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Kommentare zu "Der neue Schüler"

Gespannt sah Takeo aus dem Beifahrerfenster des Honda, den seine Mutter vor der Carlton Jouchi Daigaku zum Stehen brachte. Der Blick des siebzehnjährigen Jungen fiel auf ein vierstöckiges Gebäude. Hinter einem Eisentor, über das in einem Bogen der Name der Lehranstalt mit großen Buchstaben geschrieben war, führte ein Weg auf das Schulgebäude zu, der von beiden Seiten von hohen Hecken begrenzt wurde. Am Ende dieses Weges musste man sechs Treppenstufen erklimmen, bevor man durch die schwere hölzerne Eingangstür treten konnte.

Takeo seufzte laut, was von einem Lächeln seiner Mutter quittiert wurde.

„Wir sind da“, bemerkte sie überflüssigerweise.

„Ich merke es“, bekam sie zur Antwort.

Aya drehte sich zu ihrem Sohn um, der keine Anstalten machte, das Auto zu verlassen.

„Am Anfang ist es immer ziemlich schwierig. Aber bestimmt hast du dich in kurzer Zeit zurechtgefunden und neue Freunde bekommen.“

Takeo war sich da nicht so sicher. Seine Begeisterung hielt sich in sehr eng gesteckten Grenzen. Noch immer fragte er sich, warum seine Eltern diese Schule für ihn ausgesucht hatten. Die andere, auf der er vorher gewesen war, war gar nicht so übel gewesen. Hier erwartete ihn alles neu, und das bezog sich nicht nur auf sein Schulleben. Wegen dieser Schule hatten sie umziehen müssen. Gewiss, sie hatten sehr schnell ein ungemein großes Haus gefunden und die Umzugsarbeiten waren schnell über die Bühne gegangen. Sogar ihr gesamtes Personal hatten sie mit nach Carlton genommen. Das neue Domizil war beeindruckend eingerichtet worden.

Der Schüler war nur froh, dass er sich nicht seine ganze Umgebung neu erobern musste, sondern auf bekannte Dinge zurückgreifen konnte. Beispielsweise war es ihm ungeheuer wichtig gewesen, dass seine Eltern nicht das komplette Personal von früher ausgewechselt hatten, sondern die Bediensteten mit in das neue prunkvolle Anwesen gezogen waren. An erster Stelle hatte dabei Hiru bestanden. Mit dem Majordomus der Minamis verband Takeo viel mehr als nur die Verbindung zwischen einem Bediensteten und einem Familienmitglied. Hiru war im Laufe der Jahre zu einem guten Freund von Takeo geworden.

„Du solltest dich auf den Weg machen“, unterbrach Aya seine Gedanken.

Takeo blickte sie an. „Immerhin kann ich nicht zu spät kommen“, sagte er lächelnd, denn er war bereits eine gute halbe Stunde über der Zeit. Unterwegs hatte es einen Verkehrsunfall gegeben, die Straße war gesperrt worden, so dass sie einen Umweg fahren mussten. Noch kannten sie sich in Carlton nicht so gut aus, und seine Mutter hatte sich zweimal verfahren.

Die schwarzhaarige Frau beugte sich vor und küsste ihren Sohn auf die Wange.

„Einen schönen und erfolgreichen ersten Schultag wünsche ich dir. Morgen fährt dich Andrew wieder zur Schule. Und rufe an, wenn du weißt, wann du heute Schluss hast, damit dich jemand abholen kann.“

„In Ordnung“, nickte Takeo, öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Nachdem er sich seinen Rucksack aus dem Inneren des Wagens geangelt hatte, schlug er die Tür zu und blickte seiner Mutter noch einen Augenblick nach, als sie davon fuhr.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Junge holte tief Luft und ging durch das Tor. Mit jedem Schritt wuchs das Schulgebäude vor ihm in die Höhe, als wolle es ihn an die gewaltigen Dinge erinnern, die neu auf ihn zukamen und mit denen er jetzt fertig werden musste. Takeo griff in die Jackentasche seiner dunkelblauen Schuluniform und wurde sofort ruhiger, nachdem er seine Finger um den Gegenstand, der dort normalerweise nicht hineingehörte, geschlossen hatte.

Als der Minami-Sprössling sich gegen die Eingangstür stemmte, wurde diese von innen geöffnet und Takeo fiel mit dem Kopf gegen die Schulter eines mit einem blauen Kittel bekleideten Mannes, der protestierend grunzte. Nachdem sich der Junge wieder gefangen hatte, murmelte er eine Entschuldigung.

„Du bist spät dran“, bemerkte der Fremde.

„Heute ist mein erster Schultag“, entgegnete Takeo, als würde dies seine Verspätung entschuldigen.

„Dann bist du verflucht spät dran“, bekam er zur Antwort. Ganz offensichtlich spielte der Mann auf die Tatsache an, dass das Schuljahr bereits vor einem guten Monat begonnen hatte. Aber für diese Verspätung konnte Takeo am wenigsten. Bei der Organisation des Umzuges hatte sich einiges verzögert. Seine japanischen Eltern hatten sich zwar bemüht, dennoch hatten sie erst in der letzten Woche in der Nähe von Carlton ihr Haus beziehen können. Dem siebzehnjährigen wäre es auch lieber gewesen, wenn er gleich zu Beginn des Schuljahres seine neue Lehranstalt hätte besuchen können, denn immerhin musste er nun einen ganzen Monat Unterrichtsstoff aufholen.

„Ich weiß, Sir.“

Kopfschüttelnd verschwand der Hausmeister durch die Tür. Erneut seufzte Takeo. Das Schulleben hier fing ja sehr eindrucksvoll an. Es konnte eigentlich nur noch schlimmer werden.

Er stieg weitere sechs Stufen hinauf, bis er in einem Gang landete, der sich links und rechts von ihm erstreckte. Vor sich sah er eine große Tür. Wie seine Mutter ihm gesagt hatte, musste er sich nach links wenden. Die zweite Tür auf der rechten Seite würde ihn zum Direktor führen.

Gelbe Wände waren zu beiden Seiten des Ganges zu sehen. Wenn man längere Zeit auf sie starrte, dann entwickelten sich Kopfschmerzen, wie Takeo feststellen musste, deshalb richtete er seinen Blick lieber auf den Fußboden, der mit weißen und schwarzen Kacheln bedeckt war. Am Ende des Ganges befand sich eine Glastür. Wohin sie führte, konnte der Junge von hier aus nicht erkennen.

Auf dem Weg zum Büro des Direktors passierte Takeo auf jeder Seite eine Holztür, die vermutlich in Klassenzimmer endeten. In manchen Dingen unterschieden sich Schulen nie, vollkommen egal, wo sie sich auch befinden mochten.

Dann stand er vor der Tür, die ihn, wie er vermutete, zu seinem ersten ernsten Gespräch führen würde. Mutig entschlossen, sich der Herausforderung zu stellen, hob der asiatisch aussehende Junge die Hand, klopfte und wartete, bis ihn eine weibliche Stimme hinter der Tür zum Eintreten aufforderte.

Takeos Schritte führten ihn in ein Vorzimmer mit einem Schreibtisch, hinter dem eine dunkelhaarige Frau saß, die ihren Kopfwuchs zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Der neue Schüler wusste, dass der Direktor dieser Schule ein Mann war, deshalb schloss der Junge, dass es sich hier um seine Sekretärin handeln musste.

„Guten Morgen, mein Name ist Takeo Minami.“

„Ach ja, Ihr erster Tag. Der Direktor erwartet Sie bereits“, sagte die Sekretärin. Dann beugte sie den Kopf vor, zwinkerte ihm zu und meinte: „Ihr Glück, dass es Ihr erster Tag ist. Da ist er bei Verspätungen nicht ganz so streng.“

„Ich bin von meiner Mutter hergefahren worden und wir hatten einige Schwierigkeiten, den Weg zu finden.“

„Na, jetzt sind Sie ja da. Alles halb so wild.“

Sie drückte auf die Taste einer Sprechanlage und verkündete, dass der neue Schüler eingetroffen sei. Eine verzerrt klingende Stimme forderte sie auf, ihn hereinzuschicken. Die Sekretärin ruckte mit dem Kopf zur Tür, die sich neben ihr in der Wand befand.

„Auf in die Höhle der Ameise“, meinte sie lächelnd. Takeo erwiderte ihr Lächeln und wollte gerade die Tür öffnen, als die Sekretärin leise seinen Namen rief. Er blickte ihr entgegen.

„Willkommen im Chaos. Und keine Angst, so nervös wie ich an meinem ersten Arbeitstag hier können Sie gar nicht sein.“

Dankbar für ihre aufmunternden Worte, die ihm ein ganz kleines bisschen von seiner Aufregung nahmen, trat der neue Schüler in das Büro des Direktors. Von außen hätte er es sich nie so groß vorgestellt. Fast der gesamte Raum war mit Bücherregalen ausstaffiert, die bis zum Bersten mit Lesestoff gefüllt waren. Darunter befanden sich Schul- und Sachbücher zu allen möglichen Bereichen, von der Biologie über Geschichte bis hin zur Quantenmechanik. Es war unmöglich, dass der Mann, der an einem Fenster an der anderen Seite des Raumes stand, diese Bücher alle gelesen hatte.

Glücklicherweise hatte der Direktor Takeo den Rücken zugekehrt, als dieser den Raum betreten hatte, denn der Junge war von der ersten Sekunde an erschlagen und fasziniert von der Fülle dieser Bücher gewesen. Man konnte diesen Raum gut und gerne eher eine Bibliothek als ein Büro nennen, auch wenn bezweifelt werden durfte, dass man sich hier das eine oder andere Buch ausleihen konnte.

Nun drehte sich der Mann am Fenster um. Er mochte um die fünfzig sein, war mit einem schwarzen Anzug bekleidet und etwas kleiner als Takeo. Er war leicht untersetzt. Sein Schädel wurde nur von einem schwarzen Haarkranz umrahmt, der über den Ohren endete. Sofort kam Takeo das Bild eines UFO-Landeplatzes in einem Kornfeld in den Sinn und er musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Was der Direktor an Haaren auf dem Kopf zuwenig hatte, hatte er offenbar versucht in seinem Bart wieder auszugleichen. Dick und schwarz wucherte dieser in seinem Gesicht, sah dabei aber in keiner Weise ungepflegt aus.

Der Mann musterte sein Gegenüber von oben bis unten, ging auf ihn zu und sagte: „Schön, schön, schön. Sie sind also Mister Minami.“

Obwohl es eine Feststellung und keine Frage gewesen war, nickte Takeo. „Ja, Sir.“

„Sie sind etwas spät dran.“

„Ich weiß. Es tut mir leid, Sir. Wir haben uns auf dem Weg hierher verfahren.“

„Dann möchte ich Sie bitten, das bei Ihren zukünftigen Besuchen hier mit einzukalkulieren.“

Takeo schwieg. Was sollte er darauf auch erwidern. So gefesselt er noch vor wenigen Sekunden von den Büchern in diesem Raum war, so unwohl fühlte er sich jetzt nach den wenigen Worten des Direktors. Abermals verstärkte sich sein Eindruck, dass es ihm hier nicht leicht gemacht werden würde.

Der Leiter der Schule streckte ihm die Hand entgegen und Takeo ergriff sie zögernd.

„Mein Name ist Tsubasa Takeshi. Ich bin der Direktor dieser Schule, wie Sie wohl schon geahnt haben. Bitte, setzen Sie sich.“

Takeshi deutete auf einen der beiden Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen. Während der Junge der Aufforderung Folge leistete, nahm der Direktor selber an der anderen Seite Platz. Auf der rechten Seite des Tisches stapelten sich Akten, eine lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Takeo vermutete, dass es sich dabei um seine Akte handelte, denn sie war ziemlich dünn. Der Rest des Tisches bestand aus drei Fotos, die in einen kleinen Ständer eingefasst waren, vielen Stiften unterschiedlicher Farben und einer kleinen Glaskugel, die mit einer gelartigen Flüssigkeit gefüllt war. Der Schreibtisch war voll, wirkte aber nicht unaufgeräumt.

Die beiden Männer blickten sich gegenseitig an und schließlich ergriff Tsubasa das Wort.

„Willkommen in der Carlton Jouchi Daigaku. Normalerweise ziehe ich es vor, mir jeden neuen Schüler vor seinem Schulstart anzusehen und mit ihm zu sprechen, aber bei Ihnen war das leider nicht möglich.
Ihre Eltern haben keine normale Schule für Sie ausgesucht. Hier werden weitaus höhere Anforderungen an Sie gestellt, als sie Ihnen von einer gewöhnlichen Schule bekannt sind. Sie lernen, haben aber auch durchaus komfortable Alternativen, mit denen Sie sich beschäftigen können. Wir haben ein großes Angebot an Büchern und handwerklichen Aktivitäten. An erster Stelle steht jedoch bei uns die Bildung. Und zwar Ihre Bildung. Sie werden hier Ihr Wissen erweitern, selbst wenn Sie das eigentlich gar nicht möchten.
Unsere Schule ist ziemlich groß und ich werde Sie gleich durch die wichtigsten Teile führen, ehe ich Sie zu Ihrem Unterrichtsraum begleiten werde. Natürlich können Sie sich in den ersten Tagen nicht gleich richtig orientieren. Aber fragen Sie nur Ihre Mitschüler, wenn Sie wissen wollen, wo sich was befindet. Sie werden Ihnen sehr gerne unterstützend zur Seite stehen.“

Er machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion, die aus einem verständnisvollen Nicken von Takeo bestand.
„Sie sind spät zu uns gekommen und haben daher Unterrichtsstoff versäumt. In Ihrem eigenen Interesse möchte ich Sie bitten, diesen Stoff so schnell wie möglich nachzuholen, damit Sie nicht den Anschluss verlieren.
Natürlich gibt es auch an dieser Schule einige Regeln. Sie finden Sie in dieser Schulordnung. Außerdem erhalten Sie Kenntnis über Ihren Stundenplan.“

Der glatzköpfige Mann zog eine Schublade auf und entnahm ihr einige Papiere, die er Takeo reichte. Auf der ersten Seite stach dem Jungen sofort die fette Überschrift „Schulordnung“ ins Auge. Doch der Schüler war mehr an seinem Stundenplan interessiert und blätterte bis zur entsprechenden Seite vor. Er starrte auf das Blatt und dieser Schock war bisher der schlimmste. An jedem Tag hatte er von halb neun morgens bis mindestens um fünf Uhr nachmittags Unterricht. Was war das für eine Schule? Waren hier nur Sklaventreiber angestellt, die es lustig fanden, ihren Schülern den gesamten Tag zu versauen?

Als nächstes fielen Takeo die beiden Buchstaben A und B auf, die neben jeder Unterrichtsstunde aufgeführt waren.

„Was bedeuten die beiden Buchstaben?“, erkundigte er sich.

„Wir haben hier zwei Schulgebäude“, bekam er zur Antwort. „Der Teil, in dem wir uns gerade befinden, ist Teil A. Ein baugleiches Gebäude werden Sie gleich auf der anderen Seite zu sehen bekommen. Das ist Teil B. Zwischen diesen Gebäuden befindet sich ein Park. Die kleinen Pausen haben jeweils eine Dauer von zehn Minuten, da es doch etwas dauern kann, bis Sie von einem Gebäude zum nächsten gewechselt sind.“

Noch einmal blickte der Teenager auf den Stundenplan und stellte entsetzt fest, dass der Mittwoch nicht nur der Tag mit den meisten Stunden war, sondern dass er auch in jeder neuen Stunde von Gebäude A zu Gebäude B wechseln musste. Jetzt hatte er den eindeutigen Beweis: das Schicksal war definitiv gegen ihn.

„Die Mittagszeiten betragen eine Stunde. In beiden Gebäuden befindet sich ein großer Speisesaal. Und noch etwas: was hier absolut untersagt ist, sind Alkohol und Drogen. Ebenfalls ist dies eine Nichtraucherschule. In keinem Bereich darf hier geraucht werden, auch nicht im Freien.“

„Ich rauche nicht“, erklärte Takeo.

„Sollten Sie mit Alkohol oder Drogen auf diesem Gelände erwischt werden, so bekommen Sie nicht einmal eine Verwarnung, sondern werden auf der Stelle von der Schule verwiesen. In solchen Dingen verstehen wir hier überhaupt keinen Spaß“, sagte Tsubasa streng.

Und in anderen Dingen, die ich noch herausfinden werde, sicherlich auch nicht, dachte sich der Junge.

„Bevor ich Ihnen etwas von dieser Schule zeige, möchte ich Sie bitten, noch diese beiden Formulare zu unterschreiben. Sie besagen, dass Sie damit einverstanden sind, an dieser Schule unterrichtet zu werden und dass Sie die Schulordnung ausgehändigt bekommen und somit von ihr Kenntnis genommen haben.“

Der Direktor legte zwei Blätter vor Takeo auf den Tisch und hielt ihm einen Kugelschreiber entgegen, an dessen Ende sich ein aus Holz geschnitztes kleines Buch befand. Der Stift sah sehr edel aus. Takeo nahm ihn und setzte seine Unterschrift auf die beiden Seiten, die sein Gegenüber wieder an sich nahm.

Der Schulleiter erhob sich von seinem Stuhl und ging zur Tür. Schnell stand der Teenager ebenfalls auf, schulterte seinen Rucksack und folgte ihm.

„Wir machen einen kleinen Rundgang durch die Schule“, verkündete Tsubasa seiner Sekretärin, die verstehend nickte. Dann verschwanden beide durch die Tür, die vom Vorzimmer zurück auf den Schulgang führte.

„Wir befinden uns hier im Erdgeschoss“, erklärte der Direktor. „Insgesamt hat jedes unserer beiden Gebäude fünf Stockwerke: ein Untergeschoss, das Parterre und drei Obergeschosse.“

Sie gingen den Weg zurück, den Takeo bei seiner Ankunft gegangen war und blieben vor der großen Tür stehen, die sich gegenüber der Einganstreppe befand. Tsubasa drehte sich zu Takeo um und deutete auf die Tür.

„Hier befindet sich unsere Aula. Die Klausuren werden in diesem Raum geschrieben. Zudem finden hier Feierlichkeiten, einige Ansprachen und noch mehr statt. Neben den Klassenzimmern ist dies hier der wichtigste Raum der gesamten Schule. Da hier, wie schon erwähnt, das Schreiben der Klausuren stattfindet, können Sie sich sicherlich denken, dass dieser Raum sehr oft genutzt wird. Nehmen Sie Rücksicht auf Ihre Schulkameraden und lärmen Sie in diesem Bereich nicht herum. Das gilt übrigens im gleichen Bereich ein Stockwerk über uns.“

Ohne auf eine Reaktion von Takeo zu warten, setzte der Direktor seinen Weg fort. Er ging den Gang weiter entlang, bis am Ende auf der linken Seite eine Treppe nach oben und nach unten führte. An dieser blieb er stehen.

„An beiden Enden des Ganges in jedem Stockwerk finden sie eine Treppe. Diese hier und die auf der anderen Seite führen ins Untergeschoss und in den Pausenhof und natürlich in die nächste obere Etage.“

Sie stiegen die Treppe hinauf, machten aber nicht in der ersten Etage Halt, sondern gingen weitere Treppen empor, bis sie in der dritten Etage angelangt waren. Dort wandte sich der Direktor nach rechts und ging den Gang entlang. Takeo folgte ihm. An der Seite in der Mitte des Ganges befand sich eine Tür, genau wie im Erdgeschoss. Doch links und rechts von dieser Tür führte jeweils ein weiterer kleinerer Gang zu einer Treppe, die die beiden Männer hinauf liefen.

Und dann stockte Takeo der Atem. Er konnte kaum glauben, was er sah. Ein großer Glasgang führte von Gebäude A oberhalb des Parks zum Schulgebäude auf der anderen Seite. Zu beiden Seiten befanden sich riesige Fensterfronten, die sich durch den gesamten gläsernen Gang zogen. Der Junge folgte dem Direktor bis in die Mitte dieses Glasganges und blickte dabei aus dem Fenster. Es ging mehrere Stockwerke abwärts, doch unten befand sich ein wunderschön angelegter und gepflegter Park mit einer großen Rasenfläche, auf der mehrere Blumenbeete zu sehen waren. Außerdem gab es ein paar Bäume, Sträucher und Büsche. In der Mitte des Rasens erstreckte sich ein langer Teich mit sauberem Wasser.

Der Anblick war wirklich überwältigend und der Jugendliche konnte sich nicht satt sehen an der mit großer Sorgfalt angelegten Parkanlage.

„Dieser Glasgang verbindet die beiden Schulgebäude miteinander. Natürlich bleibt es Ihnen unbenommen, auch direkt durch den Park zu gehen, um das andere Gebäude zu erreichen. Allerdings kann es zeitsparender sein, diesen Weg zu benutzen. Und in diesem Gang wird nicht gerannt, nicht gedrängelt und es gibt hier keine körperlichen Auseinandersetzungen in welcher Form auch immer. Die Sicherheit der Schüler steht an erster Stelle. Haben Sie das verstanden?“

Der Mann mit dem enormen Bart blickte Takeo streng an.

„Ja, Sir.“

„Gut. Dann handeln Sie auch dementsprechend. Wenn mir irgendwelche Beschwerden zu Ohren kommen über Vorkommnisse, die sich hier in diesem Gang abgespielt haben und an denen Sie beteiligt gewesen sind, dann können Sie sich auf eine Strafarbeit gefasst machen, gegen die das Aufholen des Unterrichtsstoffes, den Sie bisher versäumt haben, wie ein Kinderspiel wirken wird. Und das meine ich genau so, wie ich es gesagt habe.“

Takeo schluckte und erkannte durch die Fenster das Schulgebäude auf der anderen Seite, das genauso imposant wirkte, wie der Teil, aus dem sie gekommen waren.

„Die Stunde, in der Sie jetzt eigentlich sitzen sollten, befindet sich im Gebäude, das vor uns liegt. Sie haben bei Mister Yaki Unterricht. Ich werde Sie jetzt zu Ihrem Klassenraum begleiten. Alles weitere lassen Sie sich bitte von Ihren Mitschülern erklären. In den Unterlagen, die ich Ihnen ausgehändigt habe, befindet sich auch ein Plan der Schule, in dem die sonstigen wichtigen Räume, wie der Erste Hilfe-Raum eingezeichnet sind.“

Damit stapfte der Rektor weiter den Gang entlang, die Treppen hinunter, bis in den ersten Stock. Takeo folgte ihm so, wie ein Hund hinter jemandem herläuft. Vor einer Tür blieb der Schulleiter plötzlich stehen und klopfte an.

Takeo holte tief Luft. Jetzt wurde es wirklich ernst.

*****

Die Anspannung war auf beiden Seiten zu spüren. Die Mitschüler, die ihrem Nachwuchs entgegen blickten, waren voller Neugier. Doch Neugierde war nicht das, was Takeo ausstrahlte. Er war schrecklich nervös und hoffte, die Erwartungen zu erfüllen, die von seiten der Lehrer und seiner Mitschüler an ihn gestellt wurden – auch wenn er noch keine Ahnung hatte, was die Mitschüler eigentlich von ihm erwarteten.

Tsubasa Takeshi hatte mit ihm den Klassenraum betreten, kurz mit dem Lehrer getuschelt und sich dann von Takeo verabschiedet, nachdem er ihm viel Erfolg gewünscht hatte. Und nun stand der Teenager vorne und wurde von neunzehn Augenpaaren angestarrt. Am liebsten wäre er an einer vollkommen anderen Stelle gewesen, aber das konnte er sich nun mal nicht aussuchen.

Lächelnd wandte sich die Lehrkraft ihm zu.

„Hallo. Mein Name ist Yaki und ich bin der arme Kerl, der momentan hier unterrichten darf.“

Gelächter ertönte, doch der neue Schüler war viel zu aufgeregt, um mit einzustimmen. Er verzog nur sein Gesicht zu einem Grinsen. Der Lehrer richtete sich an die Klasse.

„Das ist Takeo, unser neuer Mitschüler. Seid bitte nett zu ihm und macht es ihm hier nicht allzu schwer. Helft ihm, sich hier zurechtzufinden.“

Suchend blickte sich Mister Yaki in der Klasse um, doch der einzige freie Platz befand sich neben einem schwarzhaarigen Mädchen an einem seitlichen Tisch. Genau auf diese Stelle deutete der Lehrer mit seiner Hand.

„Takeo, setzen Sie sich bitte neben Chizuru?“

Der Teenager ging auf den ihm zugewiesenen Platz zu und konnte förmlich die Enttäuschung der Mädchen spüren, die bereits einen Sitznachbarn hatten. Es wurde getuschelt und vereinzelt schnappte Takeo ein paar Worte von Mädchen auf, an denen er vorbei ging. Natürlich ging es darum, worum es immer ging. Der Junge war es schon gewohnt, dass er dort, wo er auftauchte, die Blicke auf sich zog. Er sah sehr gut aus, dessen war er sich bewusst, doch er machte keine große Sache daraus. Natürlich war das Aussehen wichtig, aber es war nicht das wichtigste. Diese Lektion hatte er in frühen Jahren bereits gelernt. Edgar, ein früherer Freund von ihm, war ebenfalls ein sehr attraktiver Junge gewesen. Doch nach einem Unfall im Chemieunterricht war sein Gesicht entstellt worden und frühere gute Freunde hatten sich von ihm abgewandt. Takeo hatte es schrecklich gefunden, dass Edgars so genannte Freunde offenbar nur wegen seines ehemals guten Aussehens mit ihm zusammen gewesen waren und der Teenager hatte sich geschworen, dass er niemals Freunde akzeptieren würde, die nur wegen seines hübschen Gesichtes mit ihm befreundet sein wollten.

„Ihr könnt euch später noch ausführlich mit Takeo unterhalten. Machen wir weiter“, verkündete Mister Yaki und fuhr mit dem Unterricht fort.

„Hi“, begrüßte Chizuru ihren neuen Sitznachbarn und musterte ihn lächelnd.

„Hallo“, gab Takeo zurück, öffnete seinen Rucksack und stopfte die Papiere hinein, die er seit dem Verlassen des Büros vom Direktor in der Hand gehalten hatte. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, und atmete tief durch.

Chizuru strich sich die schulterlangen Haare hinter das Ohr und grinste: „Hey, es gibt schlimmere Plätze als diese Schule hier. Zum Beispiel auf dem Grund eines Sumpfes.“

Takeo schaute sie an und lächelte. „Dann ziehe ich doch diesen Platz vor.“

„Ich bin Chizuru. Freut mich, dich kennenzulernen. Wieso kommst du erst jetzt an diese Schule?“

„Ich habe früher in Houston gewohnt und der Umzug hat sich so lange hinaus gezögert. Jetzt ist aber alles klar.“

„Denkst du. Du hast eine ganze Menge versäumt. Wir klotzen hier mächtig ran, da musst du wahnsinnig aufpassen, dass du nicht den Überblick verlierst.“

„Ja, das habe ich schon gehört. Jetzt muss ich jemanden finden, von dem ich das ganze Zeug bekomme, das bisher durchgenommen wurde.“

„Wenn du möchtest, bin ich dir da gerne behilflich“, bot sich das Mädchen an.

„Sehr gerne, danke.“

„Chizuru!“, ertönte die Stimme vom Klassenlehrer und Takeo zuckte zusammen. Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, worum es gerade gegangen war, sondern hatte sich von Chizuru ablenken lassen. Umgekehrt war es sicher genauso gewesen, so dass sie seinetwegen jetzt keine Antwort geben konnte. Der erste Tag in dieser Schule war wirklich ein einziger Griff in den Misthaufen. Den Jungen packte das schlechte Gewissen. Er war neu in diese Klasse gekommen, noch nicht einmal fünf Minuten hier und schon bekam eine Mitschülerin durch ihn Ärger. Noch besser konnte der Einstieg für ihn gar nicht laufen.

Chizuru blickte Mister Yaki an, schwieg drei Sekunden und antwortete dann: „Während sich der Käfer bewegt, kann er das Gift, das er seiner Beute verabreicht, nicht kontrollieren. Daher darf er keinen Mucks machen, bis er die ausreichende Menge Gift übertragen hat.“

Der Lehrer schaute Chizuru mit zusammengekniffenen Augen entgegen, die breit grinsend seinem Blick stand hielt.

„Irgendwann kriege ich Sie“, zwinkerte ihr Mister Yaki zu, bevor er sich wieder an die Klasse wandte.

Takeo war über alle Maßen verblüfft.

„Was war das denn?“, fragte er leise.

„Weibliches Multitasking. Wir reden in der Pause weiter.“

*****

Gut gelaunt öffnete Kazuki die Tür zum Pausenhof. Er war, wie eigentlich fast immer, eine Stunde zu früh in der Schule erschienen. Die noch verbleibende Zeit bis zum Unterrichtsbeginn nutzte er meist, um sich auf Klausuren vorzubereiten oder um noch einmal den Schulstoff durchzugehen. Daheim hatte er sowieso keine Ruhe dafür und ließ sich nur von allen möglichen Dingen ablenken.

Ein Mädchen saß auf einem Kunststoffkasten und hatte den Kopf gesenkt, doch Kazuki erkannte sie dennoch. Er schlenderte zu seiner Klassenkameradin hinüber. Sie blickte nicht einmal auf, als er sich näherte.

„Hallo Haruka. Was sitzt du denn hier so trübsinnig herum?“

Jetzt hob die angesprochene Schülerin ihren Kopf. Ihr Gesicht hatte einen traurigen Ausdruck.

„Ach, du bist es, Kazuki.“

„Was machst du so früh hier?“, wollte Kazuki wissen.

„Ob ich meine Hausaufgaben zu Hause oder hier nicht erledige, ist doch eigentlich egal, oder?“

„Lass mich raten. Mathe!“

Haruka hob die Arme in die Luft.

„Ich begreife diesen ganzen Mist einfach nicht. Das ist alles zu hoch. Es ist ja schon erstaunlich, dass mein IQ reicht, um mir ein Brot selbst zu schmieren.“

Mit Mathematik hatte Haruka immer schon riesige Probleme gehabt. Und je weiter sie in der Materie fortschritten, umso komplizierter wurde es für sie. Sie passte im Unterricht wirklich auf, aber wahrscheinlich gab es so eine Art schwarzes Matheloch und es hatte sich ausgerechnet ihren Kopf für seine Existenz ausgesucht.

„Du übertreibst wieder mal maßlos. So schlecht bist du gar nicht. Du musst nur jemanden haben, der es dir richtig beibringt, und zwar so, dass du es verstehst.“

„Bis ich den gefunden habe, der mir etwas erklärt, so dass ich es kapiere, habe ich meinen Abschluss dreimal gemacht.“

„Und vor allem solltest du aufhören, dich immer selbst runterzuziehen. Damit löst du weder deine Problem, noch hilfst du dir auf sonstige Weise damit. Pass auf, wir suchen uns jetzt einen leeren Klassenraum und dann gehen wir die Aufgaben langsam Schritt für Schritt durch. Immerhin haben wir noch eine ganze Stunde, bis unser nächster Unterricht anfängt.“

Unruhig rutschte Haruka auf dem Kasten hin und her.

„Ich weiß nicht.“

„Ist es dir lieber, du hast deine Aufgaben nicht und dafür dann eine Strafarbeit zu kassieren? Ich will dir helfen, aber zwingen kann ich dich natürlich nicht.“

Haruka sah ihn an.

„Na schön. Aber jetzt ist doch überall Unterricht.“

„Nein, nicht überall“, grinste Kazuki. „Ich weiß, wo momentan kein Unterricht stattfindet und wo wir prima lernen können. Komm mit.“

Der Junge wartete, bis seine Klassenkameradin sich ihre Tasche geschnappt hatte, dann betraten sie gemeinsam das Schulgebäude und gingen hinauf in den zweiten Stock. Zielsicher strebte Kazuki auf eine Tür zu und öffnete sie. Der Raum war leer.

„Na, was habe ich gesagt?“

„Toll“, meinte Haruka. Die Teenager setzten sich in die erste Reihe und holten ihre Mathebücher hervor.

„Magst du Möhren?“, fragte der Junge unvermittelt. Haruka war vollkommen überrumpelt und wusste absolut nicht, was diese Frage zu bedeuten hatte. Doch sie antwortete wahrheitsgemäß, dass sie Möhren sehr gerne essen würde.

„Wunderbar. Dann stelle dir jetzt mal vor, eine Möhre lebt in Gefangenschaft. Und sie bekommt jeden Tag mit, wie ihre Artgenossen auf schreckliche Weise gequält und in Dosen gepresst werden. Also beschließt sie, auszubrechen, um diesem schrecklichen Schicksal zu entgehen. Tatsächlich gelingt ihr die Flucht und in ihrem Kopf malt sie sich aus, dass es einen Ort geben müsste, an dem alle Möhren in Frieden leben können. Und sie macht sich auf den Weg, diesen Ort zu finden.“

Haruka lächelte verschüchtert.

„Hör auf, mich auf den Arm zu nehmen. Was hat denn das mit Mathe zu tun? Hier in der Aufgabe steht irgend etwas von Cosinus und so.“

„Ganz genau“, stimmte ihr der Schüler zu. „Und genau dort fangen die Probleme für unsere Möhre auf ihrem langen Weg an den Ort ihrer Träume an.“

*****

Aus seiner Aktentasche holte Isamu Akabashi ein dickes Bündel Papiere und hob es hoch.

„Wisst ihr, was das ist?“, fragte er in die Klasse, bekam allerdings von niemandem eine Antwort. Dennoch schienen die Schüler zu ahnen, dass etwas unangenehmes bevor stand, denn keiner sagte auch nur ein Wort. Es war totenstill in der Klasse.

„Das sind eure Hausaufgabenkontrollen, die wir in der letzten Woche geschrieben haben.“

Der Lehrer legte die Seiten vorsichtig auf den Tisch und begann seinen Rundweg durch die Klasse.

„Nun,“ meinte er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, „ich will nicht behaupten, dass diese Kontrolle schlecht ausgefallen ist.“

Er blieb vor einem Schüler stehen und blickte ihm direkt ins Gesicht.

„Sie ist eine einzige Katastrophe. Selbst die Sintflut war leichter zu ertragen, als diese Kontrollen durchzusehen. Ich weiß ja, dass Japanisch nicht gerade die leichteste aller Sprachen auf diesem Planeten ist. Aber es ist ja wohl nicht zuviel verlangt, dass ihr euch ein bisschen, wenigstens ein kleines bisschen, bemüht.“

Er ging weiter, bis zu einem anderen Schüler, stützte sich auf dessen Tisch ab und sah ihn an.

„Sagen Sie mal, Toshiba, haben Sie vielleicht Kontakt mit Außerirdischen?“

Der angesprochene Junge schwieg und blickte auf den Boden. Sein Gesicht lief rot an.

„Ich habe mich wirklich bemüht, in Ihrer Kontrolle etwas zu verstehen, aber da wurde ich leider enttäuscht. Doch eines kann ich mit absoluter Sicherheit sagen. Japanisch war das, was Sie abgegeben haben, auf gar keinen Fall. Leider auch keine andere mir bekannte Sprache, also muss es sich wohl um eine neue Sprache handeln, die nur Sie gelernt haben. Vielleicht bewerben Sie sich für sie als Lehrer an dieser Schule.“

Aus vereinzelten Stellen war leises Kichern zu hören.

„Sie haben überhaupt keinen Grund, sich lustig zu machen“, donnerte der Lehrer. „Denn die Resultate vom Rest sehen auch nicht sehr viel besser aus. Mit was habe ich eigentlich in den letzten Jahren meine Zeit verschwendet? Wissen Sie, was ich glaube? Vermutlich ist es besser, wenn viele von Ihnen in Japanisch wieder beim Anfang beginnen. Eventuell haben Sie dann eine Chance, es zu begreifen.“

Kopfschüttelnd ging Isamu wieder zu seinem Pult zurück und begann mit den Worten „Ein echtes Trauerspiel“, die Kontrollen zu verteilen. Als er an den Tisch von Kagura Ogino trat, blieb sein Gesicht ernst.

„Es hat leider nicht gereicht, um meine Laune ansteigen zu lassen“, meinte er bedauernd und legte ihren Test auf den Tisch. Kagura hielt den Atem an. Während der langen Rede ihres Japanischlehrers waren in ihrem Kopf die schlimmsten Gedanken durcheinander gewirbelt. Sie hatte sich so sehr bemüht, sie hatte in jeder freien Minute Silben und Grammatik geübt und die verschiedensten Aufgaben zu lösen versucht. Ganz fest hatte sie sich vorgenommen, dass sie diese Kontrolle nicht verpatzen durfte, genau wie sie jede andere Klausur nicht verpatzen durfte. Ein winzig kleiner Fehler konnte ihre ganzen Bemühungen zunichte machen.

In den letzten drei Minuten war ihr Gesichtsausdruck immer trauriger und verzweifelter geworden. Sie hatte so hart gebüffelt und alles war umsonst gewesen. Vielleicht war Isamu jetzt wütend auf sie und von ihr enttäuscht. Und das war etwas, was Kagura als allerletztes wollte: ihren Japanischlehrer zu enttäuschen.

Das Mädchen hörte den hämmernden Herzschlag in ihren Ohren, während sie nach dem Blatt griff. Es kam ihr vor, als versuche ihr Herz mit aller Kraft den Brustkorb zu sprengen. Ihr wurde heiß und sie meinte, es in ihrem weißen Blazer nicht mehr auszuhalten. Die Schülerin schob zwei Finger ihrer Hand zwischen Bluse und Halstuch und zog das Tuch ein wenig nach vorne.

Ewig konnte sie die Katastrophe nicht vor sich her schieben, also nahm sie allen Mut zusammen und richtete ihren Blick auf das Papier, das sie vor einer halben Minute zurück erhalten hatte. Sie kniff die Augen zu und machte sie wieder auf, aber das Ergebnis blieb das gleiche. Lediglich zwei Fehler hatte sie gemacht, aber es reichte immer noch für die beste Note. Die Schülerin konnte es kaum fassen, aber das „A“ unter ihrer Kontrolle war kein Traum.

Kagura sank in ihrem Sitz zurück und legte die Hand auf ihren Bauch, in dem sich ein Grummeln entwickelt hatte. Sie hatte fast die volle Punktzahl erreicht. Erleichtert stieß sie die angehaltene Luft aus, was ihr einen Seitenblick von ihrer Sitznachbarin Azu einbrachte, die das Geräusch offensichtlich missverstand.

„Wie schlimm ist es denn bei dir?“, erkundigte sie sich.

„Es könnte schlimmer sein“, antwortete Kagura mit zittriger Stimme. Dann lachte sie leise auf und reichte ihrer Nachbarin das Blatt. Diese betrachtete es mit gerunzelter Stirn und gab es ihr dann wieder zurück.

„Glückwunsch“, flüsterte sie kaum hörbar.

„Und bei dir“, erkundigte sich Kagura.

„Das willst du gar nicht wissen.“

Ohne viel Enthusiasmus schob Kaguras Mitschülerin ihr den Zettel hin und die Schülerin riss die Augen auf. Die Hausaufgabenkontrolle war mit dem Füller geschrieben worden, aber vor lauter Rot war die blaue Tinte sehr unauffällig.

„Holy shit“, murmelte Kagura.

„Ganz so positiv hätte ich es jetzt nicht ausgedrückt“, meinte Azu niedergeschlagen. „Die nächste Arbeit brauche ich gar nicht mitzuschreiben. Die kann nur noch katastrophaler werden.“

„Du musst dich halt hinsetzen und …“

„Das bringt doch nichts“, wurde Kagura unterbrochen. „Diese Defizite hole ich nie wieder auf. Da kann ich lernen, bis ich ins Altersheim komme.“

Azu sagte die Wahrheit. Ihr fehlendes Wissen in der asiatischen Sprache war wirklich schlimm. Anfangs war sie ganz gut mitgekommen, aber mittlerweile hatte sich ein riesiger Berg von mangelhaften Kenntnissen bei ihr entwickelt. Dieser Prozess war sehr langsam vonstatten gegangen. Es würde wirklich harte Arbeit für Azu bedeuten, bis sie am jetzigen Stoff angelangt war. Allerdings musste etwas getan werden, denn sonst würde der Berg nur noch größer und größer werden.

Kagura überlegte kurz, dann sagte sie: „Dann gibt es eigentlich nur noch einen Weg, wie du die Zeit nutzen kannst, um dein Japanisch aufzubessern und den Anschluss wiederzufinden. Wiederhole das Schuljahr.“

Ihre Klassenkameradin starrte sie so fassungslos an, als habe man ihr ein Messer in den Rücken gestoßen.

„Das Schuljahr wiederholen? Weißt du eigentlich, was meine Eltern an Kohle für ein Jahr in diesem Stall bezahlen?“

„Ich nehme an, genauso viel wie meine“, mutmaßte Kagura.

„Mein Dad bringt mich um. Das ist wirklich die Krönung des Unfassbaren. In Japan geboren, drei Jahre dort gelebt, Tochter japanischer Eltern und in der Muttersprache die geborene Null.“

Kagura legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Und wenn du es ihnen einfach nicht sagst?“

„Das ist ein ganz toller Plan. Wenn sie es dann irgendwie herausbekommen, könntest du mich vielleicht noch mal sehen. Vorausgesetzt, ich schaffe es, mich mit gebrochenen Armen und Beinen zur Schule zu schleppen.“

Kagura schwieg. Jedes tröstende Wort brachte sowieso nichts. Die Trauer und Enttäuschung saß bei ihrer Sitznachbarin viel zu tief. Diese schlug die Hände vors Gesicht und fing an, leise zu weinen. Kagura zog Azu an sich und umarmte sie, während diese ihr Gesicht gegen Kaguras Schulter presste und ihren Tränen freien Lauf ließ.

Der Japanischlehrer Isamu Akabashi beendete die Stunde, nicht ohne als Hausaufgabe von allen die Berichtigung der Kontrolle zu fordern.

„Kommst du?“, fragte Azu mit tränennassem Gesicht, als sich die Schar der Schüler in die Pause begab.

„Gehe schon mal vor, ich komme in zwei Minuten nach.“

Azu tat Kagura zwar leid, aber vielleicht ergab sich dadurch, dass sie die beste Arbeit geschrieben hatte, eine neue Chance. Sie musste es wenigstens versuchen, durfte dabei aber nicht zu offensichtlich vorgehen. Trösten konnte sie Azu nachher immer noch.

Azu nickte und verließ den Klassenraum. Jetzt waren nur noch die beste Schülerin und der Lehrer im Zimmer. Kagura ging nach vorne zum Pult, wo Isamu damit beschäftigt war, seine Sachen zusammenzupacken.

„Es tut mir leid, dass die Kontrolle so schlimm ausgefallen ist“, sagte sie.

Isamu blickte sie an.

„Das ist ja nicht Ihre Schuld. Im Gegenteil. Sie haben mit sehr weitem Abstand die beste Arbeit abgeliefert, so wie immer. Aber nachdem ich so viele Kontrollen nachgeguckt hatte, die man nur eine Tragödie nennen kann, konnte mich Ihr Ergebnis auch nicht mehr aufheitern. Aber Sie haben Ihre Sache gut gemacht.“

Kagura lächelte dünn, obwohl in ihrem Inneren die Organe Doppelsalti schlugen. Aber gerade in dieser Situation durfte sie ihre Freude nicht so offen zeigen.

„Ja, ich bin auch sehr zufrieden. Am liebsten würde ich mein gutes Ergebnis heute abend feiern. Und zwar nicht alleine.“

Sie knöpfte ihren Blazer auf und schob sich etwas näher an Isamu heran. Dieser griff nach seiner Tasche und trat schnell drei Schritte nach hinten.

„Ich hoffe, Sie finden noch jemanden, mit dem Sie feiern können. Ich bin heute abend auf einem Vortrag. Und die Verbesserung der Kontrolle gilt natürlich auch für Sie, Kagura. Obwohl ich annehme, dass Sie in zwei Minuten damit fertig sein werden.“

Nervös verließ der Lehrer das Klassenzimmer und das Mädchen blieb alleine zurück. Sie war wohl zu schnell vorgegangen und hatte dadurch ihren Lehrer in die Flucht geschlagen. Aber sie würde nicht aufgeben. Die nächste Gelegenheit kam bestimmt und Kagura war fest entschlossen, alles zu tun, um zum Erfolg zu gelangen.

„Verdammt“, fluchte sie. „Du kannst nicht ewig verleugnen, dass du mich gern hast. Und ich werde geduldig auf dich warten, bis du es dir selbst eingestehst.“

*****

In einem Klassenzimmer im Erdgeschoss des Gebäudes B unterrichtete die Lehrerin Maya Ootome. Dabei hatte sie nicht von jedem Schüler die volle Aufmerksamkeit. Ganz besonders zwei Jungen, die sich extrem ähnlich sahen, schien es vollkommen egal zu sein, von was die Lehrerin erzählte. Sie hatten sich um wichtigere Dinge zu kümmern.

Makoto und Tetsuya Sakurai waren Zwillingsbrüder. So sehr man sich auch bemühte, man konnte sie nicht auseinander halten. Einzig und allein an ihrem Verhalten konnte man bestimmen, wer wer war.

Tetsuya war der coolere Bruder. Er war beliebt und angesehen und man konnte sicher sein, dass das, was er anpackte, gelang. Größere Planungen waren dabei nicht nötig. Selbst spontan ausgeführte Aktionen gingen ihm meist ohne Probleme von der Hand. Bei den Mädchen sorgte er durch seine Ideen regelmäßig für Aufsehen. Insgeheim bewunderte man Tetsuya, obwohl dieser eigentlich nur Unsinn im Kopf hatte und seinen Bruder regelmäßig dazu brachte, mit ihm diesen Unsinn in die Tat umzusetzen.

Makoto war das genaue Gegenteil von Tetsuya. Was er auch anfasste, man konnte davon ausgehen, dass es schief ging. Wollte man bei einem Streich ertappt werden, so musste man nur dafür sorgen, dass Makoto mit von der Partie war, denn dieser schien das Missgeschick anzuziehen wie eine Erdbeertorte die Wespen. Gerne wäre Makoto so cool und angesehen wie sein Bruder gewesen. Und er unternahm auch alles, um genauso gelassen die Dinge anzugehen. Doch vermutlich war es gerade dieser krampfhafte Versuch, so zu sein wie Tetsuya, der Makoto in schönster Regelmäßigkeit scheitern ließ. Doch er versuchte es weiterhin und hoffte, dass ihm das unmögliche eines Tages gelingen würde.

Gerade waren die Zwillinge dabei, wieder einmal einen tollen Streich zu planen und gegebenenfalls auch auszuführen. Dass ihre Lehrerin ihnen hin und wieder finstere Blicke zuwarf, schien die beiden nicht zu stören.

Maya Ootome war eine strenge Lehrerin. Störungen in ihrem Unterricht konnte sie überhaupt nicht leiden und wen sie beim Reden, Kaugummi kauen oder bei sonstigen Unaufmerksamkeiten, die andere Schüler in Mitleidenschaft zogen, erwischte, der hatte absolut nichts zu lachen. Gerade die Zwillinge waren es, die ihr am meisten zu schaffen machten, denn sie waren unbelehrbar. Die Strafarbeiten, die die beiden von ihr in der Vergangenheit bereits aufgebrummt bekommen hatten, waren schon nicht mehr zählbar.

Dennoch schien es ihnen nichts auszumachen, denn sie stellten ihre Störungen im Unterricht nicht ein. Der einzige Weg, diese Störungen zu beseitigen, schien der Ausschluss von der Schule zu sein, aber das hätte vermutlich zu einem Protest der anderen Schüler geführt.

„Sie ist die einzige, die ich in Carlton kenne, die ihre Wäsche noch draußen an der Leine zum Trocknen aufhängt. Das wäre die Gelegenheit“, wisperte Tetsuya.

„Das finde ich doch ein bisschen zu hart“, entgegnete Makoto.

„Ich allerdings auch“, donnerte Maya Ootome dazwischen. Sie hatte sich unbemerkt an die Zwillinge herangeschlichen und ließ nun ein Donnerwetter über sie hereinbrechen. Die Zwillingsbrüder zuckten zusammen, als sie die laute Stimme ihrer Lehrerin vernahmen.

„Wir haben uns nur über den Fehler in Ihrer Theorie unterhalten, die Sie uns gerade erzählt haben“, verteidigte sich Tetsuya. „Stimmt doch, Makoto, oder?“

Makoto, der wie sein Bruder absolut keine Ahnung hatte, worum es hier gerade ging, nickte heftig.

„Ja, stimmt. Wenn man Ihre Theorie bis zum Ende durchdenkt, dann wird einem klar, dass sie nicht funktionieren kann. Anfangs hört sie sich ja noch ganz logisch und vernünftig an. Aber bei näherer Betrachtung …“

„Und was war meine Theorie? Könnten Sie sie bitte noch einmal erläutern“, forderte Maya Makoto auf, der daraufhin mächtig ins Stottern kam.

„Siehst du“, giftete Tetsuya seinen Bruder an. „Ich habe dir doch gesagt, dass wir besser aufpassen und uns über das Leck in der Logik später austauschen können.“

Maya roch den Braten sofort.

„Netter Versuch, Tetsuya, Ihren Bruder auflaufen zu lassen, obwohl Sie ebenso wenig wissen, wovon ich gerade gesprochen habe, wie er. Aber keine Angst, ich werde Ihnen helfen, das soeben von mir gesagte intensiv zu verinnerlichen. Das steht nämlich auf den Seiten 158 bis 162 Ihres Schulbuches. Und Sie beide werden mir, unabhängig voneinander, eine Zusammenfassung in Ihren eigenen Worten dieser fünf Seiten aufschreiben. Und diese Zusammenfassung wird frei formuliert und nicht einfach aus dem Text, der im Buch steht, umgestellt. Seien Sie kreativ. Das liegt Ihnen doch so. Fertigen Sie Skizzen zum Thema an, verwenden Sie Tabellen oder Grafiken. Ich bin für alles offen.“

Den Zwillingen klappte die Kinnlade nach unten.

„Ach, bevor ich es vergesse,“ lächelte Maya die beiden Störenfriede an, „diese Strafarbeit wird von mir benotet und geht als schriftliche Aufgabe in Ihre Endnote ein. Vielleicht hilft das, um Sie ein wenig mehr für meinen Unterricht zu interessieren.“

Sie drehte sich um und ging zum Pult zurück.

„Das ist alles deine Schuld“, zischte Tetsuya seinem Ebenbild zu.

Maya hob ein Buch vom Tisch auf und ließ es ohrenbetäubend knallend wieder auf das Pult sausen.

„Sind Sie scharf auf zehn Stunden Nachsitzen, Tetsuya? Verdammt noch mal, was muss eigentlich passieren, damit sie sich wenigstens einmal eine Schulstunde lang auf den Unterricht konzentrieren und nicht permanent mit anderen Dingen beschäftigt sind?“

„Wir müssten nach unserem Tod ausgestopft und ins Klassenzimmer gesetzt werden“, meinte Makoto trocken und erntete dafür brüllendes Gelächter vom Rest der Klasse. Selbst Maya konnte ein leises Schmunzeln nicht unterdrücken. Immerhin hatte sie sich fest genug im Griff, um nicht selbst auch laut zu lachen.

„Diesen Vorschlag werde ich dem Direktor unterbreiten. Vielleicht lässt sich da ja etwas machen. Und jetzt tun Sie mir bitte den Gefallen und passen wenigstens für den Rest der Stunde auf. Vielleicht ist das ganze für Sie ja doch so lehrreich, dass Sie aus Ihren Erkenntnissen die Idee für einen neuen Streich ziehen können.“

Diese Bemerkung schien genau das Zauberwort gewesen zu sein. Den Rest der Stunde konnte Maya ohne nennenswerte Unterbrechungen ihren Unterricht fortsetzen. Sie kam sogar mit dem Stoff durch, den sie sich für diesen Tag vorgenommen hatte.

Die Zwillinge jedoch hatten absolut keine Lust und auch keine Zeit, um ihre Strafarbeiten auszuführen. Sie grübelten darüber nach, wie sie diese Arbeit am geschicktesten umgehen konnten. Und natürlich war es Tetsuya, der wieder eine grandiose Idee hatte.

*****

„Und dann fragt dieser Trottel mich doch tatsächlich, ob ich mit ihm mal ein Eis essen gehen möchte“, erzählte Chiyo mit fassungslosem Stimmausdruck. „Das müsst ihr euch mal vorstellen. Als ob ich mich mit jemandem abgeben würde, dessen Kopf nur deshalb geschlossen ist, damit man nicht merkt, dass kein Hirn bei ihm existiert.“

Ihre Freundinnen lachten.

„Aber wenn du wolltest, könntest du ihn kriegen“, meinte eine Schülerin, die neben Chiyo stand.

„Logisch. Ich kriege jeden, den ich haben will. Die Jungs müssten doch bescheuert sein, wenn sie mit mir ausgehen könnten und das ablehnen. Zu schade, dass es nur so wenig vernünftige Exemplare dieser Spezies gibt. Der Großteil von ihnen ist ja schon damit überfordert, während einer Busfahrt aus dem Fenster zu gucken.“

Wieder ertönte Gelächter und ein Mädchen verschluckte sich an ihrem Käsebrot und begann heftig zu husten.

„Hey, Inu,“ rief ein anderes Mädchen der hustenden Schülerin zu, „willst du auch mal mit Chiyo ausgehen oder warum machst du so kräftig auf dich aufmerksam?“

Inus Hustenanfall wurde noch heftiger und sie wedelte mit den Händen, während die Gruppe in erneutes Lachen ausbrach. Inu hatte keine andere Wahl. Sie lief rasch davon, um sich wieder zu beruhigen.

„Jetzt hast du sie verschreckt“, grinste Chiyo. „Dass du aber auch immer so direkt sein musst.“

Die Gruppe der Schülerinnen befand sich im Park. Immerhin war große Pause und in denen hielt sich Chiyo sehr oft mit ihren Freundinnen hier auf. Sie genoss den Ruf, in dem sie stand, auch wenn es ein etwas zweifelhafter Ruf war. Über Chiyo wurde gesagt, dass sie jeden Jungen haben konnte, wenn sie denn wollte. Sie selbst war jedenfalls der Überzeugung. Und das beste Argument, das ihren Erfolg bei Jungs bestätigte, war ihr Aussehen. Sie war ausgesprochen attraktiv, hatte glatte Haut und dunkle schulterlange Haare. Zudem existierten da noch zwei weitere Gründe, die es den Schülern schwer machten, sich zu entscheiden, wohin sie zuerst gucken sollten.

Chiyos Schönheit hatte außerdem noch etwas geheimnisvolles an sich. Wenn sie ihre Mittel einsetzte, um Jungs zu verführen, dann war da auch eine kleine Menge von etwas, das man nicht so richtig einordnen konnte. Das Mädchen wirkte, als habe sie etwas magisches, dass sie anziehend und mysteriös wirken ließ und das man nicht einzuschätzen wusste.
Viele Erfolge hatte Chiyo dadurch bereits für sich verbuchen können. Die Kerle rissen sich geradezu darum, mit ihr etwas zu unternehmen oder einfach nur in ihrer Nähe zu sein. Aber sie suchte sich ihre Verehrer sehr genau aus und liebte es, mit ihnen zu spielen. Irgendwann, wenn sie uninteressant wurden, servierte Chiyo sie ab. Und es spielte überhaupt keine Rolle, ob die Jungs eine Freundin hatten oder nicht. Im Gegenteil, dieser Aspekt gab der Schülerin erst den richtigen Adrenalinstoß.

Bei den Mädchen sah die ganze Sache etwas anders aus. Sie spalteten sich in zwei Parteien. Die erste fand es ungeheuer beeindruckend, dass Chiyo so viel Erfolg bei den Jungen hatte. Sie wollten an diesem Erfolg wenigstens ein kleines Stück teilhaben und sei es nur dadurch, dass sie Chiyo kannten und vielleicht sogar ihre Freundinnen waren. Die Freundin von der größten Jungenherzenbrecherin der „Carlton Jouchi Daigaku“ zu sein, war durchaus ein Privileg.

Allerdings gab es da noch die andere Partei, der es absolut missfiel, wie Chiyo mit den Jungen umsprang. Von diesen Mädchen wurde sie verachtet und sie wollten nichts mit ihr zu tun haben, was Chiyo allerdings nicht im geringsten kümmerte. Mehrmals hatte das attraktive Mädchen sich anhören müssen, ob sie denn gar keine Skrupel kenne oder wie sie sich selber noch im Spiegel ansehen könne oder ob es ihr gefiele, wenn man auf die gleiche Weise mit ihr umspränge. Doch das tat Chiyo nur mit einer lässigen Handbewegung ab. Für sie waren diese Worte nur der Beweis, dass den anderen der Mumm fehlte. Sie brauchten die Sicherheit eines festen Freundes und waren nicht bereit, ein Risiko einzugehen, indem sie so viele Jungs um den Finger wickelten, wie es ihnen möglich war. Chiyo hatte absolut nichts dagegen, wenn diesen Feiglingen so ein Leben lieber war, doch dann sollten sie gefälligst aufhören, über sie herzuziehen und sie ihre eigene Sache machen lassen.

Ein Mädchen, das zu den Gegnern von Chiyos Verhalten zählte, war Kazumi. Die neunzehnjährige Schülerin stand ein wenig entfernt von der Mädchengruppe an einen Baum gelehnt und las in einem Buch. Bücher waren für Kazumi etwas ganz Besonderes. Sie standen für alles, was das Leben in seiner ganzen Vielfalt bereit hielt: Romantik, Spannung, Langeweile, unzählige Gefühlsformen, Abenteuer, Rätsel, Liebe und noch so einiges mehr.
Ohne Bücher konnte sich Kazumi ein Leben überhaupt nicht vorstellen und es war ihr unbegreiflich, wie es auf der Erde Menschen geben konnte, die nicht ein einziges Mal ihre Nase in ein Buch steckten. Mit diesen Menschen hatte sie ein wenig Mitleid. Sie kannten das wunderbare Gefühl nicht, sich von der Handlung eines Romans davontragen zu lassen, für eine gewisse Zeit alles zu vergessen und sich nur noch der Geschichte hingeben zu können.

Auch wenn Kazumi etwas abseits stand, so bekam sie doch alles mit, was von Chiyo und ihren Freundinnen gesprochen wurde und es widerte sie an. Am allermeisten war sie von dem hübschen Mädchen genervt, das ständig und überall damit angeben musste, wie viele Jungs es schon erobert hatte. Es war fast so, als ginge es ihr darum, einen Wettbewerb zu gewinnen. Und in gleichem Maße, wie Kazumi Chiyo verabscheute, konnte sie die Jungs leiden, die auf diese falsche Schlange hereinfielen. Es war für Kazumi nicht zu fassen, wie sehr die Jungen bei einem Mädchen auf das Äußere achteten. Kaum kam eine schöne Frau in Sicht, war der Verstand ausgeschaltet – sofern denn einer vorhanden war.

Und diese ganzen gackernden Gänse, die sich als Freundinnen bezeichneten, waren auch nicht viel besser. Sie wollten etwas haben, was sie selbst nicht besaßen. Nur deshalb scharwenzelten sie um Chiyo herum. Selber etwas zu unternehmen, um ein wenig mehr Chancen bei den Jungen zu haben, kam ihnen nicht in den Sinn. Das hätte ja Arbeit bedeutet. Kazumi fand dieses ganze Verhalten einfach nur armselig.
„Hallo Hikaru“, grüßte Chiyo einen Jungen, der gerade vorbei ging.

„Hi Chiyo.“

„Wollen wir heute abend zusammen ausgehen?“

„Wenn ich vorher aus dem Fenster des Empire State Building springen darf.“

Chiyo lachte. Hikaru war eine frühere Eroberung von ihr gewesen und nachdem sie ihn abserviert hatte, hatte er sich geschworen, nie wieder etwas mit ihr zu unternehmen. Das Kapitel Chiyo war für ihn abgehakt und die dunkelhaarige Schönheit machte sich einen Spaß daraus, ihn immer wieder herauszufordern.

Chiyo drehte ihren Kopf zur Seite und erstarrte. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Es waren doch noch ein paar Monate bis Weihnachten und Geburtstag hatte sie auch noch nicht. Dennoch stand dort drüben einer der hübschesten Jungen, die sie bis jetzt gesehen hatte. Augenblicklich wurde das Beuteprogramm in ihrem Hirn aktiviert. Gleichzeitig war da diese vorwurfsvolle Stimme, die sie fragte, warum sie diesen Schönling nicht schon früher bemerkt hatte. Sicher, es gingen mehrere hundert Schüler aus ganz Amerika auf diese Schule, denn sie war die einzige auf dem Kontinent, die nur Kinder japanischer Eltern aufnahm. Dennoch hätte ihr der Junge schon viel früher auffallen müssen, selbst wenn er erst im Sommer neu an die Schule gekommen war.

Chiyo zermarterte sich den Kopf, warum sie den Kerl übersehen hatte, kam aber zu keiner Erklärung. Das Mädchen beschloss, diese Frage vorerst aufzuschieben. Eine Sache war ihr aber sofort klar: sie musste sich diesen unglaublich attraktiven Schüler in ihr Boot holen. Ein paar andere Teenager standen ebenfalls mit ihm auf dem Rasen, von denen Chiyo nur die Sakurai-Zwillinge näher kannte, die in ihren Augen ausgesprochen lästige und abstoßende Zeitgenossen waren. Allerdings musste das Mädchen zuerst einmal in Erfahrung bringen, wer dieser Junge war.

„Sagt mal, kennt einer von euch diesen Jungen da drüben?“, fragte sie die Mädchen um sich herum und deutete mit dem Finger auf die Gruppe.

„Sind das nicht die Zwillinge?“

Chiyo funkelte das Mädchen, das ihr die Antwort gegeben hatte, gefährlich an.

„Ach, wirklich? Die hätte ich jetzt gar nicht erkannt“, meinte sie sarkastisch. „Ich meine den Jungen, der rechts neben ihnen steht, du dusselige Kuh. Glaubst du im Ernst, diese pestbeuligen Sakurais hätte ich nicht schon längst bemerkt?“

„Keine Ahnung, wer das ist“, zuckte ein anderes Mädchen die Schultern. Der Rest reagierte ähnlich. Keiner von ihnen kannte den Teenager, der das neueste Opfer von Chiyo werden sollte.

Mittlerweile hatte sich Inu wieder von ihrem Hustenanfall erholt und war zu den Mädchen zurück gegangen. Chiyo ergriff sofort die Initiative und fragte Inu nach dem Fremden.

„Das könnte der Neue sein“, mutmaßte Inu.

„Welcher Neue?“

Na, heute soll doch ein neuer Schüler an diese Schule kommen. Das habe ich vor einem halben Monat oder so von einem Lehrer aufgeschnappt. Ich dachte mir noch, dass es sehr ungewöhnlich ist, dass hier mitten im Schuljahr neue Leute aufgenommen werden. Jedenfalls sehe ich ihn gerade zum ersten Mal. Vielleicht ist das unser Nachwuchs.“

Chiyo überlegte. An Inus Erklärung konnte durchaus etwas dran sein. Und dass der Junge erst heute an dieser Schule aufgenommen wurde, bewies auch, warum er ihr zuvor nicht aufgefallen war.

„Er sieht ziemlich gut aus und wahrscheinlich gefällt er Chiyo auch“, grinste ein Mädchen.

Chiyo guckte sie an. „Wie kommst du darauf, dass er mir gefällt?“

„Du hast wieder so ein verräterisches Funkeln in den Augen.“

„Das habe ich immer, wenn ich einen hübschen Boy sehe“, lächelte Chiyo.

Kazumi platzte fast vor Wut. Sie hatte an ihrem Baum gelehnt und ihr Buch aufgeschlagen, aber in Wirklichkeit auf die Gespräche gelauscht. Chiyo war also wieder dabei, sich ein neues Opfer zu suchen. Das war doch einfach nicht zu glauben. Je länger der Bücherwurm der Unterhaltung zuhörte, umso zorniger wurde sie. Was bildete sich Chiyo eigentlich ein? Kazumi musste sich einfach einmischen, sonst würde sie noch die Beherrschung verlieren.

„Vielleicht handelt es sich bei dem Funkeln auch um Tränen des schlechten Gewissens darüber, was du den Jungs antust“, sagte Kazumi laut, ohne den Blick aus ihrem Buch zu nehmen.

Chiyo drehte sich zu ihr um und ging mit raschen Schritten auf sie zu.

„Wie wäre es, wenn du dich um deinen eigenen Kram kümmerst?“, fuhr sie Kazumi an, doch diese blickte nicht einmal auf.

„Na, na, was ist denn mit deinen guten Manieren passiert? Ach, habe ich völlig vergessen, du hattest ja nie welche.“

„Andere Leute zu belauschen zeugt auch nicht gerade von guter Kinderstube.“

„Alles nur Vorsichtsmaßnahme, um unschuldige Jungs vor einer Nymphomanin wie dir zu schützen.“

Kazumi hörte, wie Chiyo fassungslos die Luft einzog und hörte entsetzte und empörte Schreie von der Mädchengruppe. Dann spürte sie, wie ihr das Buch aus der Hand gerissen wurde. Sie blickte auf und entdeckte, dass Chiyo ihren Lesestoff in den Händen hielt.

„Kennst du schon den neuesten Bestseller ‚Fliegende Lektüre’?“ fragte Chiyo platonisch und warf das Buch in hohem Bogen durch den Park. Kazumi stemmte die Hände in die Hüften.

„Auf der Stelle holst du mir das Buch wieder.“

„Leck mich“, erwiderte Chiyo und drehte sich um, um zu ihrer Gruppe zurückzugehen.

„Du bringst mir sofort mein Buch zurück“, sagte Kazumi mit erhobener Stimme und packte Chiyo am Arm. Diese drehte sich abrupt um und im nächsten Moment klatschte ihre Hand gegen Kazumis Wange. Ein brennender Schmerz fuhr durch Kazumis Gesicht und sie riss erschrocken die Augen auf.

Rotzfrech grinste Chiyo sie an. Kazumi revanchierte sich, indem sie Chiyo ebenfalls eine schallende Ohrfeige verpasste, so dass Chiyos Kopf zur Seite flog. Das Mädchen schrie auf. Als sie nach zwei Schocksekunden realisiert hatte, was passiert war, stürzte sie sich vor Wut brüllend auf Kazumi und riss sie zu Boden. Kämpfend wälzten sich die beiden Schülerinnen im Gras und zogen neugierig gewordene Schaulustige an.

Kazumi gewann zunächst die Oberhand. Als Chiyo unter sie zu liegen kam, packte die rothaarige Schülerin sie am Kragen ihres Blazers, zog sie hoch und schmetterte sie wieder zu Boden. Chiyo nahm all ihre Kraft zusammen, ballte ihre Faust und stieß diese kräftig in Kazumis Bauch. Kazumi krümmte sich vor Schmerzen und war vorerst mit sich selbst beschäftigt, so dass Chiyo sie kurzerhand auf den Boden zog. Nun war sie über Kazumi und mehrere heftige Fausthiebe prasselten auf das Mädchen mit den langen roten Haaren herab.

Plötzlich spürte Chiyo, wie sich zwei starke Arme um sie schlangen und sie in die Höhe zogen. Protestierend schrie sie auf und begann mit den Beinen zu strampeln, wobei sie einen Tritt gegen Kazumis Bein landete.

„Ihr seid wohl total bescheuert, euch hier zu kloppen“, keuchte die Person, die sie festhielt und an der Stimme erkannte Chiyo, dass es sich um einen Jungen handeln musste. Er zog sie ein paar Meter vom Kampfplatz weg, während Kazumi immer noch auf dem Boden lag und die Schläge verdaute.

Chiyo hämmerte mit ihren Fäusten auf die Hände ein, die ihren Bauch umklammerten, doch der Junge hob sie ein wenig in die Höhe, drehte sich um 180 Grad und stellte sie dann wieder auf den Boden. Sobald Chiyo merkte, dass sie wieder frei war, stürmte sie vor, um wieder zu Kazumi zu gelangen, doch mit einem lauten Schrei packte der Junge sie an den Schultern und drückte sie zurück, bis die hübsche Schülerin mit dem Rücken gegen einen Baum prallte. Vor Schmerz verzog sie das Gesicht.

„Du hörst sofort auf damit, ist das klar?“, herrschte der Junge sie an und rüttelte an ihren Schultern. Sie sah ihn an und nun wusste sie, wer sich in den Kampf eingemischt hatte. Ren Ito, der Katzenfreak. Er ging mit Chiyo in eine Klasse und war in ihren Augen ziemlich sonderbar. Ren war ein mittelmäßiger Schüler und manchmal gar nicht im Unterricht anzutreffen. Niemand wusste, wo er sich aufhielt. Allerdings war bekannt, dass er Katzen über alles liebte und ziemlich oft mit diesen Tieren zusammen war.

Chiyo schüttelte den Kopf.

„Lass mich los“, fauchte sie und stieß ihn vor die Brust, so dass er drei Schritte zurück taumelte. „Hast du keine Miezis gefunden, die deine Babysitterdienste benötigen?“

Sie zog ihre Schuluniformjacke zurecht, die am Rücken mit Grasflecken bedeckt war. Dann stolzierte sie in Richtung des Schulgebäudes davon und ließ Ren einfach stehen. Mädchen, dachte dieser und ging wieder zurück zum Kampfplatz, wo sich Kazumi gerade aufgerappelt hatte.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Ren.

„Ja, hatte lange nicht mehr so viel Spaß“, keuchte die angesprochene Schülerin und hielt sich die schmerzende Schulter. Dann humpelte sie davon, um sich auf die Suche nach ihrem Buch zu machen.

„Meine Güte“, murmelte Ren. „Was für ein Glück, dass ich als Junge auf die Welt gekommen bin.“

*****

Die ersten Unterrichtsstunden in seiner neuen Schule hatte Takeo bereits hinter sich gebracht und stand nun mit weiteren Schülern im Park zwischen den beiden Schulgebäuden. Kurzerhand hatte Chizuru ihn gefragt, ob er mit den Park kommen wolle und er hatte zugestimmt.

„Du hast ziemlich viel versäumt und in allem bin ich auch nicht die große Leuchte“, hatte sie ihm auf dem Weg zum Rasen erzählt. „Aber in einigen Fächern kann ich dich schon auf den neuesten Stand bringen und die Materialien, die wir bekommen haben, überlasse ich dir auch gerne, damit du sie abschreiben und kopieren kannst. Ansonsten gibt es sicher noch jemanden, der dir noch weiteres erklären kann.“

„Danke, das ist sehr nett“, hatte Takeo höflich geantwortet.

Einige andere Mädchen aus seiner Klasse hatten sich ihnen ungefragt angeschlossen und Takeo konnte sich schon denken, was der Grund hierfür war. Als sie auf dem Rasen angekommen waren, wurde der siebzehnjährige mit Fragen bestürmt, die er so gut es ging beantwortete. Seine Hobbies waren schließlich kein Geheimnis. Eines seiner großen Steckenpferde waren Miniaturmodelle. Vollkommen gleich, ob es sich um Schiffe, Flugzeuge oder Eisenbahnen oder auch um fiktive Modelle, wie zum Beispiel einem Raumschiff, handelte. Es machte Takeo einfach Spaß, die verschiedenen Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Schritt für Schritt mit anzusehen, wie etwas entstand, war wirklich toll.

Zwei Jungen, die sich bis aufs Haar glichen, gesellten sich zu der Gruppe.

„Na, Dämonenjägerin“, grinste einer der beiden Chizuru an.

„Ha ha“, machte die Schülerin.

„Hey, wer bist du denn?“, fragte der andere der beiden Jungs, die offenbar Zwillinge waren, den Neuankömmling.

„Ich bin Takeo. Das ist heute mein erster Tag hier.“

„Nett, dich kennenzulernen“, meinte der Junge, der Chizuru als Dämonenjägerin bezeichnet hatte. „Ich bin Tetsuya und das ist mein Zwillingsbruder Makoto.“ Tetsuya deutete mit der flachen Hand auf seinen Bruder.

„Hi Takeo. Willkommen in der Hölle“, sagte Makoto.

„Hört auf“, fuhr Chizuru dazwischen. „So schlimm ist die Schule wirklich nicht.“

Tetsuya legte die Stirn in Falten, als denke er angestrengt nach. Dann hellte sich sein Gesichtsausdruck auf und er rief begeistert: „Stimmt, Chizuru. Am Samstag und Sonntag finde ich diesen Ort auch ganz okay.“

Dann wendete sich Tetsuya wieder dem neuen Schüler zu. „Übrigens, wir sind gar nicht so schwer zu verwechseln. Du kannst durch einen einfachen Test herausfinden, wer von uns beiden wer ist.“

Tetsuya drehte sich zu seinem Bruder und hieb ihm die Faust gegen den Arm.

„Aua, spinnst du?“ meckerte Makoto und rieb sich den Arm.

Tetsuya richtete den Blick wieder auf Takeo. „Siehst du? Der wehleidigere von uns ist Makoto.“

Takeo lachte und fand die Zwillinge auf Anhieb sympathisch. Vielleicht war es so, wie Chizuru vor ein paar Sekunden gesagt hatte. Eventuell war diese Schule wirklich nicht so schrecklich, wie Takeo es sich seit ein paar Tagen immer wieder ausgemalt hatte. Die Mitschüler, die er bisher kennen gelernt hatte, waren jedenfalls ganz in Ordnung.

„Wo bist du vorher zur Schule gegangen?“, fragte Makoto, während er versuchte, seinen Bruder zu treten.

„In Houston, Texas.“

„Hui, ein Cowboy“, sagte Tetsuya beeindruckt. „Warst du auch mal bei Rodeos dabei?“

„Nein, aber ich habe mal auf einem elektrischen Bullen gesessen. 52 Sekunden, dann war ich unten.“

„52 Sekunden sind eine ganze Menge“, meinte Makoto.

„Ja, für dich“, lästerte sein Bruder. „Du kannst dich ja nicht mal zehn Sekunden in einem Autositz halten.“

„Ich möchte mal einen Tag erleben, an dem ihr euch nicht streitet“, seufzte Chizuru.

„So ist das nun mal bei Brüdern“, erklärte Makoto. „Aber im Grunde mögen wir uns ganz doll.“

„Hat man dich schon auf die schreckliche Zeit hier vorbereitet, Takeo?“, wollte Tetsuya wissen. Dann senkte er die Stimme, beugte sich zu Takeo hinüber und brummte in verschwörerischem Tonfall: „Zum Beispiel auf das Ritual?“

„Das Ritual?“ Takeo sah ihn verständnislos an.

„Was soll das denn bitte sein?“, wollte auch Chizuru wissen.

„Nun ja“, erklärte Makoto, „es ist nicht ganz ungefährlich. Jeder muss sich die Handfläche aufritzen und es wird Blut in einer Schale gesammelt. Und dann muss jeder einen Schluck aus dieser Schale trinken. Das ist die Aufnahmeprüfung an dieser Schule.“

„Ihr habt doch beide echt den Vollknall“, ereiferte sich Chizuru und die Zwillinge lachten aus vollem Hals. Das Mädchen beschloss, die beiden zu ignorieren und fragte ihren Sitznachbarn: „Was machen deine Eltern?“

„Für die waren die letzten Wochen total stressig“, gab der Junge ausweichend zur Antwort. „Der ganze Umzug war ein einziges Chaos. Es gab Terminschwierigkeiten mit der Spedition und noch einige andere Sachen. Aber jetzt ist zum Glück alles in unserem neuen Haus eingeräumt und aufgestellt.“

„Okaayy“, machte Chizuru gedehnt. „Aber das war nicht gerade das, was ich wissen wollte. Was arbeitet deine Mum?“

Diese Frage konnte Takeo ruhigen Gewissens beantworten, doch er hatte Angst vor der nächsten Frage, die unweigerlich kommen musste.

„Sie schreibt Kurzgeschichten für verschiedene Zeitschriften.“

„Wirklich?“, fragte Makoto interessiert. „Für welche? Vielleicht habe ich ja mal eine von ihr gelesen.“

Takeo grinste ihn an. „Ich glaube wirklich nicht, dass du diese Zeitschriften lesen würdest.“

„Dann schreibt sie bestimmt Schweinkram“, vermutete Tetsuya.

„Tetsuya!“, rief Chizuru fassungslos aus. Sie war entsetzt darüber, wie man so unsensibel sein konnte.

„Was denn?“, verteidigte sich der Junge. Doch Takeo hatte bereits angefangen, laut zu lachen.

„Nein, sie schreibt über alles mögliche. Krimis, Liebesgeschichten, Horror, Arztstories. Sie hat sich auf nichts besonderes spezialisiert. Und die Leute lesen ihre Geschichten gerne.“

Chizuru war erleichtert, dass ihr neuer Mitschüler die Vermutung des Zwillingsjungen so locker wegsteckte. Dann erkundigte sie sich nach dem Beruf von Takeos Vater. Der Junge schwieg eine ganze Weile, bis die Stille plötzlich von dem lauten Ruf Makotos unterbrochen wurde.

„Guckt mal, da drüben prügeln sich zwei.“

Alle schauten in die Richtung, in die Makoto mit dem Finger deutete. Tatsächlich wälzten sich dort zwei Schüler in weißer Uniform über den Rasen.

„Das sind ja zwei Mädchen“, sagte Tetsuya in gespieltem Entsetzen. „Es geht wirklich rapide abwärts mit diesem Land.“

Ein Schrei drang von den beiden Kämpfenden zu ihnen herüber.

„Alles klar, das ist Chiyo“, stellte Makoto fest.

„Hoffentlich verliert sie“, wünschte Tetsuya sich.

Takeo war neugierig geworden, unter anderem auch deshalb, weil die Zwillinge diese Chiyo offenbar nicht leiden konnten.

„Wer ist Chiyo“, erkundigte er sich.

„Vor der würde ich mich vorsehen“, sagte Chizuru. „Sie angelt sich jeden Typen, den sie kriegen kann. Und wenn er sie dann nicht mehr interessiert, dann wird er einfach abserviert und sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das geschieht meistens schneller, als er gucken kann. Und wenn sie dich sieht – entschuldige, Takeo, aber das ist halt eine Tatsache – dann wird sie regelrecht ausflippen und alles daran setzen, dich in ihre Krallen zu kriegen.“

„Wieso?“, fragte der Teenager verwundert. „Sie kennt mich doch überhaupt nicht.“

„Das ist vollkommen egal“, meldete sich Tetsuya zu Wort. „Hast du schon mal in den Spiegel geguckt? Gegen dich sieht Adonis aus wie der Glöckner von Notre Dame. Chiyo will dich nicht, weil sie dich kennenlernen will. Sie will dich, weil du gut aussiehst. Ihr kommt es nur auf das äußere an. Jeder, der sich bisher mit ihr eingelassen hat, ist ziemlich enttäuscht worden.“

„Stimmt“, nickte Makoto. „Auch bei uns beiden hat sie ihr Glück versucht. Wir sind Zwillinge, wir sind etwas besonderes. Deshalb waren wir für sie attraktiv. Auch nach uns hat sie ihre Krallen ausgestreckt, aber wir sind zum Glück mit besonders scharfen Nagelscheren ausgestattet, so dass ihr ziemlich schnell die Lust vergangen ist.“

„Und da sie bei uns nicht landen konnte, standen wir sehr schnell auf ihrer Liste der meistgehassten Jungs der Schule.“

„Sie wird es versuchen, glaube uns das.“ Chizuru sah Takeo ernst an. „Bitte, falle nicht auf sie herein.“

Der Jugendliche blickte wieder auf das Kampfgeschehen, aber inzwischen hatte sich das Blatt gewendet. Ein Junge war gerade dabei, die beiden Kontrahenten zu trennen. Offenbar war zumindest eine der beiden nicht damit einverstanden, denn sie wehrte sich ziemlich heftig, um freizukommen und sich wieder ins Getümmel zu stürzen.

„Erkennst du das Mädchen, das der Typ gerade wegzerrt? Präge sie dir gut ein. Das ist Chiyo“, machte ihn Tetsuya aufmerksam.

In Gedanken wiederholte der Junge mehrmals ihren Namen. Die Warnung war bestimmt nicht aus Eifersucht ausgesprochen worden. Takeo nahm sich vor, ihr gegenüber besondere Vorsicht walten zu lassen.

*****

Immer noch niedergeschlagen und traurig stand Haruka mit Kazuki auf dem Schulhof zusammen. Kazukis Vorhaben hatte tatsächlich geklappt. Sie hatten zusammen in dem leeren Klassenraum gesessen und die Hausaufgaben in Mathematik durchgeackert. Haruka hatte es selber nicht glauben wollen, aber der Junge hatte es ihr in so lustiger und aufregender Art erklärt, dass sie es tatsächlich begriffen hatte. Der Unterricht bei ihm war nicht so trocken gewesen wie der reguläre Mathe-Unterricht. Gemeinsam hatten sie sich an die Aufgaben gewagt und nur ab und zu hatte Kazuki unterstützend eingegriffen, wenn ein tückischer Denkfehler drohte, die Aufgabe zur falschen Lösung zu bringen. Und die Arbeit hatte sich gelohnt. Denn im Unterricht hatte sich herausgestellt, dass Haruka wirklich alle Aufgaben richtig herausbekommen hatte.

Im ersten Moment hatte sie sich riesig gefreut, aber das Hochgefühl hatte leider nicht lange angehalten. Nun war sie wieder in depressiver Stimmung und hatte sich mit Kazuki in einer Ecke verdrückt, wo sie die Schultern hängen ließ.

„Du wirst nicht immer da sein, um mir zu helfen. Und dann stehe ich wieder vor einer unlösbaren Aufgabe und werde sie vermasseln.“

„Das ist doch Quatsch“, widersprach ihr Kazuki. „Du hast doch vorhin gezeigt, dass du die Aufgaben lösen kannst. Das kam von dir. Ich habe nur dabei gesessen und dich auf ein paar Fallen aufmerksam gemacht.“

„Es ist ja nicht nur Mathe“, entgegnete die Schülerin mit gesenktem Kopf. „Es ist alles. Ich bin einfach zu dumm, um im Leben klarzukommen. In der Schule kapiere ich nichts. Wie soll ich da später einen Job finden? Und einen Jungen werde ich bestimmt auch nicht finden. Wer will mich schon? Du bist da sicher ganz anders. Du hast bestimmt schon feste Freundinnen gehabt, oder?“

„Ja, klar. Und du wirst auch jemanden finden, der dich mag. Aber du darfst dich nicht selber runterziehen. Durch deine pessimistische Haltung drehst du es gerade so hin, dass du keinen Erfolg haben kannst. Du musst dir mehr zutrauen.“

Haruka seufzte. Kazuki hatte leicht reden. Er hatte in seinem Leben bestimmt schon viele Erfolge in den unterschiedlichsten Bereichen erzielt. Ihm bereitete es gewiss keine Schwierigkeiten, jemanden anzusprechen, wenn er nicht weiter wusste. Bestimmt ging er ohne Bedenken auf einer Party auf Personen zu, die ihm fremd waren, um ein Gespräch mit ihnen zu beginnen. Sowieso wurde er sicherlich manchmal auf Partys eingeladen.

Bei ihr war das ganz anders. Sie konnte nicht so einfach auf andere Leute zugehen und mit ihnen sprechen oder sie nach etwas fragen. Was würden die dann von ihr denken? Sie würden sich  bestimmt gestört fühlen, wenn sie, Haruka, sich einfach in ein Gespräch einmischte. Und was würden sie erst denken, wenn sie nach der Uhrzeit fragte. Bestimmt würde sie dann als arme Schluckerin abgestempelt, die sich nicht einmal eine Uhr leisten konnte. Einen Jungen anzusprechen kam sowieso absolut nicht in Frage. Der würde sie abschätzig von oben nach unten angucken und sie vermutlich noch auslachen, wie sie es wagen konnte, sich mit ihm verabreden zu wollen.

Nein, da blieb sie lieber auf der sicheren Seite und ließ alles so weiterlaufen, wie es bisher gelaufen war. Denn dann hatte sie wenigstens die Gewissheit, dass sie nicht enttäuscht werden konnte. Klar, durch diese Haltung entging ihr einiges im Leben, aber dieses Opfer musste sie halt bringen. Und sie war auch bereit dazu, hieß das doch, dass sie ihre Sicherheit nicht aufgeben musste. Und Sicherheit war das wichtigste, was man sich nur denken konnte. Zumindest hatte ihre Mutter das immer und immer wieder gepredigt.

„Es bringt überhaupt nichts, wenn du ihr das sagst“, hörten die beiden Jugendlichen plötzlich eine Stimme hinter sich. Rasch drehten sie sich um und standen einem Mann gegenüber, der etwa Mitte 20 sein musste. Seine dunkelblaue Schuluniformjacke war aufgeknöpft, er hatte die rechte Hand in die Seite gestemmt und blickte die beiden jüngeren Schüler an.

„Sie muss selber aus sich heraus kommen“, fuhr der Fremde fort. „Sie hat sich in ein Schneckenhaus zurück gezogen und ist nicht bereit, es zu verlassen. Oh, ab und zu möchte sie ganz gerne mal gucken, wie es draußen so ist, aber in ihrem eigenen Haus ist es doch am sichersten und gemütlichsten.“

Unsicher blickte Kazuki von Haruka zu dem Fremden und wieder zurück.

„Kennst du ihn?“, fragte er das Mädchen, doch sie schüttelte nur den Kopf.

„Nein, wir kennen uns nicht“, bestätigte der Mann Harukas stumme Antwort. „Aber ich kenne einige, die genauso sind wie du, Mädchen. Und jede von ihnen hat es früher oder später bereut, dass sie sich nicht rechtzeitig aus ihrem Schneckenhaus getraut hat. Irgendwann wird es auch in deinem Leben ein Ereignis geben, dass dich zum Nachdenken bringen wird. Und du wirst dich von Woche zu Woche mehr hassen, weil du nicht das Selbstvertrauen entwickelt hast, dass es dir ermöglicht, ein Leben zu führen, wie es andere Teenager in deinem Alter tun.“

Haruka ließ die Rede mit gesenktem Kopf über sich ergehen, den Blick zu Boden gerichtet.

„Hören Sie auf. Sie machen ihr Angst“, sagte Kazuki.

„Angst? Angst sollte sie haben, wenn ihr einmal etwas passiert und sie nicht den Mut hat, um Hilfe zu bitten, weil sie anderen zur Last fallen oder man über sie schlecht reden könnte. Es kann zu Situationen kommen, mit denen du nicht alleine fertig wirst, Mädchen. Und an diesen Situationen wirst du zugrunde gehen. Das kann ich dir aus Erfahrung sagen.“

„Wie wäre es denn dann, wenn Sie ihr helfen, anstatt nur kluge Reden zu schwingen?“, fragte Kazuki aufgebracht.

Der Mann lachte. „Helfen kann ich ihr nicht. Helfen kannst du nur dir selbst. Du musst selbst wollen, dass sich dein Leben ändert. Du musst selbst wollen, dass du mehr Selbstvertrauen entwickelst und dich dem Leben stellst. Denn dann hast du das, wonach du dich im Grunde deines Herzens sehnst. Dann hast du das, was die Menschen um dich herum haben, die ins Kino eingeladen werden und sich nichts daraus machen, wenn ihnen mal ein Glas Cola umfällt. Weißt du, wie man das nennt, Mädchen? Das ist Freiheit. Echte und ungetrübte Freiheit.
Diese Freiheit hast du nicht. Du bist gefangen. Jemand hat dich eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen. Aber es liegt an dir, die Gitterstäbe zu bearbeiten und sie irgendwann zu zerstören. Doch du selbst musst es wollen. Und damit meine ich nicht ein ‚ach, wie wäre das schön, wenn’. Nein, du musst es wirklich und wahrhaftig wollen. Es muss wie ein Wunsch sein, den du dir unbedingt erfüllen musst, weil du es ohne ihn nicht eine Minute länger aushältst. Nur du allein hast die Möglichkeit, etwas an deinem Verhalten zu ändern. Das kann dir keiner abnehmen.“

Immer noch stand Haruka wie versteinert da. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Die Worte des Mannes rauschten in ihre Ohren und eine sehr leise Stimme in ihr sagte, dass es toll wäre, diese Freiheit, von der der Fremde geredet hatte, zu besitzen. Doch die andere Stimme war nicht bereit, ihre erlangte Sicherheit aufzugeben. Um die Freiheit zu erlangen, musste sie sich auf unsicheres Terrain begeben. Das war viel zu gefährlich.

Kazuki wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er stand unschlüssig herum. Bedroht wurden sie von dem Fremden nicht, trotzdem ahnte er, wie angreifend diese Worte für Haruka sein mussten.

„Bist du überhaupt bereit dazu?“, fragte der Fremde. „Willst du überhaupt diese Freiheit haben?“

Haruka schwieg. Es entstand eine lange Pause, in der der Mann auf eine Antwort des Mädchens wartete, aber sie kam nicht.

Schließlich blickte der Mann Kazuki an und sagte: „Soviel zum Thema Hilfe von anderen.“
Dann ging er ohne ein weiteres Wort zu verlieren davon.

Der Junge blickte seine Mitschülerin lange an, bevor die Glocke an die kommende Schulstunde erinnerte und die beiden Teenager das Schulgebäude betraten.

*****

Makoto und Tetsuya hatten zwei Freistunden, in denen sie krampfhaft überlegten, wie sie ihrer Strafarbeit entkommen konnten. Es stand natürlich überhaupt nicht zur Diskussion, dass sie diese zusätzliche Bürde erledigen würden. Demzufolge mussten sie jemanden finden, der bereit war, diese Aufgabe zu übernehmen.

„Vergiss es“, meinte Makoto. „Wir finden garantiert keinen, der so idiotisch ist, die Zusammenfassungen zu schreiben. Und dann auch noch in zwei verschiedenen Formulierungen.“

Tetsuya knetete seine Unterlippe. Dann schnippte er mit den Fingern und fragte: „Was bist du denn bereit, dafür zu geben, wenn du die Strafarbeit nicht absolvieren musst?“

„Alles“, antwortete der Zwillingsbruder wie aus der Pistole geschossen.

„Bist du dir da ganz sicher?“

„Logisch. Weißt du, wie viel Freizeit uns diese Strafarbeit kosten wird?“

„Ja, das weiß ich. Aber bist du wirklich sicher, dass du auch das, was du am allerliebsten hast, hergeben würdest, um der Plackerei zu entgehen?“

„Ja, bin ich“, sagte Makoto nach einiger Überlegung mit fester Stimme.

„Gut, dann verabschiede dich schon mal von deinem blauen Drachen.“

„Was? Geht’s dir noch gut? Das ist die mächtigste Karte, die ich besitze. Weißt du, wie viel ich investiert habe, um diese Karte zu bekommen?“ Makoto konnte nicht glauben, dass sein Bruder es wirklich ernst meinte. Schon vier Jahre sammelte er die Trading Cards zum Spiel „Drachenzauber“. Und seit mittlerweile zweieinhalb Jahren versuchte er, den blauen Drachen zu ergattern, eine der mächtigsten Karten, die es in dem Spiel gab. Vor etwa zwei Monaten war es ihm gelungen, diese Karte zu bekommen und er hatte einen horrenden Preis dafür gezahlt.

„Du hast doch die Karte dabei, oder?“

„Frag nicht so dumm“, regte sich Makoto auf. „Du weißt ganz genau, dass ich nie ohne Drachenzauber aus dem Haus gehe.“

„Wenn ich dir versichere, dass du überhaupt nichts verlierst, wenn du deine Karte für die Strafarbeit eintauscht, trennst du dich dann von ihr?“

„Das kannst du mir gar nicht versichern. Wenn ich sie verschenke ist sie weg, oder? Und ich kriege diese Karte nicht wieder zurück.“

„Stimmt. Dein blauer Drache ist dann verloren. Aber immerhin musst du die Strafarbeit nicht machen. Und, wie schon gesagt, du wirst nichts verlieren. Das kann ich dir versprechen.“

„Du bist wirklich nicht mehr ganz dicht. Vergiss es. Ich gebe den blauen Drachen nicht her. Auf gar keinen Fall. Lieber mache ich die Strafarbeit.“

„Okay, ganz wie du willst. Ich jedenfalls habe keine Lust, diese blöde Zusammenfassung zu schreiben.“

Tetsuya ging über den Schulhof.

„Hey, wo willst du hin?“, fragte Makoto.

„Ich will der Zusammenfassung entgehen. Aber ich komme gleich wieder. Warte hier.“

Stirnrunzelnd beobachtete Makoto, wie sein Bruder über den Schulhof auf Ken zuging. Makoto konnte sehen, wie Tetsuya ein paar Worte mit Ken wechselte und ihm dann etwas in die Hand drückte. Ken schien vollkommen aus dem Häuschen zu sein und Makoto begann langsam zu begreifen. Dieser elende Mistkerl.

Schnell öffnete der Zwillingsjunge seine Schultasche und zerrte die Trading Cards heraus. Ein kurzes Blättern, ein Griff – und er hielt den blauen Drachen in der Hand. Jetzt verstand er überhaupt nichts mehr. Sein blauer Drache war immer noch da. Anfangs hatte Makoto gedacht, dass sein Bruder diesen einfach aus seiner Sammlung genommen und jetzt gegen die Strafarbeit eintauschen wollte. Denn Makoto wusste ganz genau, dass Ken ebenfalls Karten für „Drachenzauber“ sammelte.

Was ging hier vor? Ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, packte der Junge seine Karten wieder in die Tasche. Dann sah er, wie Tetsuya übers ganze Gesicht grinsend wieder zu ihm kam.

„Was war denn das?“, wollte Makoto wissen.

„Ich habe mich gerade von dieser Schwachsinnsarbeit befreit.“

„Du willst mir aber nicht sagen, dass Ken jetzt die Strafarbeit für dich übernimmt."

„Du solltest Detektiv werden. Genau so ist es.“

„Und was hast du ihm dafür gegeben?“

„Den blauen Drachen.“

„Aber nicht meinen. Der befindet sich nämlich immer noch in meiner Sammlung.“

„Du glaubst tatsächlich, dass ich dich beklauen würde?“ Ernsthaft schockiert sah Tetsuya seinen Bruder an. Dieser blickte betreten zu Boden.

Tetsuya schüttelte fassungslos den Kopf, bevor er sagte: „Ich habe gestern an der Bushaltestelle ein paar Karten gefunden, die offensichtlich jemand dort verloren hat. Darunter war der blaue Drache. Deswegen wärst du auch kein Risiko eingegangen, denn ich hätte ihn dir gegeben. Es macht mich wirklich traurig, dass du mir eine solche Gemeinheit zutraust.“

Tetsuya stand auf und trottete langsam die Treppe ins Schulgebäude hinunter. Makoto lief ihm hinterher.

„Es tut mir leid. Entschuldige. Aber dein Vorschlag war auch nicht gerade fair. Du hast von mir verlangt, etwas mir wirklich wichtiges aufzugeben. Und ich konnte ja nicht wissen, dass du den Drachen noch einmal hattest. Mich vor eine solche Wahl zu stellen ist ebenfalls ziemlich gemein.“

Makoto hielt seinen Bruder am Arm zurück und blickte ihm in die Augen.

„Dich als Dieb zu verdächtigen war echt mies. Ich kann es nicht zurücknehmen. Aber ich will, dass wir uns wieder vertragen.“

Tetsuya hielt dem Blick seines Bruders lange stand. Dann sagte er: „Du hast vollkommen recht. Aber gib mir nie wieder das Gefühl, als Dieb dazustehen, der seinen eigenen Bruder bestiehlt.“

Blitzschnell nahm Tetsuya Makoto in den Schwitzkasten und rieb seine Fingerknöchel durch sein Haar.

„Gehen wir ins Schülercafé?“, schlug Tetsuya vor, nachdem er seinen Bruder wieder frei gelassen hatte.

„Gute Idee. Ich bekomme meinen Kakao als erster.“

„Das glaubst du ja wohl selber nicht.“

„Wetten wir? Um einen halben Dollar?“

Tetsuya schlug ein und gemeinsam machten sich die beiden Zwillinge auf zum Schülercafé, das nur ein paar Straßen entfernt von der Schule lag. Hier waren in Freistunden und auch nach der Schule immer wieder Schüler zu sehen, daher hatte das Café seinen Namen. Eigentlich war diese Art von Geschäft in Amerika überhaupt nicht üblich, aber der Inhaber, ein Österreicher, hatte es einfach gewagt und in Carlton dieses Kaffeehaus gebaut. Von Anfang an war es der Renner gewesen.
Die Tetsuya-Zwillinge waren häufiger hier anzutreffen. Neben den köstlichen Kuchen und den Kaffee- und Kakaovariationen hatte es ihnen besonders Mary angetan, die im Café die Gäste bediente. Die Bedienung war nicht nur höflich und zuvorkommend, sondern ließ sich immer gerne auf einen kleinen Flirt mit den Zwillingen ein.

Wie jedes Mal öffneten die Zwillinge die Tür, sagten gleichzeitig „Guten Tag“ und setzten sich dann an ihren Stammplatz, der fast immer um diese Zeit für sie zur Verfügung stand, denn tagsüber war nicht allzu viel los. Der Hauptbetrieb ging am Abend über die Bühne und am Wochenende den ganzen Tag, was den Zwillingen aber egal war, denn dann fand sowieso kein Unterricht statt.

Mary kam an ihren Tisch und Tetsuya bestellte zwei Karamellschokoladen.

„Nanu, sonst bestellt aber jeder von euch etwas anderes.“

„Das hat schon seine Richtigkeit“, versicherte Makoto ihr.

„Der Kunde ist Zwilling“, meinte Mary und ging hinter die Theke, um die Kakaos zuzubereiten.

„Jetzt weiß sie aber , wer von uns beiden wer ist. Sie hat uns an unserer Stimme erkannt.“

Tetsuya stand auf. „Dann müssen wir halt auf die Toilette gehen, wieder hereinkommen, uns woanders hinsetzen und kein Wort mehr sagen.“

Also standen die beiden Jungen auf und begaben sich in den Waschraum der Toilette, wo sie eine Minute verweilten und sich über leicht verdiente halbe Dollar unterhielten, bevor sie wieder in den Schankraum traten und sich an einen anderen Platz setzten.

„Was ist denn heute mit euch los? Habt ihr giftige Pilze gegessen?“, erkundigte sich Mary, aber ein Grinsen der beiden Jungen war die einzige Antwort, die sie erhielt.

Nach ein paar Minuten kam sie mit zwei Bechern an den Tisch der Zwillinge. Makoto hielt die Luft an und ein wildes Triumphgeheul entlud sich in seinem Inneren, als Mary den ersten Kakao vor ihm auf den Tisch stellte.

„Ich kriege einen halben Dollar von dir“, grinste er diebisch. Dann sah er Mary an und erzählte ihr von der Wette, bevor er seine Tasse anhob und einen Schluck trank.

„Ihr solltet wirklich mal zum Arzt gehen“, meinte Mary kopfschüttelnd.

„Wenn Sie als Schwester mitkommen, dann würden wir sogar mehrmals am Tag den Arzt aufsuchen“, schmunzelte Tetsuya und blickte Mary aus den Augenwinkeln an.

„Tja, dann werde ich mal gucken, ob ich irgendwo bei einem Urologen anfangen kann“, entgegnete die Bedienung trocken und Tetsuya verzog schmerzhaft das Gesicht.

„Übrigens, du siehst unheimlich süß aus, wenn du Sahne auf der Lippe hast“, flüsterte sie Makoto zu, der auf der Stelle krebsrot im Gesicht wurde.

„Da haben Sie es besser“, gurrte Tetsuya. „Sie haben keine Sahne nötig, um gut auszusehen.“

Mary lachte. „Dann werde ich mich jetzt wohl lieber wieder hinter den Tresen verziehen, bevor ihr auf die Idee kommt, hier noch ein Bett für uns drei aufzustellen.“

Die Zwillinge waren sich einig. Dieses Café war wirklich der coolste Ort in ganz Carlton.

*****

„Wunderschön ist es hier.“

Isamu nickte.

„Immer wenn ich hierher komme, dann ist dieser Ort für mich etwas ganz Besonderes. Und vor allem, wenn keine Schüler hier sind. Dieses Plätschern der kleinen Fontäne hat eine ganz beruhigende Wirkung auf mich. Dieser Teich hier ist wirklich wunderbar, ein kleiner magischer Ort der Ruhe in einer ansonsten so hektischen und betriebsamen Umgebung. Das ist es, was ich unter Entspannung verstehe.“

Die Frau, die neben ihrem Kollegen hockte, schöpfte aus dem Teich, der sich mitten im Park auf dem Gelände der Carlton Jouchi Daigaku befand, eine Handvoll Wasser und ließ ihn plätschernd wieder zurück in den Teich rinnen. Dann stand sie auf und richtete ihren Blick auf Isamu Akabashi.

„Aber du bist sicher nicht hier, um mit mir über die Schönheit des Parks und dieses Teiches zu reden.“

„Richtig. Es geht um etwas anderes.“

„Und deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, um etwas, was ein wenig problematischer und komplizierter ist.“

Isamu schwieg abermals.

„Komm, setzen wir uns“, schlug seine Kollegin Akira vor und nahm auf einer der Bänke, die neben dem Teich aufgebaut waren, Platz. Der Japanischlehrer setzte sich neben sie. Akira sagte kein Wort, wartete nur darauf, dass ihr Kollege von sich aus das Gespräch begann.

„Eine Schülerin hat sich in mich verliebt.“

Was immer Akira auch erwartet hatte, das war es auf keinen Fall gewesen. Sie holte überrascht Luft.

„Wer es ist , spielt keine Rolle“, sagte Isamu, obwohl Akira ihn überhaupt nicht danach gefragt hatte.

Nach einer längeren Pause fragte Akira ihren Kollegen: „Wie lange ist sie schon in dich verliebt?“

Isamu zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Schon eine ganze Zeit. Und sie steigert sich immer tiefer in die Vorstellung hinein, dass ich sie auch liebe.“

„Was du aber nicht tust.“

Isamu schüttelte den Kopf. Weitere Sekunden des Schweigens breiteten sich aus. Akira konnte sich vorstellen, dass es für ihren Kollegen sehr schwer war, über diese Situation zu reden, daher ließ sie ihm alle Zeit, um sich zu sammeln.

„Ich habe ihr keinen Grund gegeben, zu denken, dass ich auch in sie verliebt sein könnte. Ich behandele sie so, wie jeden anderen meiner Schüler. Aber sie versucht es ständig aufs Neue. Sie versucht sich mit mir zu verabreden, sie macht mir Geschenke, sie will mir gefallen und tut alles dafür. Sie lernt die ganze Zeit, um die besten Arbeiten zu schreiben. Aber das tut sie nicht für sich, sondern um mir zu gefallen.“

Dann hat das ganze doch wenigstens etwas Gutes, wollte Akira sagen, aber sie biss sich noch rechtzeitig auf die Zunge.

„Du weißt, dass es mit jeder Stunde, die du dieses Spiel mitspielst, gefährlicher für dich wird.“

Isamu nickte. Natürlich war ihm das klar. Aber er wusste einfach nicht mehr weiter.

„Ich will ihr nicht wehtun.“

„Darauf wird es aber hinaus laufen. Du kannst das gar nicht verhindern. Egal, welche Worte du auch wählst, wenn sie begreift, dass sie keine Chance hat, dann wird sie furchtbar verletzt und traurig, sogar vielleicht wütend sein. Aber das Leben mit dir existiert nur in ihrem Kopf. Du musst sie auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Und den Schmerz, den das für sie mit sich bringt, den kannst du nicht verhindern.“

„Ich weiß“, sagte Isamu leise.

„Du musst es beenden. Ansonsten wird es schlimmer und schlimmer. Ich weiß, dass es eine große Überwindung für dich bedeutet, ihr das anzutun. Aber wenn du sie weiter agieren lässt, dann zerstört sie euch beide.“

Erneut sagte niemand ein Wort, bis Akira das Schweigen brach.

„Glaube mir, ich weiß, wozu sich das ganze entwickeln kann. Zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber durch meinen Mann. Bei ihm war es allerdings umgekehrt, er hatte sich in eine Schülerin verliebt. Diese war sogar volljährig. Ich weiß nicht, wie es bei deiner Schülerin aussieht. Sie haben sich heimlich getroffen. Es wäre noch jahrelang so weiter gegangen. Nur durch einen dummen Zufall ist die ganze Geschichte aufgeflogen. Und es kam so, wie es kommen musste. Er wurde vom Dienst suspendiert. Sie hat sich umgebracht. Ihre große Liebe durfte nicht mehr bei ihr sein, also hat sie beschlossen, ohne ihn nicht mehr zu leben und ist vor einen Zug gesprungen. Zwanzig Jahre war sie erst jung.“

Isamu hob den Kopf etwas, schaute seine Kollegin allerdings nicht an. Es war das erste Mal, dass er von dieser Geschichte hörte. Und er begann zu begreifen, wohin das ganze führen konnte, wenn er nicht allen Mut zusammen nahm und mit Kagura Tacheles redete.

„Sprich so schnell wie möglich mit ihr“, sagte Akira. Dann standen sie beide auf und gingen zur Schule zurück. Es gab nichts mehr zu sagen.

*****

„Dieses elende Miststück!“

Laut schrie Chiyo ihre Wut über den Schulhof. Inu war bei ihr, denn auch sie hatte eine Freistunde. Chiyo hatte sich dazu entschlossen, nicht an der nächsten Unterrichtsstunde teilzunehmen, sondern erst einmal den Blazer zu wechseln, der beim Kampf mit Kazumi ziemlich gelitten hatte. Nicht nur, dass der gesamte Rücken mit Grasflecken übersät war. Es hatte außerdem noch ein Knopf von der Schuluniformjacke dran glauben müssen und der linke Ärmel war an der Schulter eingerissen. In diesem Aufzug wollte sich Chiyo nicht in die Klasse wagen. Sie konnte es sich schenken, sich dumme Bemerkungen von den Schülern, die nicht wussten, was vorgefallen war, anhören zu müssen. Und nun war sie auf dem Weg nach Hause. Zum Glück hatte sie es nicht weit.

„Was bildet die sich eigentlich ein? Wenn ich sie in die Finger kriege, dann wird sie den Tag verfluchen, an dem sie zur Welt gekommen ist. Ich drehe ihr eigenhändig den Hals um.“

„Du hast es ihr aber schlimmer gegeben“, versuchte Inu sie zu beruhigen.

„Na und? Ich habe es aber nicht geschafft, sie umzubringen. Und nur darauf kommt es an“, kreischte Chiyo.

„Vielleicht hast du es ihr ja so sehr gezeigt, dass sie überhaupt keine Lust verspürt, dir jemals wieder über den Weg zu laufen.“

„Das wäre für sie am gesündesten. Denn wenn sie mir noch einmal über den Weg läuft, hat sie schneller ein Messer im Bauch, als sie gucken kann. Und den Rücken sollte sie mir besser auch nicht zudrehen.“

Inu begriff, dass es keinen Zweck hatte. Egal, was sie auch sagte, Chiyos Zorn konnte sie damit nicht besänftigen.

„Aber eines kann ich dir versichern“, sagte Chiyo etwas ruhiger. „Ich werde mir diesen Jungen an Land ziehen. Und es wäre besser, diese Dreckskuh kommt mir dabei nicht ins Gehege. Ich weiß nur noch nicht, wie ich das anstellen soll. Ich meine, ich kenne ihn ja noch nicht mal. Also muss ich irgendwie seinen Namen herausfinden.“

„Wie wäre es, wenn du einfach jemanden fragst?“, schlug Inu vor.

„Nein, das geht nicht. Das wäre zu auffällig. So könnte der Neue zu leicht dahinter kommen, dass ich mich an ihn heranmachen will. Ich muss auf irgendeine andere Art und Weise an seinen Namen gelangen. Und zwar ohne, dass ich jemanden frage.“

„Vielleicht steht sein Name in einem seiner Schulbücher.“

„Das wäre möglich“, antwortete Chiyo. „Also müsste ich irgendwie an eines seiner Schulbücher herankommen. Das ist mit einem Risiko verbunden. Und wenn dann sein Name gar nicht im Buch steht?“

Inu zuckte mit den Schultern. An diese Möglichkeit hatte sie nicht gedacht.

„Auch dieser Plan fällt also flach.“

„Du kannst ja zu Hause in aller Ruhe überlegen, wie du es anstellen willst, an den Namen des Jungen zu kommen.“

Chiyo sah ihre Freundin an.

„Das brauche ich mir gar nicht zu überlegen. Denn ich habe soeben eine Lösung gefunden. Du wirst ihn für mich fragen.“

Inu riss die Augen auf. „Ich?“

„Ja. Auf diese Weise schöpft er keinen Verdacht. Überlege dir mal eine Situation, in der er dir seinen Namen verraten würde. Und dann darfst du dir einen Schlachtplan überlegen.“

Chiyo grinste so triumphierend, dass Inu nicht wagte, zu widersprechen. Aber sie wusste, dass sie ganz schlecht darin war, andere Leute auszuhorchen. Außerdem war sie auch sehr schlecht darin, irgendwelche Pläne zu schmieden. Aber jetzt musste sie wohl in den sauren Apfel beißen.

*****

Auch Kazumi war stinksauer. Sie hatte sich zu leicht überrumpeln lassen. Und sie war auch darüber wütend, dass es Chiyo am Ende gelungen war, die Oberhand zu gewinnen.

Kazumi stöhnte. Ihr gesamter Körper tat ihr weh. Vor allem machte ihr der Boxhieb in den Bauch am meisten zu schaffen. Sie presste ihre Hand auf den Bauch und verließ gekrümmt das Schulgelände.

Sie musste sich auf eine eventuelle nächste Konfrontation besser vorbereiten. Denn dass diese kommen würde, stand so sicher fest, wie die Tatsache, dass die Sonne am nächsten Tag die Erde wieder in helles Licht tauchte.

Trotz ihrer Schmerzen konnte Kazumi ein Lächeln nicht unterdrücken. Endlich hatte es jemand dieser Plage einmal gezeigt. Niemand wagte es, sich offen gegen Chiyo aufzulehnen, aber sie, Kazumi, hatte ein Beispiel dafür gegeben, dass man sich von Chiyo nicht alles gefallen lassen sollte. Und darauf war sie stolz. Diesen Kampf hatte sie zwar verloren, aber die Schlacht war noch lange nicht zu Ende.

Das Mädchen dachte nach. Auch sie hatte den gut aussehenden Schüler bemerkt, als sie kurz hingeschaut hatte. Vergessen würde sie ihn nicht. Sie nahm sich vor, ihn bei nächster Gelegenheit vor Chiyo zu warnen. Dieses Aas durfte diesmal nicht mit ihrem miesen Plan zum Erfolg kommen. Sie würde dafür sorgen, dass Chiyo sich an dem Jungen die Zähne ausbiss.

Und wenn Chiyo ihre Bemühungen mitbekam? Das interessierte Kazumi überhaupt nicht. Sollte sie doch ruhig. Zur Feindin hatte sie sich Chiyo ohnehin schon gemacht. Also konnte sie die Feindschaft auch offen ausleben, indem sie zukünftig jeden Jungen, von dem sie erfuhr, dass er eine Beute für Chiyo werden sollte, über dieses hinterhältige Weib aufklärte.

Diese Genugtuung würde sogar die Prügel, die sie heute bezogen hatte, vergessen machen.

*****

Takeo stand vor dem Schulgebäude und wartete darauf, dass er von seiner Mutter abgeholt wurde. Um die Mittagszeit hatte er sie angerufen und ihr die Uhrzeit mitgeteilt, zu der für ihn der Unterricht beendet war. Und da Aya zu dem Zeitpunkt nichts anderes vor hatte, hatte sie sich bereit erklärt, ihren Sohn vor der Schule ins Auto zu packen und mit ihm nach Hause zu fahren.

Der Junge ließ ihn noch einmal gedanklich Revue passieren und stellte fest, dass er von zahlreichen Hochs und Tiefs begleitet worden war. Alles hatte mit der Begegnung mit Mister Takeshi angefangen, die nicht gerade dazu beigetragen hatte, dass Takeo sich an der Carlton Jouchi Daigaku wohl gefühlt hatte. Das hatte sich aber schlagartig geändert, als er in seine neue Klasse gekommen war und Chizuru kennen gelernt hatte. Sie war wirklich sehr nett und hatte ihm in der kleinen Pause noch mehr von der Schule gezeigt.

Der Teenager war zum Kiosk gelotst worden, der sich neben dem Pausenhof unter einer Überdachung befand und an dem man jede Menge Süßigkeiten, Obst, belegte Baguettes, Salate, kalte und heiße Getränke und vieles mehr erwerben konnte, was einen über den Schultag rettete.

Takeo war fassungslos gewesen, als Chizuru ihm mitgeteilt hatte, dass es hier sogar einen eigenen Gymnastikraum gab. Natürlich zusätzlich zur obligatorischen Turnhalle.

Der Erste-Hilfe-Raum befand sich im ersten Stock und auch zu diesem war Takeo geführt worden. Wie seine Sitznachbarin ihm erzählte, wurde dieser Erste-Hilfe-Raum gut besucht.
Der Minami-Nachwuchs nahm sich vor, diesen Raum möglichst selten in Anspruch zu nehmen.

Das erste Mittagessen in der neuen Schule war gar nicht so übel gewesen. Es hatte leckeren Nudelauflauf gegeben, der bei den Schülern regen Anklang gefunden hatte.

Ein paar Stunden später war dann die Schlägerei am Teich vorgefallen, an der dieses Mädchen beteiligt war, vor der Takeo von allen gewarnt worden war.

Alles in allem war es ein ziemlich ereignisreicher Tag gewesen. Die Befürchtung, von seinen Klassenkameraden nicht akzeptiert zu werden, war vollkommen unbegründet gewesen. Im Gegenteil, sogar aus anderen Klassen hatte der Junge einige Schüler kennen gelernt.
Doch, der erste Schultag war okay gewesen.

Nachdem der Unterricht beendet war, war Takeo mit seiner Sitznachbarin den Weg bis zum Steintor gegangen. Sie musste mit dem Bus nach Hause fahren und so hatten sich die beiden Jugendlichen vor dem Eisentor voneinander verabschiedet. Der Junge freute sich schon darauf, seine Klassenkameradin am folgenden Tag wiederzusehen. Sie hatte ihm in groben Zügen erklärt, was in den Wochen, die er versäumt hatte, an Unterrichtsstoff durchgenommen worden war. Es war eine ganze Menge, aber er würde von Chizuru Unterstützung bekommen, worüber er sehr froh war. Es machte viel mehr Spaß, mit jemandem zusammen zu lernen.

Takeo holte den Tannenzapfen hervor, den er immer in der Jackentasche trug und vertrieb sich die Wartezeit damit, ihn in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. Das tat er öfter, wenn er sich langweilte, über irgend etwas nachdachte oder nervös war und sich ablenken wollte. Der Tannenzapfen bedeutete für ihn das, was für andere Leute die Zigarette bedeutete.
Und er konnte sich stundenlang mit diesem Gegenstand beschäftigen.

„Hey“, wurde der siebzehnjährige plötzlich angesprochen. Er schloss seine Finger um seinen Zeitvertreib und blickte zur Seite. Neben ihm stand ein Junge, der etwa in seinem Alter sein musste. Er war ein wenig kleiner als Takeo, hatte schwarze Haare und trug ein rot-weiß kariertes Hemd, blaue Jeans und Chucks.

Der Junge musterte Takeo von oben bis unten und fragte dann ganz unvermittelt: „Bist du Takeo Minami?“

Der angesprochene Jugendliche war verblüfft. Er hatte den Jungen noch nie in seinem Leben gesehen und fragte sich, woher dieser ihn kennen konnte.

„Ja“, antwortete er zögernd. „Warum?“

Der fremde Boy schaute ihn lange an, so als wolle er sich sein Gesicht einprägen.

„Ist schon gut“, sagte er dann und ging an Takeo vorbei.

Im ersten Moment war der neue Schüler vollkommen verblüfft, dann rief er dem Jungen ein „Hey“ hinterher, doch dieser lief einfach weiter, ohne sich um Takeo zu kümmern. Der nächste Impuls war, hinter dem Kerl herzulaufen und ihn zur Rede zu stellen, aber in diesem Moment bremste der Honda mit seiner Mutter am Steuer neben ihm. Sie öffnete die Beifahrertür und der Teenager stieg ein, nicht ohne noch kurz dem Jungen, der ihn angesprochen hatte, hinterherzublicken.

„Na, wie war der erste Schultag“, erkundigte sich seine Mutter, nachdem sie den Wagen wieder in Bewegung gesetzt hatte.

„Sehr abwechslungsreich. Es gab eine Schlägerei.“

„An der du hoffentlich nicht beteiligt warst.“

„Nein, sonst sähe meine Uniform ganz anders aus“, grinste Takeo.

*****

Etwa eine halbe Stunde später rollte der Wagen auf die große runde Hofeinfahrt, umrundete halb den Brunnen und hielt vor der Treppe, die zur Eingangstür führte. Das Haus, in dem die Familie Minami wohnte, war gut und gerne pompös zu nennen. Schon von außen sah es gewaltig aus. Innen befanden sich zweiundvierzig Zimmer, die auf zwei Etagen verteilt waren.

Die Eingangshalle, die Takeo und seine Mutter betraten, nachdem sie geklingelt hatten und ihnen die Tür von ihrem Majordomus Hiru geöffnet worden war, war ebenfalls kreisrund und führte gegenüber der Eingangstür zu einer großen Treppe, die an der Seite eines Ganges lag, der links und rechts von der Eingangshalle fort führte. Hiru begrüßte Aya und ihren Sohn und nahm ihnen die Jacken ab. Während Aya rechts den Gang entlang ging, blieb Takeo mit Hiru noch am Fuss der Treppe stehen.

„Hat dir der erste Schultag gefallen?“

„Im Grunde schon.“

„Was war denn nicht so toll?“

Takeo seufzte. „Sie wollen so viel von mir wissen. Wo ich bisher zur Schule gegangen bin, wo ich wohne, was meine Eltern arbeiten.“

„Es ist ganz normal, dass deine Mitschüler sich für dich interessieren. Immerhin gehörst du jetzt zu ihnen und da wollen sie natürlich wissen, mit wem sie es zu tun haben.“

„Das ist ja auch in Ordnung. Aber einige Fragen will ich einfach nicht beantworten.“

„Welche Fragen sind das?“, wollte Hiru wissen.

„Naja, wo ich wohne und was Dad beruflich macht. Und das will ich denen halt nicht sagen.“

Schämst du dich für deinen Vater?“

Takeo fuhr erschrocken zurück. „Nein, natürlich nicht.“

„Dafür gibt es auch überhaupt keinen Grund. Dein Vater hat großartiges geleistet. Er hat ein enormes Risiko mit seiner Fabrik auf sich genommen. Alles, was er besessen hat, hat er in seinen Traum gesteckt. Und glücklicherweise ist dieser in Erfüllung gegangen. Er hätte auch scheitern können und dann wäre alles verloren gewesen. Dein Vater hat sehr hart gearbeitet und tut es auch noch. Nur dadurch ist seine Firma gewachsen und hat nun Filialen überall in den Staaten und in Japan.“

„Ja, ich weiß. Und ich weiß auch, dass ich stolz auf meinen Vater sein kann. Ich mag halt nicht zugeben, dass ich ein anderes Leben führe, als meine Mitschüler. Sie würden mich sicher anders behandeln, wenn sie wüssten, dass wir sehr reich sind und mein Vater Eigentümer der Spielwarenfabrik ist, von denen sie monatlich mindestens ein Produkt kaufen. Sie würden mich vermutlich wegen meines Geldes mögen. Vermutlich würden mich deswegen sogar Teenies gut leiden können, die mich sonst nicht mit dem Hintern angucken würden. Und das will ich nicht.“

Hiru nickte. „Das kann ich gut verstehen.“

Zwischen Takeo und dem Majordomus bestand ein besonderes Verhältnis. In Gegenwart von Takeos Eltern redeten die beiden so miteinander, wie es sich zwischen Diener und Bediensteten gehörte. Doch wenn die beiden unter sich waren, dann entstand zwischen ihnen ein freundschaftlicher Ton. Und Hiru konnte sich gegenüber dem Jungen Dinge herausnehmen, die er sich vor seinem Chef niemals erlaubt hätte. Beispielsweise konnte er dem Jungen ohne schlechtes Gewissen Fragen stellen, die sich ansonsten von selbst verboten.

Doch trotz ihres freundschaftlichen Verhältnisses hatte Takeo an seinem siebzehnten Geburtstag darauf bestanden, dass Hiru ihn weiterhin duzte, wie er es schon immer getan hatte. Der Junge fand es albern, dass der Majordomus plötzlich auf die Anrede „Sie“ übergehen wollte, wo er Takeo schon kannte, seit er ein Baby gewesen war. Auf der anderen Seite wollte Takeo nicht darauf verzichten, Hiru weiterhin mit „Sie“ anzureden.

„Hast du denn vor, es deinen Mitschülern irgendwann einmal zu erzählen?“

„Ich weiß noch nicht. Vielleicht nicht allen, sondern nur ein paar ausgewählten, von denen ich mir sicher sein kann, dass sie es nicht weitererzählen werden. Aber das wird sicher noch eine Weile dauern.“

„Abgesehen davon gefällt dir die Schule aber?“, erkundigte sich Hiru.

„Ja, es ist schon toll dort. Ich habe zwar viel Stoff versäumt, aber den werde ich schon aufholen. Und meine Mitschüler sind auch ziemlich nett.“

„Dann wünsche ich dir, dass du morgen einen ebensolchen tollen Tag hast“, sagte der Majordomus. „Ich muss jetzt mal in der Küche nach dem Rechten sehen. Stell dir vor, irgend jemand hat angeordnet, dass es heute Sushi zum Abendessen geben soll. Wenn ich den in die Finger bekomme, dann kann er was erleben.“

Takeo lachte und stieg die Treppe hinauf, da sich sein Zimmer im Obergeschoss befand. Noch während er seine Füße auf die Stufen setzte, hörte er, wie das Telefon klingelte. Es läutete dreimal, dann war es still.

Der Junge hatte den mittleren Treppenabsatz erreicht und erklomm die restlichen Stufen, die in den ersten Stock führten.

„Takeo“, hörte er Hirus Stimme, die ihn vom Fuß der Treppe her rief. Schnell drehte er sich um und lief die Stufen wieder hinunter, bis er den Majordomus sehen konnte.

„Ja“, rief er ihm zu.

„Da ist ein Gespräch für dich.“

Der Junge runzelte die Stirn. Wer rief ihn hier an? Vielleicht war es einer von seinen Freunden, die er in Houston gehabt hatte. Trotzdem fragte er bei Hiru nach.

„Wer ist es denn?“

„Ein gewisser Jack“, antwortete Hiru.

„Jack?“, fragte Takeo nach. Er kannte niemanden, der Jack hieß, da war er sich ganz sicher. Dennoch lief er zum Telefon, das um die Ecke am Fuß der Treppe stand und bedankte sich bei Hiru, bevor er den Hörer aufnahm, der neben dem Apparat auf einem Beistelltisch lag.

„Minami junior“, meldete er sich. Doch vom anderen Ende der Leitung erfolgte keine Antwort.

„Hallo“, sagte Takeo, denn sein Gesprächspartner war noch in der Leitung, das war zu hören. Doch plötzlich knackte es und das Gespräch war unterbrochen. Sein Gesprächspartner hatte einfach aufgelegt.

Nachdenklich hielt der Teenager den Hörer von seinem Ohr weg und blickte diesen an. Das war wohl ein Telefonstreich gewesen. Diese Vemutung lag nahe, aber sie erklärte nicht, wieso der Anrufer ausdrücklich nach Takeo verlangt und nicht gleich, nachdem Hiru den Anruf entegegen nahm, aufgelegt hatte.



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