Zeichen, dass sie weitergehen konnten.

Als sie den Saal betraten, prasselten wieder die Blitzlichter auf sie ein, aber immerhin waren die Reporter jetzt so diszipliniert, dass sie nur von ihren Stühlen aufsprangen und nicht zu den beiden Männern stürmten, die nun zum aufgebauten Pult gingen. Yuen  stellte sich vor das Publikum. Der Saal war bis zum Bersten gefüllt. Die Reporter standen jetzt schon mehr zusammengepresst als gemütlich im Raum. Bewegungsfreiheit herrschte hier nur im vorderen Teil des großen Raumes, in dem gleich die Bombe platzen würde.

Yuen Hino wartete, bis sich das Gemurmel gelegt hatte und es still im Raum war. Er klopfte einmal kurz gegen das Mikrofon und begann zu sprechen.

„Meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie so zahlreich hier zu sehen. Sie sind heute hier erschienen, weil Sie etwas Besonderes erwarten, etwas Besonderes und Großartiges. Und ich kann Ihnen eines versichern: Sie haben sich nicht vergebens auf den Weg gemacht.
Vor vielen Monaten hatte Tanoshii Enterprises eine Idee, zuerst war es nur eine ganz kleine Idee, ein Gedanke, was man einmal versuchen könnte. Doch diese Idee wuchs und sie zog neue Ideen nach sich. Und schließlich entwickelte sich das ganze zu einer riesigen Lawine, die unaufhaltsam auf den heutigen Tag zurollte. Und wir wollten nicht, dass etwas von dem, was wir vorhatten, an die Öffentlichkeit drang. Nun, das ist uns gelungen.
Wir haben Arbeitsplätze geschaffen, Ingenieure eingestellt, viele Dinge ausprobiert – alles nur für unsere Idee. Viele Dinge sind gescheitert, andere waren ein riesiger Durchbruch. Wir haben geplant und entwickelt und sogar mit den Medien Kontakt aufgenommen. Allerdings mit keinem von ihren Medien, für die Sie arbeiten, meine Damen und Herren.
Wir haben uns mit einem Medium beschäftigt, für das keiner von Ihnen arbeitet.
Und nun werde ich Ihnen verraten, was wir all die Monate so lange geheim gehalten haben. Danach wird der Eigentümer der Tanoshii Enterprises, Mister Kou Minami, zu Ihnen sprechen und Sie über das ganze Ausmaß unserer Idee in Kenntnis setzen.“

Kou machte einen Schritt auf das Pult zu. Von den Reportern kam kein einziger Mucks. Lediglich das Klicken der Kameras war zu hören. Die Videokamera, die das ganze Geschehen aufzeichnete und die Bilder direkt ans Fernsehen weiterleitete, arbeitete leise aber effektiv.

„Meine Damen und Herren“, fuhr Yuen fort, „Tanoshii Enterprises, Ihnen allen bekannt als Hersteller von hochwertigen Spielwaren, wird die Kinoleinwände erobern. Und hier ist Kou Minami.“

Ein Raunen ging durch den Raum. Jeder fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Hier handelte es sich um eine Spielzeugfabrik und nicht um ein Filmunternehmen. Einige Reporter begannen sich zu fragen, ob sie eventuell mit ihrem Besuch in diesem Haus ihre Zeit verschwendet hatten.

Während Yuen sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe setzte, lächelte der Vater von Takeo freundlich in die Runde, ehe er anfing zu sprechen.

„Im Namen von Tanoshii Enterprises heiße ich Sie alle in diesem Haus herzlich willkommen. Wie Sie gerade eben schon vernommen haben, sind wir in die Filmbranche gegangen. Und Sie haben sich nicht verhört. Tanoshii Enterprises hat sich mit einem Trickfilmstudio zusammengetan und einen Film gedreht. Einen richtig spannenden Film, das kann ich Ihnen versprechen.
Am besten machen Sie sich selbst ein Bild.“

Kou nickte einem der Wachleute an der Tür zu, der das Licht ausschaltete. Eine Leinwand wurde nach unten gefahren und zwei Sekunden später konnte man einen Ausschnitt aus dem Film sehen.

Ein Junge, etwa vierzehn Jahre alt, rannte über eine Wiese, dicht gefolgt von einem Mann mit dichtem Vollbart, der ein Schwert in der Hand hielt. Der Mann holte aus und schwang die Waffe, die dem Jungen den Stoff seines blauen Oberhemdes am Rücken aufschlitzte.

Die nächste Szene zeigte den gleichen Jungen, der zusammen mit einem Mädchen, das einen grünen Kimono trug, auf einer Bank saß. In der Hand hielt der Junge einen kleinen Kristall.

„Ich muss gehen“, sagte er. „Ich muss das wieder in Ordnung bringen, was der Kristall angerichtet hat.“

Es erfolgte ein Übergang zur nächsten Szene, in der eine Art Mast, der sehr lang war, krachend auf eine Brücke fiel, die über einen Fluss führte. Die Autos und Menschen, die sich auf der Brücke befanden, wurden in die Luft gewirbelt, um anschließend im Wasser zu landen. Menschen schrieen und flüchteten unkoordiniert in alle Richtungen. Autos, die aufeinanderkrachten, gingen in Flammen auf und explodierten. Es herrschte ein einziges Chaos.

In der vierten Szene war wieder das Mädchen im grünen Kimono zu sehen, die den Jungen anschrie, er solle zum Podest laufen. Sekundenbruchteile später bohrte sich ein Armbrustbolzen in die Schulter des Mädchens, das mit schmerzverzerrtem Gesicht aufschrie.

Eine weitere Szene erschien auf der Leinwand. Der Kristall schimmerte in allen Farben, die eine Art Tasche gebildet und sich um den Jungen gelegt hatten, der mit offenem Mund auf den Kristall blickte.

Direkt danach erblickte der Zuschauer ein Tisch in einem Raum, an dem zwei ältere Männer saßen und ein Brettspiel mit dreieckigen gelben Steinen spielten. Einer der Männer schob einen Stein seitwärts und fragte: „Du bist dir ganz sicher, dass Kaguna kommen wird?“
„So sicher, wie sie schon seit drei Jahrhunderten tot ist“, antwortete sein Gegenüber.

Abermals waren der Junge und das Mädchen zu sehen. Sie hatte ihn an den Schultern gepackt und schüttelte ihn, während sie sagte: „Wir können nicht unserer eigenen Wege gehen. Wenn wir uns trennen, dann sterben wir.“

In der nächsten Szene befand sich der Kristall auf einer Art Altar, auf den ein gewaltiger steinerner Hammer niedersauste.

Dann wurde man Zeuge, wie ein gewaltiger Windstrudel, der sich in einer Höhle gebildet hatte, den Jungen von den Füßen riss und ihn in sich aufsaugte. Außerdem wurde das Bild ebenfalls von dem Sog erfasst und schließlich sah man nur noch die schwarze Leinwand.

Das Licht im Raum ging wieder an. Keiner sagte ein Wort, aber man sah den Reportern an, dass sie beeindruckt waren. Kou ließ die Bilder vom Film noch ein wenig wirken, bevor er lächelnd weitersprach.

„Sämtliche Rechte dieses Films liegen bei Kanoshii Enterprises. Sollten Sie also etwas von dem Ausschnitt mitgefilmt haben und auf die Idee kommen, einen Teil davon öffentlich machen zu wollen, in welcher Form auch immer, dann sollten Sie das besser tun, nachdem Sie den Millionenjackpot in der Lotterie geknackt haben.“

Die Reporter lachten, aber sie wussten dass es nicht als Scherz gemeint war.

„Sie fragen sich jetzt vielleicht, ob wir nun die Produktion von Spielzeug einstellen und uns ins Filmgeschäft verlagern. Ich kann Ihnen versichern, dass wir das nicht tun werden. Der Streifen, von dem Sie gerade einige Ausschnitte gesehen haben, kommt erst in einigen Monaten in die Kinos. Doch bis dahin wird eine gigantische Maschinerie in Gang gesetzt, die als Werbung für diesen Film dienen wird. Es wird zu diesem Film Spielzeug geben und zwar in jeder Form, die Sie sich nur vorstellen können. Das Merchandising wird gewaltig sein. Wir werden die Teenager so heiß auf diesen Film machen, dass sie eine Woche vor Kinostart jede Stunde auf die Uhr schauen und sich den Beginn herbeisehnen werden. Bausätze, Puzzles, Figuren, Bettwäsche, Uhren, bedruckte Kleidung, Geschirr und noch vieles mehr wird ab der kommenden Woche in den Läden zu finden sein. Die Kids haben genug Zeit, um sich mit den Figuren des Filmes bekannt zu machen.
Und natürlich dürfen wir das Herzstück nicht vergessen. Unseren Weihnachtsrenner, der uns hoffentlich aus den Händen gerissen werden wird. Ich möchte Sie mit unserem Maskottchen bekannt machen.“

Kou ging zur Tür und die Blicke sämtlicher Anwesenden in diesem Saal folgten ihm. Als er den Eingang öffnete, rollte ein Roboter ins Zimmer, der Kou bis zu den Knien reichte. Er war schwarz und als Bauch diente ein Bildschirm.

Kou ging zum Pult zurück und der Roboter folgte ihm gehorsam. Abermals wurden Fotos geschossen. Kou bückte sich, hob den Maschinenmenschen auf und hielt ihn in die Höhe, während die Kameras zeigen durften, was sie alles konnten.

„Das ist Malob“, sagte Kou. „Malob wird uns helfen, unseren Film und die zu ihm erhältlichen Dinge zu präsentieren. Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“

Er ging zur anderen Seite, wo ein Mini-Catwalk für Malob aufgebaut worden war, und stellte den Roboter am Ende des Laufsteges ab. Nun wurde das Licht nur in drei Viertel des Raumes gelöscht, der Laufsteg blieb beleuchtet. Eine Kamera war am anderen Ende postiert worden, die Malob filmen und die bewegten Bilder auf die Leinwand übertragen sollte.

Takeos Vater legte einen kleinen Schalter auf Malobs Rücken um, und der Roboter setzte sich in Bewegung. Er rollte ein paar Schritte vorwärts, hielt dann an und auf dem Bildschirm, der als Bauch diente, sah man einen kleinen Ausschnitt des Films, der etwa fünfzehn Sekunden dauerte. Dann rollte der Roboter wieder ein paar Schritte nach vorne und eine andere Szene des Filmes war zu sehen. Dieser Vorgang wiederholte sich. Als Malob fünf Filmausschnitte zum Besten geegeben hatte, fummelte sein Herrchen wieder an seinem Rücken herum und der Roboter blieb stehen.

„Malob spielt vierzig verschiedene Sequenzen ab und weist in fünf kurzen Filmen darauf hin, was man alles für tolle Sachen zu unserem Kinostreifen kaufen kann. Letztendlich ist es nur ein Marketingprodukt. Aber eines, das die Leute begeistern wird. Kinotrailer für zu Hause. Das gab es in dieser Form noch nie.“

Der Eigentümer von Tanoshii Enterprises sah in die Runde der Reporter, denen anzusehen war, dass ihre Erwartungen an diese Konferenz mehr als erfüllt wurden. Kou suchte in der Menge der Reporter offenbar nach jemandem und bald hatte er die geeignete Kandidatin gefunden.

„Auf der linken Seite, etwa in der Mitte, steht eine dunkelblonde Dame mit grauer Jacke. Würden Sie bitte zu mir nach vorne kommen.“

Aus der Richtung, die Kou angesprochen hatte, hob sich zaghaft eine Hand.

„Ja, genau Sie. Kommen Sie, bitte.“

Die angesprochene Frau drängelte sich durch ihre Reporterkollegen und es dauerte etwa zwei Minuten, bis sie endlich beim Pult angekommen war. Die graue Jacke gehörte zu einem Hosenanzug unter dem sie einen weißen Pullover trug. Der Gastgeber begrüßte sie freundlich und fragte sie nach Ihrem Namen.

„Julia Lesson.“

„Darf ich Julia sagen“, fragte Kou und erhielt ein zustimmendes Nicken.

„Danke. Julia. Wie haben Ihnen unsere Ausschnitte gefallen? Wie wirkte das, was Sie bis jetzt von unserem Film gesehen haben, auf Sie?“

„Es war ziemlich aufregend und spannend. Fand ich gut.“

„Glauben Sie, dass Jugendlichen dieser Film ebenfalls gefallen wird?“

„Doch, ich denke schon.“

„Julia, wir werden jetzt ein kleines Quiz veranstalten. Aber keine Angst, Sie müssen nichts wissen. Sie müssen einfach nur schätzen. Und wenn Ihre Schätzung richtig ist, dann werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen und Sie erhalten eine kleine Aufmerksamkeit von uns. Ich stelle Ihnen jetzt eine Frage, die unseren Film betrifft und wissen Sie, was das Tolle daran ist? Niemand, wirklich keine einzige Person auf diesem Planeten kennt die Antwort. Selbst ich nicht, obwohl ich wirklich jedes kleinste Detail zu diesem Film weiß. Sogar welchen Kaugummi der Regisseur immer isst.“

Die Leute lachten.

„Stellen Sie sich bitte vor, der Film wäre bereits in die Kinos gekommen, und zwar vor zwei Wochen. Was denken Sie, auf welchem Platz wäre er momentan? Es ist klar, dass das unmöglich jemand wissen kann, aber schätzen Sie einfach. Sie haben die Ausschnitte gesehen. Welchen Platz in den Kinocharts belegt der Streifen nach zwei Wochen?“

Die Frau dachte kurz über eine Zahl nach, die ihr plausibel erschien und antwortete dann: „Platz vier.“

Kou atmete erleichtert auf. „Na, mit der Zahl kann ich doch beruhigt einschlafen. Wir werden in ein paar Monaten sehen, ob Sie Recht haben. Vielen Dank, dass Sie so nett waren, zu mir zu kommen.“

Er griff unter das Pult und holte einen original verpackten Malob hervor.

„Sie dürfen sich freuen und richtig stolz darauf sein, dass Sie die allererste sind, die diesen Roboter erhält. Sie werden noch viel mehr Szenen zu sehen bekommen, als die, die Sie bisher gesehen haben. Und Sie wissen, bevor es in der nächsten Woche an den Verkauf unserer Produkte zum Film gehen wird, viel mehr als alle anderen. Genießen Sie dieses Privileg.“

Applaus und Blitzlichter waren zu vernehmen, als Kou sich von der Reporterin verabschiedete, die glücklich lächelnd wieder an ihren Platz zurück kehrte und dabei den Roboter durch das Sichtfenster in der Verpackung betrachtete.

„Jetzt wissen Sie den Grund für die Einladung, die Ihnen ausgesprochen wurde, meine Damen und Herren. Aber mir ist natürlich klar, dass Leute in Ihrem Beruf niemals genug wissen. Man kann alles noch so penibel erklären, ein Reporter findet immer eine noch offene Frage. Deshalb gehört die nächste Viertelstunde Ihnen. Fragen Sie mich so viele Löcher in den Bauch, dass man mich nach dieser Konferenz als Blockflöte benutzen kann.“

An vereinzelten Stellen erklang Gelächter.

„Nutzen Sie Ihre Gelegenheit. Stellen Sie mir jede Frage, die Sie zu unserem Film und dem ganzen Drumherum interessiert. Aber bitte nicht durcheinander. Melden Sie sich bitte. Ich werde Sie dann aufrufen und ein Mikrofon kommt zu Ihnen.“

Die Reporter ließen sich nicht zweimal bitten. Sofort schossen unglaublich viele Hände in die Höhe. Kou ließ Fragen über Fragen über sich ergehen und dehnte die Zeit der Reporter, die ihnen zur Verfügung stand, auf eine halbe Stunde aus. Danach gab es immer noch Leute, die gerne etwas wissen wollten, doch sie wurden enttäuscht.

„Ich muss jetzt wieder arbeiten“, entschuldigte sich Kou lächelnd. „Aber Sie sind nach all den Eindrücken und Neuigkeiten bestimmt einer kleinen Stärkung nicht abgeneigt. Im Raum nebenan gibt es diverse Getränke und auch etwas zu essen. Schlagen Sie kräftig zu.“

Das Klatschen vieler Hände begleitete Kou auf seinem Weg aus dem Saal. Hinter ihm folgte sein Assistent. Ein paar Reporter ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, um noch ein letztes Foto von Takeos Vater zu machen.

Wieder in seinem Büro angekommen, setzten sich die beiden Männer.

„Es ist sehr gut gelaufen“, stellte Yuen fest.

Kou nickte. „Es ist unglaublich, was für Fragen diesen Reportern einfallen. Auf die würde nicht einmal ich kommen. Eigentlich hat nur noch gefehlt, dass sie wissen wollten, wie viel Öl Malob am Tag benötigt.“

Yuen lachte. „Ich kann mir vorstellen, was heute abend im Fernsehen und morgen in den Zeitungen los sein wird.“

„Was nächste Woche in den Spielwarenabteilungen der Kaufhäuser los sein wird, möchte ich gar nicht wissen.“

„Es wird anfangs sehr schleppend laufen. Aber mit der Zeit und sobald es auf Weihnachten zugeht, werden wir den Run erleben“, mutmaßte Yuen.

„Julia Lesson wird hoffentlich die erste sein, die Mundpropaganda in unserem Sinne betreibt. Haben wir ihre Adresse, falls ihre Voraussage sich als richtig erweisen sollte?“

„Ja, haben wir. Man hat Julia am Eingang zum Buffet abgefangen und Ihre Adresse aufgenommen.“

Kou war mit dem Verlauf der Konferenz sehr zufrieden. Entspannt lächelte er.

*****

„Und, hast du dich über Chiyo erkundigt?“, wollte Kazumi wissen. Es war die letzte Pause vor Schulschluss und das Mädchen hatte Takeo und Chizuru am Teich gesehen und war zu ihnen gegangen.

„Ja, habe ich. Ich habe ein paar andere Schüler gefragt. Sie klangen so, als würden sie nicht einmal zu ihr kommen, wenn sie im Zoo in einem Käfig sitzen würde.“

Kazumi lachte. „Ja, das kann ich mir denken. Ich habe auch nicht gerade die besten Erfahrungen mit ihr gemacht. Man kommt ziemlich schnell dahinter, was für ein Luder sie ist, wenn man sie erst einmal näher kennt. Aber dann ist es meist schon zu spät.“

„Ich werde trotzdem zur heutigen Verabredung gehen, damit ich mir selber ein Bild machen kann.“

„Lass dich nicht von ihr einwickeln, das kann sie nämlich sehr gut“, warnte Chizuru.

„Keine Sorge, ich habe alles im Griff.“

„Dann pass nur auf, dass du nicht los lässt“, sagte Tetsuya, der sich mit seinem Bruder dem Trio genähert hatte.

„Hat Chiyo auch schon mal versucht, sich an einen von euch heranzumachen?“, wollte Takeo wissen.

Mit entsetztem Gesicht glotzte Makoto den Schüler an. „Bist du irre? Wir sind schon krank genug. Willst du, dass sich das noch verschlimmert?“

„Ach“, erwiderte Tetsuya gelassen, „ich würde es schon toll finden, wenn ich ihr Freund werden könnte. Ich könnte mit kleinen Geschenken ihre Liebe zu mir vertiefen. Man könnte ihr zum Beispiel Klebstoff in die Jackentaschen füllen.“

„Oder die Ärmel ihrer Jacke zunähen“, ergänzte Makoto.

„Oder ihr, wenn sie schläft, die Haare abschneiden.“

„Aber nicht alle“, sagte Makoto.

„Nein, zwei Millimeter lassen wir stehen.“

„Wir haben sie vorhin gesehen, als sie mit ihrer Busenfreundin zusammen stand und die beiden getuschelt haben. Irgend etwas haben sie vor. Und es würde mich nicht wundern, wenn das wieder einen Jungen betrifft. Ein anderes Thema gibt es bei Chiyo ja gar nicht.“

„Das kann sein“, bestätigte Takeo. „Ich glaube, ich weiß sogar, wer der Junge ist, auf den sie es als nächstes abgesehen hat.“

Tetsuya begriff sofort. „Das ging ja ziemlich schnell. Aber es überrascht mich nicht. Chiyo ist jemand, die sich nie lange Zeit lässt. Und sie geht ziemlich raffiniert vor. Lass dich von ihr nicht täuschen. Alles, was sie tut, ist nur Fassade und Mittel zum Zweck.“

„Ich bin schon groß und kann auf mich aufpassen.“

„Zum Glück weiß sie das nicht. Hoffentlich bleibt es auch so.“

„Was machst du heute, während ich meinem Schicksal mutig entgegentrete?“, wollte der Junge von seiner Mitschülerin wissen.

„Ich weiß noch nicht. Vielleicht lese ich ein bisschen.“

„Heute? Du triffst dich heute mit Chiyo?“, fragte Makoto und Takeo nickte.

Tetsuya wandte sich Chizuru zu und feixte: „Du könntest doch mitgehen.“

„Danke, ich habe heute schon gekotzt.“

„Falls euch der Gesprächsstoff ausgeht, dann könnten wir dir mit ein paar Vorschlägen aushelfen“, grinste Makoto. „Du könntest dich beispielsweise mit ihr über Stofftiere unterhalten. Das ist ihr großes Spezialgebiet.“

„Oder über Handarbeiten. Chiyo ist geradezu verrückt auf Handarbeiten.“

„Vom Gartenbau versteht sie auch sehr viel. Plaudere doch mal mit ihr über den Anbau von Erdbeeren. Da kann sie dir sicher noch den einen oder anderen Tipp geben.“

„Zu freundlich von euch“, sagte Takeo. „Aber überlasst mir einfach alles, okay? Ich habe mir Warnungen über sie angehört, ich kenne jetzt ihr Verhaltensmuster. Aber ich habe sie selbst nie live erlebt. Und darauf kommt es mir an. Ich will mir selber eine Meinung bilden.“

„Dann gehe in einen ordentlichen Horrorfilm“, schlug Tetsuya vor. „Der kommt zwar nicht ansatzweise an Chiyo heran, aber wenigstens hast du schon mal einen ersten Eindruck.“

„Ich verspreche euch, dass ich mich in acht nehmen werde. Und ich werde euch dann morgen erzählen, wie es gewesen ist.“

„Dafür wäre ich sogar bereit, Eintritt zu bezahlen“, lachte Makoto.

*****

Der große Moment war gekommen. Um ganz sicherzugehen, hatte Chiyo vor dem Eisentor auf Takeo gewartet. Es hätte ja sein können, dass er ihre Verabredung vergessen hatte. Bei Jungs konnte man nie wissen. Manchmal hatten sie ein Gedächtnis von zwölf bis Mittag. Daher half Chiyo lieber ein wenig nach, damit auch wirklich gar nichts schief gehen konnte.

Aber es hatte alles ohne Probleme geklappt. Ihre neue Beute war pünktlich aus dem Unterricht gekommen und in Begleitung dieses Dummchens gewesen. Vor dem Tor hatte er sich von ihr verabschiedet und dann waren sie beide in Richtung Schülercafé aufgebrochen. Chiyo hatte ihrer Rivalin angesehen, dass sie nicht gerade begeistert darüber war, dass der Junge mit ihr wegging, aber das kümmerte sie wenig. Wenn sie damit ein Problem hatte, sollte sie sich halt einen anderen Jungen suchen, bei dem sie sich trösten konnte. Das würde sie sowieso ziemlich bald tun müssen, da der gut aussehende Schüler ihr bald nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Nach dem heutigen Nachmittag würde er nur noch Augen für sie, Chiyo, haben, dafür würde sie schon sorgen.

Auf dem Weg zum Schülercafé sagte Chiyo: „Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt.“

„Takeo.“

„Schöner Name. Kommst du aus Japan?“

„Ich habe zwei Jahre dort gelebt. Aber an die kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Dann sind meine Eltern nach Amerika gegangen.“

„Ich habe schon immer in Amerika gelebt, obwohl meine Eltern Japaner sind. Sie sind vor ungefähr 25 Jahren hierher gekommen, da war ich aber noch gar nicht geboren. Ich will unbedingt irgendwann mal nach Japan. Wie ist es da? Fliegst du ab und zu mal rüber?“

„Ja, alle zwei Jahre bin ich für zwei Wochen drüben. Es ist dort sehr voll. Die Straßen sind vollgestopft mit Menschen. Na ja, zumindest da, wo ich gewohnt habe. Es gibt sicher auch Ausnahmen.“

„Wo kommst du her?“

„Aus Kitamoto, das ist nördlich von Tokyo.“

Sie unterhielten sich noch ein wenig über Japan, dann hatten sie das Café erreicht. Gegen den bisherigen Smalltalk hatte Takeo nichts einzuwenden. Aber er passte dennoch auf wie ein Schießhund.

Sie bestellten Kuchen und Tee

„Hast du jetzt erst mit der Schule angefangen?“, wollte Chiyo wissen. „Ich habe dich vorher nie auf der Carlton Jouchi Daigaku gesehen.“

„Ja, wir sind erst vor kurzem hierher gezogen. Wie lange gehst du schon auf die Schule?“

„Seit vier Jahren.“

„Und wie ist sie so? Ich bin ja erst seit letzter Woche hier, aber was ich bisher gesehen habe, gefällt mir eigentlich ganz gut.“

„Abgesehen vom Unterricht, was?“ Chiyo lachte laut. Takeo verzog nur das Gesicht.

Nachdem sich Chiyo wieder beruhigt hatte, sagte sie: „Weißt du, der Unterricht wird im Laufe der Zeit anspruchsvoller und somit besser.  In der ersten Klasse ist alles noch ein bisschen lasch. Aber das wird schon. Und die Schule ist auch ganz in Ordnung. Das Mittagessen schmeckt wirklich gut, aber das wirst du ja schon gemerkt haben. Das einzig negative an der ganzen Schule sind ihre hohlen Besucher.“

„Die ich sicher auch noch kennenlernen werde“, vermutete Takeo.

„Bestimmt.“

„Was machst du denn so, wenn du nicht gerade zur Schule gehst?“, wollte Takeo wissen.

Mit dieser Frage hatte er bei Chiyo genau ins Schwarze getroffen. Wenn sie über sich reden konnte, was sie voll in ihrem Element. Sie erzählte von ihren Hobbys und von ihren Eltern, von deren Beruf und davon, dass sie nach der Schule häufig alleine zu Hause war. Am Wochenende ließ sie aber ordentlich die Kuh fliegen, wie sie sich ausdrückte. Das gesamte Wochenende war sie fast pausenlos irgendwo unterwegs. In der Disco im Nachbarort, im Kino, bei Freundinnen, in Kneipen oder auf Partys.

„Was ist denn mit dir? Womit beschäftigst du dich in deiner Freizeit?“, fragte sie zurück, nachdem sie ihm fast ihr ganzes Leben erzählt hatte.

„Ich baue Modelle zusammen. Flugzeuge, Eisenbahnen, Schiffe und so Sachen.“

Sie fing schallend an zu lachen. „Was für eine unglaubliche Zeitverschwendung.“

Takeo kniff die Augen zusammen. Jetzt erst wurde Chiyo bewusst, was sie gesagt hatte und sie versuchte  eine schwache Rechtfertigung.

„Ich meine, für jemand, der sich nicht dafür interessiert, ist es Zeitverschwendung.“ Selbst in ihren Ohren hörte sich die Erklärung recht lahm an. Sie wechselte schnell das Thema und fragte den Jungen, was er an den Wochenenden machen würde.

„Nichts besonderes. Ich bin ja gerade erst hierher gezogen. Ich weiß noch nicht, was hier in der Gegend los ist, das muss ich erst herausfinden.“

„Dabei könnte ich dir behilflich sein“, meinte Chiyo lächelnd. „Ich kenne mich hier gut aus und kenne allerhand Plätze, wo etwas los ist.“

„Klar, du wohnst ja auch schon lange genug hier.“

Sie beugte sich zu ihm herüber und legte ihre Hand auf seinen Arm. „Du bist wirklich total nett“, meinte das Mädchen. „Vielleicht könnten wir öfter mal etwas zusammen unternehmen.“

Das fehlte gerade noch, dachte Takeo, der Chiyo jetzt schon total unsympathisch fand. Mit ihrer Abwertung seines Hobbys hatte sie sich selbst schon mal den dicksten Schuss ins Knie verpasst. Und diese absolut plumpe und durchschaubare Anmache gefiel ihm ebenfalls überhaupt nicht. Außerdem war sie absolut nicht sein Typ. Er würde mit ihr zusammen nicht mal Origamitiere falten.

„Bist du immer so schnell?“, fragte Takeo und zog seinen Arm weg. „Du weißt doch kaum etwas von mir.“

„Ich weiß, dass du gut aussiehst und dass du einiges im Hirn hast. Und damit stichst du schon mal achtzig Prozent deiner Spezies aus.“ Sie grinste ihn an.

„Danke für das Kompliment. Was ist eigentlich mit dir?“

Chiyo war sichtlich verblüfft. „Was soll mit mir sein?“

„Über dich hört man eine ganze Menge. Das meiste sind Sachen, die dich nicht gerade sehr gut dastehen lassen.“

„Von wem?“, wollte Chiyo wissen.

„Ach, von verschiedenen Leuten“, antwortete Takeo ausweichend.

„Weißt du, die Leute reden sehr gerne über einen, weil ihr eigenes Leben nämlich nicht interessant genug ist. Da erfinden sie dann gerne irgendwelche Sachen und erzählen den Leuten irgendwelche Märchen, an denen kein Wort wahr ist.“

„Du meinst also, dass zwanzig Personen, die unabhängig voneinander über dich genau das gleiche sagen, sich das ganze nur aus den Fingern gesogen haben?“ Takeo hatt sich die Zahl zwanzig gerade ausgedacht, aber vielleicht konnte man Chiyo ja damit beeindrucken. Einen Versuch war es wert.

„Was erzählt man denn über mich?“

„Ach, dass du unglaublichen Erfolg bei Jungs hättest. Und dass manche Mädchen gerne wären wie du, eben wegen deines Erfolges. Sie finden es total klasse, wie du bei Jungen ankommst und wünschen sich, sie könnten das auch.“

„Ach, wirklich?“

„Ja“, bestätigte Takeo und nahm einen Schluck von seinem Tee. „Aber das ist ja sowieso nur gelogen.“

Chiyo begriff, dass sie sich ein Eigentor geschossen hatte, denn natürlich hatte sie damit gerechnet, dass Takeo schlechte Dinge über sie gehört hatte. Dass er noch vor kurzem erwähnt hatte, dass sie bei den Sachen, die man ihm erzählt hatte, nicht gut weg kam, hatte sie schon wieder vergessen.

„Nun ja, natürlich ist nicht alles gelogen. Einige Sachen stimmen selbstverständlich“, rechtfertigte sie sich breit lächelnd.

„Genau, und sicherlich sind das nur die Erzählungen, die dich in einem guten Licht stehen lassen. Alles klar, ich habe schon verstanden.“

Takeo stand auf und sie blickte den Jungen ungläubig an. Was war denn jetzt passiert?

„Weißt du was? Bei mir brauchst du dich gar nicht anzustrengen. Aus uns beiden wird nichts. Suche dir jemand anderen, du landest ja so viele Volltreffer. Da wird es dir auch nicht schwerfallen, jemanden zu finden, der auf dich hereinfällt. Außerdem gefällt mir jemand anderes aus meiner Klasse viel besser.“

Takeo schulterte seinen Rucksack.

„Schönen Abend noch. Und danke für die Einladung. Der Tee war sehr gut.“

Der siebzehnjährige Junge verließ das Café und zurück blieb eine völlig verdatterte Chiyo, die überhaupt nicht begriff, was gerade falsch gelaufen war. Und als sich die Verwirrung gelegt hatte, bebte sie vor Wut und hätte am liebsten die gesamte Inneneinrichtung  zertrümmert.

*****

Takeo war froh, als er wieder zu Hause war. Er hatte schon heute morgen dem Chauffeur Bescheid gesagt, dass dieser doch bitte eine halbe Stunde nach Schulschluss kommen möge. Der Schüler hatte sich schon gedacht, dass die Verweildauer im Café nicht allzu lang sein würde. Nun war Takeo wieder zurück zur Schule gelaufen, wo der Wagen bereits auf ihn gewartet hatte.

Der Junge wusste, dass seine Mutter den ganzen Tag im Arbeitszimmer gesessen und an ihrem neuen Fortsetzungsroman gearbeitet hatte. Also ging er geradewegs zu ihr.

„Hast du Dad im Fernsehen gesehen?“, erkundigte er sich.

„Nein, aber wir haben es aufgezeichnet und schauen es uns alle zusammen an, wenn er wieder da ist. Das wird heute allerdings ziemlich spät werden. Wir müssen es dann auf einen der nächsten Abende verschieben.“

„Macht nichts“, sagte Takeo, der unheimlich stolz auf seinen Vater war. Es war wirklich nicht schlimm, wenn er heute abend die Pressekonferenz nicht sehen konnte. Wichtig war für ihn nur, dass die ganze Familie dieses Ereignis genoss. Takeo war ein Familienmensch und gemeinsame Unternehmungen oder Mahlzeiten hatten für ihn einen hohen Stellenwert.

Er ging nach oben in sein Zimmer, machte sich an seine Hausaufgaben und versuchte dabei, nicht an Chiyo zu denken, was gar nicht so einfach war. Ihrem Verhalten nach zu urteilen konnte sich Takeo vorstellen, dass sie tatsächlich jemand war, der Jungs nur dazu benutzte, um mit ihnen angeben zu können. Von wirklicher Liebe und echten Gefühlen einem Jungen gegenüber hatte sie wohl noch nie etwas gehört. Takeo war froh, dass er das Café schnell wieder verlassen hatte.

Nach einer Weile wurde an seiner Zimmertür geklopft.

„Herein“, sagte er.

„Die Tür öffnete sich und Hiru trat ein, um ihn an das Abendessen zu erinnern. Der Junge legte seinen Stift auf den Tisch und stand auf.

„Dürfte ich vorher noch kurz mit dir reden?“, fragte der Majordomus.

Takeo kramte in seinen Gedanken, ob es etwas gäbe,  wovon er etwas wusste und dass für Hiru Anlass sein konnte, mit ihm zu sprechen, aber er fand nichts. Also nickte er nur.

„Hier gehen in letzter Zeit merkwürdige Dinge vor. Du erhältst einen Anruf, doch der Anrufer legt einfach auf, wenn du dich meldest. Und heute hat wieder jemand angerufen. Jemand namens Joseph. Die Stimme klang ziemlich jung. Und als ich Joseph zu deiner Mutter durchstellte, hat er einen merkwürdigen Satz gesagt.“

Der Schüler blickte Hiru an. „Ich kenne niemanden, der Joseph heißt. Und schon gar nicht hier. Aber auch früher nicht. Ich hatte nie mit einem Joseph zu tun.“

„Vielleicht ein Klassenkamerad aus einer früheren Schule“, mutmaßte Hiru.

Takeo überlegte und schüttelte dann den Kopf. „Nein, ich kann mich an niemanden erinnern, der so heißt. Was hat er denn merkwürdiges gesagt?“

„Er sagte, er freue sich, dass du bald bei ihnen wärst oder so ähnlich.“

„Bei ihnen?“, echote Takeo und jetzt sah er wirklich verwirrt aus. „Bei wem?“

„Keine Ahnung.“ Hiru zuckte mit den Schultern. „Aber es ist alles sehr sonderbar.“

„Ich weiß auch nicht, was das bedeuten soll. Vor allem kann ich mir nicht erklären, woher diese Typen unsere Telefonnummer haben. Vielleicht sind es nur wahnsinnige Witzbolde.“

„Vielleicht“, überlegte der Majordomus. „Das würde aber immer noch nicht erklären, wie sie an unsere Nummer gekommen sind.“

Die beiden sagten eine Weile nichts. Dann meinte Hiru: „Soll ich vielleicht Nachforschungen anstellen, um herauszufinden, was es mit diesen mysteriösen Anrufen auf sich hat?“

Takeo dachte nach. Das wäre eine Möglichkeit, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Aber vielleicht waren es wirklich nur üble Streiche von Kindern, die sich nichts dabei dachten. Und wenn dem so war, wollte Takeo auf keinen Fall die Pferde scheu machen.

„Nein, ich schlage vor, wir warten erst einmal ab. Wenn das noch häufiger vorkommt, können wir immer noch etwas unternehmen.“

„Wie du meinst. Jetzt solltest du aber deine Mutter nicht länger mit dem Essen warten lassen.“

Der Schüler merkte plötzlich, wie hungrig er war. Er hatte im Café nur ein bisschen von seinem Kuchen gegessen und hoffte, dass es etwas anständiges zum Abendessen geben würde. Und er wurde nicht enttäuscht. Als er das Esszimmer betrat, stand ein Topf dampfendes Chili auf dem Tisch, daneben befand sich ein Brotkorb.

Takeo setzte sich an den Tisch und häufte sich den Teller voll. Als er eine Weile gegessen hatte, fragte seine Mutter: „Kennst du einen Joseph?“

„Nein“, sagte er kauend. Dann überlegte er, ob er seiner Mutter erzählen sollte, dass Hiru ihm diese Frage auch schon gestellt hatte, aber er ließ es. Vielleicht wollte seine Mutter ihm selbst die telefonische Belästigung mitteilen.

„Ein Joseph hat heute hier angerufen und wollte dich sprechen. Er meinte, ich solle dir ausrichten, dass sie sich freuen würden, dich bald bei sich zu haben.“

„Wer?“, fragte Takeo erneut.

„Das hat er nicht gesagt.“

„Vielleicht war es jemand aus meiner neuen Schule, der sich nur einen Witz erlaubt hat. Ich finde das zwar nicht sehr amüsant, aber manche Teenies sind eben ein bisschen schräg.“

„Mmhmm“, machte seine Mutter, aber es war offensichtlich, dass sie von dieser Erklärung alles andere als überzeugt war. Takeo beschloss, Augen und Ohren offenzuhalten.

*****

Den ganzen Weg über war Haruka schrecklich nervös gewesen. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde und das machte ihr am meisten zu schaffen. Kazuki war zwar bei ihr und beteuerte unablässig, dass ihr gar nichts Schlimmes passieren könne. Wenn Nobu vor hätte, ihr etwas anzutun, dann würde er das sicher nicht machen, wenn Zeugen dabei waren. Haruka versuchte, diese Beruhigung nachzuvollziehen und zu verinnerlichen, aber irgendwie gelang ihr das nicht.

Den ganzen Schultag über war sie fahrig und unkonzentriert gewesen und ihre Gedanken hatten sich nur um den heutigen Abend gedreht. Sie hatte sich allerlei Dinge ausgemalt, die auf dem Parkplatz mit ihr passieren würden. Doch diese Mutmaßungen hatten sie keinen Schritt weiter gebracht,, sondern nur noch unruhiger werden lassen.

„Es bringt doch nichts“, hatte Kazuki ihr erklärt. „Du wirst erst wissen, was dich erwartet, wenn du da bist. Also hör auf, dir Gedanken zu machen.“

Und sie hatte sich noch mehr Gedanken gemacht.

Jetzt waren die beiden Schüler beim verlassenen Parkplatz des ehemaligen Einkaufszentrums angekommen. Bis vor einem halben Jahr hatte man hier noch Waren erwerben können, dann hatte das Zentrum geschlossen und war an den Rand des Ortes umgezogen. Seither stand das Gebäude leer und offenbar fühlte sich keiner dafür zuständig. Es war kaum zu glauben, dass bisher nur zwei Fensterscheiben eingeworfen worden waren, aber das Gerücht, dass die Polizei zivile Beamte zur Bewachung in das Zentrum geschleust hatte, hielt sich hartnäckig. Aus diesem Grund waren Randalierer vorsichtig geworden, denn beim Zertrümmern der Fenster waren die verursachenden Jugendlichen tatsächlich von unbekannten Männern, die sich im Inneren des Gebäudes aufgehalten hatten, festgehalten und der Polizei übergeben worden.

Und hier wollte sich Nobu mit ihr treffen. Wie er selbst gesagt hatte, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Doch war es wirklich das, was er geplant hatte oder gab es da noch etwas anderes, womöglich etwas, was ihr absolut nicht gefallen würde?

„Hallo Haruka“, ertönte die Stimme Nobus und dann sah sie ihn. Er war hinter dem Gebäude hervor gekommen und ging langsam auf sie zu. Kazuki erblickte er als nächstes und nickte ihm zu.

„Du hast jemanden mitgebracht?“, stellte Nobu die rhetorische Frage.

„Ja, ich …“ Haruka verstummte.

„Sie wusste nicht, was sie erwartet und hat mich deshalb gebeten, mit ihr zu kommen“, beendete Kazuki den Satz. „Ist das in Ordnung. Darf ich hierbleiben. Als seelische Unterstützung?“

„Natürlich. Ich habe nichts dagegen. Ich bin Nobu.“ Er streckte Harukas Begleiter die Hand entgegen, die dieser zögernd ergriff.

„Kazuki. Wir haben uns gefragt, was du hier wohl vor hast. Und wieso gerade an diesem Platz. Der kann nämlich nachts ziemlich gruselig sein.“

„Das kann ich euch erklären“, sagte Nobu und wandte sich an das schüchterne Mädchen. „Du bist hier, weil ich dir helfen möchte, zu erkennen, dass es auf dem Gefäß deines Lebens keinen Deckel gibt. Ich biete dir an, stärker zu werden. Nicht im körperlichen Sinne, sondern insofern, dass du nicht alles über dich ergehen lässt, sondern auch mal ohne Furcht zu verspüren die Stimme erhebst, wenn dir etwas nicht passt. Das kannst du nämlich, auch wenn du es jetzt noch nicht weißt.
Wenn du dazu bereit bist, zuzulassen, dass du dich mehr traust als bisher, dann werde ich dich gerne weiter unterstützen. Du kannst es dir ja nach dem heutigen Abend überlegen. Keine Angst, ich verlange nichts unmögliches von dir. Heute möchte ich etwas von dir, was gar keine große Schwierigkeit ist, weil alle Menschen dazu in der Lage sind, das zu tun. Dir wird es vielleicht Schwierigkeiten bereiten, aber wenn wir das heute meistern, dann sind wir einen enormen Schritt weiter.
Kannst du schreien?“

Haruka stutzte. Was war denn das für eine Frage?

„Klar“, sagte sie überzeugt.

„Gut, dann schrei“, forderte Nobu sie auf.

Haruka sah sich unsicher nach allen Seiten um. „Hier?“, fragte sie.

„Ja, genau hier. Keine Angst, es kann dich niemand hören. Es muss dir auch nicht peinlich sein. Schrei einfach irgendetwas heraus. Das kann ein Ärgernis sein oder eine Beschwerde oder ein Freudenschrei oder auch nur ein ganz einfacher Schrei. Aber ich möchte gerne von dir einen Schrei hören.“

Haruka lächelte verkrampft. Das war doch wirklich zu albern. Natürlich konnte sie schreien, aber warum musste sie das auf Kommando tun? Und dann noch hier auf diesem Parkplatz? Überhaupt gab es gar keinen Grund zum Schreien. Sie würde sich nur lächerlich machen. Und was sollte überhaupt Kazuki von ihr denken, wenn sie plötzlich ohne jede Veranlassung anfangen würde zu schreien?

„Lasse dir ruhig Zeit. Schrei erst, wenn du soweit bist.“

„Das ist ja lächerlich“, lachte sie nervös. „Ich habe gar keinen Grund zum Schreien.“

„Den werde ich dir auch nicht geben, denn sonst würdest du dich entschließen, nicht zu schreien“, lächelte Nobu sie an. „Deshalb sollst du ja auch einfach so schreien. Und bitte ordentlich. Soll ich es dir vormachen?“

Haruka hatte keinen Schimmer, was das ganze sollte. Dadurch, dass sie in der Gegend herumbrüllte, würde sie garantiert kein Selbstvertrauen gewinnen, sondern sich nur zum Affen machen. Und das konnte sie nicht auch noch gebrauchen.

Nobu wartete eine ganze Weile  und als Haruka immer noch keine Anstalten machte, seiner Aufforderung Folge  zu leisten, brüllte der Schüler in voller Lautstärke: „Hamburger mit Pommes!“

Haruka und Kazuki waren zusammengezuckt, als der Schrei ertönt war.

„Was war das denn?“, wollte Kazuki wissen.

„Ich schreie nur gerade meine Lieblingsgerichte durch die Gegend“, antwortete Nobu. „Möchtest du vielleicht auch mitmachen? Suche dir einfach etwas aus, das du gerne isst und schrei es raus.“

„Nein, danke“, wehrte Kazuki lachend ab, weil auch er das ganze ein wenig peinlich fand.

„Warum denn nicht? Das macht total Spaß und baut Stress ab. Probiere es einfach. Mache es genau wie ich.“

Und im nächsten Moment hallte von Nobu der Ruf „Käsekuchen“ über den Parkplatz. Haruka rechnete mit dem Schlimmsten, aber nirgendwo wurden Fenster aufgerissen oder ihnen gesagt, dass sie gefälligst ein wenig leiser sein sollten. Niemand kümmerte sich um sie.

Der dritte Schrei von Nobu lautete: „Himbeermarmelade!“

Jetzt fasste sich auch Kazuki ein Herz und schrie: „Marzipanschokolade!“

„Hey, das war gar nicht schlecht“, lobte Nobu ihn.

Kazuki grinste, stupste Haruka an und sagte zu ihr: „Das ist total lustig. Komm, mach mit.“

Die Schülerin lächelte scheu.

„Gummibärchen!“ hörte man den Schrei von Nobu durch die Nacht.

„Salamipizza!“ antwortet Kazuki.

„Spaghetti!“

„Tabasco!“

Nobu glotzte Kazuki an, als käme er direkt vom Mars. „Tabasco?“, fragte er ungläubig.

Kazuki brach in schallendes Gelächter aus und kurze Zeit später stimmte Nobu mit ein. Die Jungen konnten sich überhaupt nicht wieder beruhigen. Und Haruka konnte nicht anders, als automatisch mitzulachen. Die beiden Jungs waren wie kleine Kinder und es störte sie ganz und gar nicht. Sie hatten jede Menge Spaß. Vielleicht war es ja doch einen Versuch wert.

„Na gut. Tabasco. Einverstanden“, sagte Nobu, als sie sich wieder beruhigt hatten. „Rührei!“

„Truthahn!“

„Sushi!“, rief Haruka zaghaft.

„Das glaube ich dir nie im Leben, dass du nicht lauter schreien kannst“, meinte Nobu und tat so, als sei es vollkommen normal, dass Haruka sich an der Schreierei beteiligte. „Nimm dir mal ein Beispiel an mir. Rinderbraten!“

„Kartoffelbrei!“

„Toastbrot!“, schrie Haruka aus Leibeskräften.

„Na also, geht doch“, meinte Nobu. „Chili!“

„Brathähnchen!“

„Broccoli!“, brüllte Haruka und setzte sofort in normaler Lautstärke hinzu. „Wir sind doch total krank.“

„Fieberzäpfchen“, schrie Kazuki.

Nobu verzog angeekelt das Gesicht. „Du isst Fieberzäpfchen?“

„Warum denn nicht? Wenn du sie nicht magst, kannst du sie dir ja in den Hintern schieben.“

Ein erneuter hysterischer Lachanfall aller drei Schüler erfolgte. Dann warfen sie sich weiter Wörter von Esswaren um die Ohren, die später in allgemeine Gegenstände übergingen. Nobu war froh, dass es ihm gelungen war, Haruka spielerisch aus der Reserve zu locken. Der heutige Abend sollte sehr locker für sie sein. Denn wenn sie sich entscheiden sollte, mit dem Training fortfahren zu wollen, dann würden die kommenden Übungen nicht mehr so lustig für sie werden.

*****

„Und … und dann … dann ist er einfach aufgestanden … und gegangen. Einfach so.“

Chiyo war so wütend, dass sie kaum sprechen konnte. Nachdem Takeo so unerwartet aus dem Schülercafé verschwunden war, war sie eine ganze Weile verdutzt sitzen geblieben und hatte sich gefragt, was sie wohl falsch gemacht hatte. Auf dem Weg zu ihrem Verabredungsort hatten sie sich so toll unterhalten. Der Anfang war grandios gelaufen. Und dann schien irgend etwas das Blatt gewendet zu haben.

Die Schülerin war in Gedanken noch einmal das ganze Gespräch durchgegangen, aber sie hatte nichts finden können, mit dem sie Takeo gegen sich aufgebracht haben konnte. Später war anstelle ihrer Verwirrung dann unbändiger Zorn getreten. Sie hatte wütend fünf Dollar auf den Tisch geworfen und das Café verlassen. Auf dem ganzen Heimweg bebte sie. Ein paar Male hatte sie in ihrer Wut gegen Straßenlaternen getreten und einen kleinen Jungen, der sie dabei beobachtet hatte, hatte sie angeschrieen, dass er nicht so blöd glotzen, sondern sich um seinen eigenen Dreck kümmern sollte, worauf der Boy weinend die Flucht angetreten hatte. Diese Begegnung hatte für ein paar Sekunden ihre Laune gehoben. Dann aber war wieder der alte Frust zum Vorschein gekommen.

Sie hatte einfach mit jemandem reden müssen, also hatte sie ihre beste Freundin Inu angerufen und ihr alles erzählt. Besser fühlte sie sich dadurch allerdings nicht.

„Und was willst du jetzt machen? Gibst du auf?“

„Aufgeben?“, kreischte Chiyo fassungslos. „Wenn du jetzt bei mir wärst, würde ich dir für diese Frage eine reinhauen. Natürlich gebe ich nicht auf.“

„Takeo hat dir aber doch deutlich gesagt, dass er nichts von dir will.“

„Und du denkst, das interessiert mich?  Das meint er doch nicht ernst. Er erzählt doch nur das, was andere Leute ihm einflüstern. Er kennt mich ja überhaupt nicht, sondern plappert nur etwas nach, was er von anderen aufgeschnappt hat.“

„Was hast du denn jetzt vor?“, wollte Inu wissen.

„Na, am Ball bleiben, was sonst? Ich werde garantiert nicht klein beigeben.“

Chiyo überlegte kurz, dann fiel ihr etwas aus dem Gespräch mit Takeo ein.

„Er hat gesagt, dass es jemand anderes aus seiner Klasse gibt, der ihm viel besser gefällt“, sagte sie nachdenklich. „Und da ich nicht annehme, dass er schwul ist, muss es sich dabei um ein Mädchen handeln. Das ist bestimmt die Tussi, mit der ich ihn neulich im Café gesehen habe. Ich muss mir etwas überlegen.“

„Und was?“

„Keine Ahnung. Er wird sich vielleicht wieder mit ihr verabreden. Und diesen Zeitpunkt muss ich irgendwie abpassen. Ich muss herauskriegen, wann sich die beiden wieder wo treffen. Also sollte ich sie ständig im Auge behalten.“

„Hast du wenigstens etwas von ihm erfahren, dass du später gegen ihn einsetzen kannst?“, erkundigte sich Inu.

„Nein, nicht viel. Aber vielleicht kann ich das wenige, das ich weiß, ja noch ausbauen.“

Die beiden Mädchen schwiegen eine Weile, bis Chiyo plötzlich sagte: „Inu, pass auf, wir sehen uns morgen in der Schule. Ich muss jetzt Schluss machen und über ein paar Sachen nachdenken.“

Sie verabschiedeten sich, Chiyo legte den Telefonhörer auf und blieb noch eine Weile nachdenklich sitzen. Viel würde sie über Takeo wohl nicht mehr herausbekommen, befürchtete sie. Jedenfalls nicht mit seiner Hilfe. Also musste sie mit den wenigen Infos, die sie bis jetzt von ihm erhalten hatte, arbeiten. Notfalls musste sie halt einige Dinge erfinden, mit denen sie ihn erpressen konnte.

Bisher hatte die Schülerin die Erpressungen immer erst dann gestartet, wenn sie schon mit Jungs zusammen war. Aber bestimmt konnte man durch diese Methode einen Jungen auch dazu zwingen, ihr Freund zu werden. Versuchen konnte man es ja einmal.



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