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Kommentare zu "Einbruch"

Schon seit einer Ewigkeit, so kam es Tetsuya vor, hielt sich sein Bruder im Badezimmer auf. Es war fast immer der Fall, dass Makoto eine viel längere Zeit im Bad benötigte. Keine Ahnung, womit sich Makoto die Minuten vertrieb. Vielleicht strickte er an einem Pullover und wollte diesen aus irgendeinem unerfindlichen Grund nur auf der Toilette bearbeiten. Oder er züchtete irgendwo in einem Hohlraum merkwürdige Tiere. Tetsuya war es ja auch ziemlich egal, was sein jüngerer Bruder im Bad machte, wenn dieser Zeitdruck nicht wäre.

Jeden Morgen wurde das Klingeln des Weckers ignoriert und die Zwillinge blieben noch ein wenig im Bett liegen. Es grenzte sehr an menschlicher Folter, wenn man sofort aufstehen musste. Wenn sich die beiden Jungen dann aus den Federn bequemten, war der Zeitpuffer ausgereizt, so dass sie sich immer beeilen mussten, wenn sie nicht zu spät in die Schule kommen wollten. Tetsuya war dann der erste, der das Badezimmer in Beschlag nahm, denn wenn er seinem Bruder den Vortritt lassen würde, würde er garantiert nicht rechtzeitig zur ersten Stunde im Klassenzimmer sitzen. Natürlich war dadurch, dass die Zwillinge sich sehr beeilen mussten, an ein ordentliches Frühstück überhaupt nicht zu denken. In der Zeit, in der sich Tetsuya im Bad aufhielt, bereitete Makoto für sie Kaffee zu. Das musste bis zur ersten Pause reichen.

„Könntest du dein Rouge bitte ein bisschen schneller auflegen? Wir müssen los“, rief Tetsuya durch die geschlossene Badezimmertür.

„Bin gleich fertig“, ertönte die Antwort.

Gleich kann früher oder später sein, dachte sich Tetsuya, und im Falle von Makoto war es fast immer später. Seufzend drehte sich der ältere Zwillingsjunge um und begab sich wieder ins Wohnzimmer. Die Wohnung der Sakurai-Junioren war ziemlich groß. Ein gewaltiges Wohnzimmer schloss sich an den Flur an, in dem gegenüber der Tür auf einem Fernsehtisch ein Flachbildfernseher stand. An der rechten Seite neben dem Gerät war eine Regalwand angebracht, in der viele DVDs und CDs zu finden waren. Links befand sich ein weiteres Regal, das mit Videospielen zahlreicher Konsolen bestückt waren. Zwei dieser Konsolen, eine Playstation und eine Wii befanden sich auf einer breiten Lade, die unter dem TV-Gerät angebracht war und sich ausziehen ließ. Unterhalb dieser Lade gab es rechts und links noch jeweils ein Fach, in dem eine Gamecube und andere Konsolen nebst Kabeln und Controllern, sowie weitere Handhelds verstaut waren.

Ging man vom Fernseher aus zwei große Schritte nach hinten, so erreichte man das Sofa, das vor einem Glastisch stand, auf dem eine Fernsehzeitung lag. Ansonsten war noch ein großer hölzerner Esstisch, um den vier Stühle gruppiert waren und zwei weitere Schränke mit Büchern, Geschirr und Papieren im Wohnzimmer vorhanden. Auf dem Esstisch standen zwei Laptops. Natürlich wurde auf der Carlton Jouchi Daigaku mit Notebooks gearbeitet, aber die Jungen und Mädchen.brauchten ihre privaten Geräte nicht mit zur Schule zu schleppen, da jedem Schüler für den Unterricht ein Laptop leihweise zur Verfügung gestellt wurde.

So groß das Wohnzimmer war, so klein war die Küche. Hier war es wirklich ziemlich eng. Sie war noch nicht einmal einen Meter breit. Gegenüber der Eingangstür befand sich der Herd, der lediglich zwei Kochplatten besaß. Einen Backofen gab es nicht. Kekse und Kuchen stellten die beiden Jungen eh nicht her und wenn sie etwas überbacken wollten, so wurde es kurzerhand in die Mikrowelle geschoben, der einen eingebauten Grill besaß. Rechts an den Herd schloss sich die Spüle an, unter der der Kühlschrank zu finden war. Gegenüber auf der linken Seite befand sich ein kleiner Tisch, an dem vorbereitende Arbeiten zum Kochen erledigt werden konnten. Links neben der Tür zog sich über die gesamte Länge der Küche eine Regalwand aus Holz, in der auf verschiedenen Etagen Toaster, Wasserkocher, Brot und andere haltbare Lebensmittel wie Zucker, Mehl, Salz, Tütensuppen, Brühwürfel, Teebeutel und Nudeln untergebracht waren. Auf dem Fensterbrett war ein Besteckkasten mit Löffeln, Gabeln und Messern zu finden. Die längeren Küchenutensilien wie Suppenkellen, Kochlöffel, Schneebesen oder Kartoffelstampfer waren in einem Messbecher auf der Regalwand untergebracht.

Auf der anderen Seite des Wohnzimmers gingen drei Türen vom Flur ab. Eine von ihnen führte ins Schlafzimmer, die zweite ins Bad und am Ende des Flures erreichte man durch die dritte Tür eine Abstellkammer.

Makoto hatte sich dazu entschlossen, doch nicht den gesamten Tag im Bad zu verbringen. Er öffnete die Tür und begab sich ins Wohnzimmer, wo er von seinem Bruder freudig empfangen wurde.

„Da bist du ja. Ich dachte schon, du wärst im Abfluss des Waschbeckens hängen geblieben. Oder hast du dein Spiegelbild noch mit geschminkt?“

„Du warst auch schon mal witziger“, entgegnete Makoto.

„Erzähle mir unterwegs, wann das gewesen sein soll. Komm in die Hufe.“

„Hetz mich nicht.“ Makoto zog sich seine Jacke an.

Die Klingel ihrer Wohnung ertönte. Tetsuya verdrehte die Augen und stöhnte: „Wer kann denn das jetzt sein?“

„Wir machen einfach nicht auf.“

„Super Plan“, antwortete Tetsuya sarkastisch, ging zur Tür und öffnete. Draußen stand ein Mann, der um die fünfzig Jahre alt war. Er hatte mittelblonde kurze Haare, trug einen Oberlippenbart und hatte eine Strickjacke über sein Flanellhemd gezogen. Makoto trat neugierig zu seinem Bruder und schaute den Besucher an. Die Zwillinge kannten ihn genau. Es handelte sich um Sid Crane, der eine Etage über ihnen wohnte. Ab und zu kam es vor, dass Mister Crane bei den Jungen klingelte, um sich ausgegangenen Zucker oder zwei Eier zu leihen. Mittlerweile hatte sich zwischen den Parteien eine gute Bekanntschaft entwickelt.

„Hallo, Mister Crane“, grüßte Tetsuya. „Da kommen Sie aber in einem sehr ungünstigen Moment. Wir müssen zur Schule und sind sowieso schon zu spät dran.“

„Ich weiß, tut mir leid. Aber bei mir im Keller ist die Lampe durchgebrannt und ich habe keinen Ersatz.“

Die Zwillinge wussten sofort, was ihr Nachbar meinte. Er beschäftigte sich mit der Reparatur von Uhren. Dafür benötigte er natürlich helles Licht. Da das momentan nicht zur Verfügung stand, musste er sich von irgendwoher Ersatz besorgen und hatte deshalb bei den Zwillingen geklingelt.

„Wir haben doch die Lampe, die wir neulich beim Trödelhändler gekauft haben. Sie ist zwar klein, aber ihr Licht müsste ausreichen“, meinte Makoto.

Sid Crane atmete hörbar auf. „Das wäre wirklich wahnsinnig nett von euch. Kann ich die Lampe dann ein paar Tage behalten? Ich gebe sie euch sofort zurück, sobald ich eine neue Birne eingesetzt habe.“

„Ist schon in Ordnung“, stimmte Tetsuya zu. „Makoto, holst du mal bitte die Lampe?“

Der Sakurai-Zwilling sauste los und kam nach wenigen Sekunden mit der Lampe zurück, die er an den Nachbarn überreichte.

„Vielen Dank. Damit helft ihr mir wirklich sehr.“

Noch während der Nachbar sich bedankte, schlüpften die Zwillinge aus der Tür. Tetsuya schloss ab und alle drei gingen durch das Treppenhaus zur Haustür. Ein Fahrstuhl war zwar vorhanden, aber alle zwei Wochen außer Betrieb. Wenn man die Treppe benutzte, war das zwar anstrengender, aber dafür brauchte man nicht zu befürchten, während der Fahrt im Aufzug steckenzubleiben.

„Ich habe nämlich gestern erst zwei alte Uhren abgeholt und will versuchen, die jetzt wieder zum Laufen zu kriegen. Die geben keinen Mucks mehr von sich. Aber wenn ich ihnen erst einmal ordentlich ins Gewissen geredet habe, dann nehmen sie ihren Betrieb schon wieder auf“, erzählte Crane auf dem Weg nach unten.

„Ja, dann wünschen wir Ihnen, dass ihre Schmuckstücke sehr schnell wieder up to time sind.“

Crane lachte und ging weiter die Treppe hinab, die zum Keller führte, während die Jungs durch die Haustür ins Freie traten. Es war ziemlich kalt geworden. Außerdem hatte der Wind an Intensität zugenommen, so dass Makoto fröstelnd sein Kinn in die Jacke drückte.

„Siehst du“, ärgerte ihn sein Bruder, „wenn du mehr Schminke benutzt hättest, dann würdest du jetzt auch nicht frieren. Andererseits wären wir dann auch noch längst nicht hier auf der Straße.“

„Weil du hier pausenlos Blödsinn erzählst, kommen wir noch zu spät.“

Tetsuya schob sich drohend an seinen Bruder heran. „Meinetwegen kommen wir zu spät? Sag das noch mal.“

Makoto drehte sich um und gab Fersengeld. Sein Ebenbild rannte mit den Worten „Bleib sofort stehen und hol dir deine Prügel ab“ hinter ihm her.

*****

Im Lehrerzimmer der Carlton Jouchi Daigaku herrschte vor Beginn des Unterrichts reges Treiben. Ein paar Lehrkräfte standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich. Andere, deren Unterricht erst später begann, waren trotzdem bereits zur ersten Stunde erschienen, um noch Arbeiten zu korrigieren oder ihren Unterricht vorzubereiten. Die dritte Fraktion saß einfach nur auf ihrem Stuhl, hatte die Augen geschlossen und entspannte sich. Es wirkte so, als wollten sie noch ein wenig Kraft sammeln, bevor sie der Meute der Unberechenbaren, die sich Schüler nannten, gegenübertreten mussten.

Auch Isamu hatte sich an diesem Morgen dieser Gruppe angeschlossen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht ließ er das vergangene Wochenende an sich vorbei ziehen. Es war zwar bereits schon Dienstag, aber die letzten freien Tage waren es wert, dass man sie so lange wie möglich im Gedächtnis behielt.

Er war auf einer Fortbildung gewesen. Als er davon erfahren hatte, dass er seinen freien Samstag und Sonntag dafür opfern musste, hatte er zunächst sehr ärgerlich reagiert. Doch je näher der Termin rückte, umso gelassener wurde er. Er konnte ja sowieso nichts daran ändern, also ruinierte er sich nur selbst seine Gesundheit, wenn er ständig darüber nachdachte und mit schlechter Laune durch die Gegend lief.

Vor drei Tagen war der Beginn des Tages so gelaufen, dass Isamu sich gefragt hatte, warum er nicht einfach im Bett geblieben war und die Fortbildung hatte sausen lassen. Beim Frühstück war ihm der Kaffeebecher umgekippt und der Inhalt hatte sich auf sein Käsebrot ergossen. Auf halbem Weg zu seinem Auto hatte er festgestellt, dass er seine Unterlagen in der Wohnung vergessen hatte, dann war der Wagen nicht angesprungen und schließlich hatte er kurz vor dem Ziel die falsche Ausfahrt genommen und musste einen Umweg von ein paar Meilen in Kauf nehmen. Alles in allem war es der perfekte Tag gewesen, um jede Menge neuer Flüche zu lernen.

Doch schon beim Betreten des Veranstaltungsortes wurde er entschädigt. Das Hotel wirkte fein, obwohl es kein Markenhotel war. An der Rezeption wurde ihm ein größeres Zimmer zugewiesen, da irrtümlich sein reserviertes Zimmer bereits vergeben worden war. Allerdings hatte er für den größeren Raum keinen Aufpreis zu bezahlen brauchen und als er in seinem neuen Zimmer angekommen war, war ihm fast die  Luft weg geblieben. Es war wirklich riesig gewesen und er hatte sich automatisch gefragt, wer alleine so eine große Unterkunft mietete. Das Bad war sehr geräumig gewesen. Im Wohn- und Schlafraum hätte man sich verlaufen können.

Die Veranstaltung selber hatte am Samstag sehr zu wünschen übrig gelassen. Von den Inhalten gesehen war es eine reine Zeitverschwendung gewesen, zum Hotel zu fahren. Allerdings verstand es Isamus Sitznachbarin, eine hellblonde junge Frau namens Catherine, sein Interesse an anderen Dingen zu wecken. Auch für sie war der monotone Tonfall, in dem der Redner seine Erkenntnisse vortrug, sehr ermüdend gewesen und der Inhalt seiner Beiträge war ihr ebenfalls schon lange bekannt. Also vertrieben sich Isamu und Catherine auf eine Weise die Zeit, die sie bei ihren Schülern nie geduldet hätten: sie spielten, um die Langeweile zu bekämpfen.

Fast den gesamten Samstag hatte er mit Catherine Jotto gespielt, ein Game, bei dem sich einer der beiden Beteiligten ein Wort ausdachte, das der andere erraten musste. Bei jedem Rateversuch wurde die Anzahl der richtigen Buchstaben im Vergleich mit dem ausgedachten Wort dem Rater bekannt gegeben.

Die Pausen hatten Catherine und er gemeinsam verbracht und sich auf Anhieb gut verstanden. Abends hatten sie sich bei einem guten Essen und einem Glas Wein angeregt über ihren Beruf unterhalten. Auch Catherine war Lehrerin, allerdings auf einem College. Ihre Gesprächsthemen waren die unterschiedlichen Verhaltensformen der Schüler gewesen, die mangelhafte Unterstützung durch die Schulverwaltung und die Mitarbeit der Eltern an öffentlichen Schulen. Beide waren übereinstimmend der Meinung, dass sich Vater und Mutter immer weniger um ihre Sprösslinge und ihre Leistungen in der Schule kümmerten. Der Nachwuchs wurde einfach sich selbst überlassen.

Natürlich hatten auch private Dinge in den Gesprächen Verwendung gefunden. Alles in allem war es ein sehr kurzweiliger Abend gewesen.

Der Sonntag hatte in Bezug auf das Seminar den so unglaublich enttäuschenden Vortag mehr als wett gemacht. Diesmal waren die Themen interessant gewesen und wurden spannend vorgetragen. Catherine und er hatten einige interessante Lehransätze und neue Tipps für ihre Arbeit mit nach Hause genommen. Am Nachmittag hatten sie auf dem Parkplatz, kurz vor der Abreise, noch ihre Telefonnummern ausgetauscht. Isamu wusste hundertprozentig, dass er sich bei Catherine noch in dieser Woche melden würde.

Mitten in die schönen Erinnerungen vom Wochenende platzte ein Kollege, der ihm auf die Schulter tippte und ihm einen Briefumschlag entgegen hielt.

„Hier, den hat mir gerade auf dem Flur ein Mädchen in die Hand gedrückt und mich gebeten, ihn dir zu geben.“

Isamu nahm den Umschlag in die Hand, bedankte sich und stellte bei näherer Betrachtung fest, dass zwar sein Name aber kein Absender auf dem Umschlag stand. Vielleicht enthielt er eine Drohung. Es kam vor, dass Schüler ihren Frust abließen, indem sie in einem Brief denjenigen, den sie als verantwortlich für schlechte Noten, ungerechte Behandlung oder sonstiges ansahen, beschimpften und bedrohten. Auch über diesen Aspekt hatten sich Catherine und er unterhalten.

Er schlitzte mit seinem Kaffeelöffel den Umschlag auf, entfaltete das darin befindliche Blatt, schaute zuerst auf die Unterschrift und konnte gerade noch ein gequältes Stöhnen unterdrücken. Dann las er sich den gesamten Brief Wort für Wort durch.

„Werter Herr Akabashi!
Mir ist aufgefallen, dass ich große Lücken in Japanisch habe. Fragen Sie mich nicht, wo diese herkommen. Jedenfalls sind sie so erheblich, dass ich sie durch alleiniges Lernen mit Sicherheit nicht schließen kann.
Ich könnte mich mit einem oder mehreren Klassenkameraden treffen, aber da auch diese nicht vom Fach sind, sondern die Sprache ebenfalls erst lernen, ist mir diese Methode zu unsicher.
Sie allerdings wissen sehr gut in Japanisch Bescheid, so dass ich sicher sein kann, dass sich bei einer Lernphase mit Ihnen keinerlei Fehler einschleichen, weder bei der Aussprache noch beim Schreiben.
Aus diesem Grund würde ich gerne mit Ihnen zusammen meine Defizite aufarbeiten. Bitte teilen Sie mir mit, wann wir unsere erste Nachhilfestunde abhalten können.

Mit freundlichen Grüßen
Kagura“

Isamu hatte den Brief schon lange studiert, doch immer noch starrte er auf das Papier und konnte nicht fassen, was dort stand. Einfallsreich war Kagura ja, das konnte man ihr nicht absprechen. Doch ihr Einfallsreichtum trieb ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn. Er würde wahrscheinlich nicht einmal dann Ruhe vor seiner aufdringlichen Schülerin haben, wenn diese im Rollstuhl säße. Offenbar wollte sie nicht einsehen, dass er als ihr Lehrer keine gute Wahl als Liebhaber war. Mehr noch: Kagura brauchte vermutlich jemanden, der sie mit den einfachsten Dingen vertraut machte. Von selbst begriff sie diese ja nicht.

Isamu war fest entschlossen, das ganze Theater heute zu beenden. Er würde kein Blatt mehr vor den Mund nehmen und es war ihm auch egal, wenn er Kagura damit vor den Kopf stieß. Ihm war die ganze Angelegenheit unglaublich lästig. Aber in drei Stunden dürfte sie sich erledigt haben, so hoffte Isamu jedenfalls.

*****

„Ich stehe total auf Sushi“, verkündete Chizuru mit Blick auf die kleinen Röllchen, die Takeo in seiner Box aufbewahrte.

„Dann ist es ja unglaubliches Pech, dass du dir keine mitgebracht hast“, antwortete Takeo grinsend, biss in ein Sushi, schloss die Augen und setzte ein verzücktes Grinsen auf. Er kaute zweimal langsam, atmete tief ein und öffnete die Augen wieder. Seine Miene versteinerte, als er das Sushi zwischen den Fingern seiner Klassenkameradin entdeckte.

„He“, rief er protestierend.

„Wer die Augen zu hat, verliert ganz leicht den Durchblick“, meinte Chizuru altklug, während sie sich das Sushi in den Mund schob.

„Selbst gemacht“, sagte der Junge.

„Du kannst Sushi machen?“ Bewundernd sah ihn seine Mitschülerin an.

„Nein, ich doch nicht. Meine Mum hat es selbst gemacht.“

„Blödmann. Dafür, dass du mich so in die Irre geführt hast, müsstest du mir eigentlich noch eines abgeben.“

„Du willst, dass ich dich dafür, dass du mir ein Sushi gestohlen hast auch noch belohne, indem ich dir noch eines gebe?“

„Dann lass es. Ich kenne mich mit den japanischen Vokabeln und der Grammatik gut aus und werde bestimmt eine gute Note schreiben. Im Gegensatz zu anderen, von denen ich ja keinen angucken will“, meinte Chizuru und blickte gen Himmel.

„Das ist Erpressung.“

„Stimmt. Nur leider ist dein Pech, dass du keine Zeugen hast.“

„Keine Zeugen? Hier sind überall Zeugen.“

Takeo ließ seine Hand im Halbkreis durch die Luft fahren und deutete somit auf die anderen Schüler, die sich während der großen Pause ebenfalls im Park befanden.

„Tja, nur leider hat niemand unsere Unterhaltung mit angehört. Frag doch mal rum, was ich gerade zu dir gesagt habe. Die sind doch alle nur mit sich selbst beschäftigt.“

„Wissen deine Eltern eigentlich, was sie für ein grausames Mädchen … hey!“

„Freut mich, dass du dich entschieden hast, doch eine gute Arbeit schreiben zu wollen“, sagte Chizuru und bis in das zweite Sushi, das sie sich aus der Box geklaubt hatte.

„Das ist ungerecht“, schmollte Takeo.

„Nicht böse sein, den Rest darfst du essen.“

„Das ist ja ein toller Trost. Es ist ja nur noch eins übrig.“

„Es lebe meine Großzügigkeit“, grinste Chizuru.

„Es ist zwar noch ein paar Monate hin, aber magst du nicht mit mir aufs Winterfest gehen?“, wollte Chizuru wissen.

„Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht mal genau, was dort eigentlich abgeht.“

„Oh, es gibt jede Menge zu essen und zu trinken und Infostände über verschiedene Themen und getanzt wird auch.“

„Sag mal, woher weißt du das eigentlich alles? Du bist doch auch neu an dieser Schule.“

„Richtig, aber ich habe mich im Vorfeld schon mal über die Aktivitäten, die hier stattfinden, informiert. Weißt du über den Japanaustausch Bescheid?“

„Ich weiß nur das, was in der Broschüre steht, die ich bei der Einschulung gekriegt habe“, erinnerte sich Takeo.

„Genau. In jedem Frühjahr wird ein Schüler oder eine Schülerin aus den höheren Jahrgangsstufen ausgelost, um für ein paar Monate eine Schule in Japan zu besuchen. Leider kommt das für uns noch nicht in Frage, da wir ja erst in der ersten Klasse sind. Aber wenn es soweit ist, dann werde ich ganz bestimmt auch meinen Namen abgeben.“

„Muss cool sein, einige Monate in Japan zu verbringen. Muss man das selber bezahlen?“

„Dein Taschengeld musst du dir selbst zusammensparen. Für Unterkunft und Verpflegung und Kosten an der Schule kommt unsere Schule hier auf. Das ganze wird durch Spenden finanziert. Und das sind gar nicht wenige Dollar, die da zusammenkommen.“

„Und wann ist dieses Winterfest?“

„Nach den Weihnachtsferien, in der ersten Januarwoche. Und ich würde mich riesig freuen, wenn du mit mir hingehen würdest. Du brauchst auch kein Sushi mitzunehmen.“

„Sehr gnädig. Das kriegen wir bestimmt auf der Feier, oder?“

Chizuru zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Aber verhungern werden wir dort ganz bestimmt nicht.“

Die Schulklingel gab den Anfang der nächsten Stunde bekannt und die beiden Teenager gingen gemeinsam in das Schulgebäude zurück.

„Kannst du überhaupt tanzen?“, wollte Chizuru wissen.

„So leidlich. Ich musste es schon früh lernen, weil man mir beigebracht hat, dass man nicht früh genug damit anfangen kann und das es dazu gehört.“

„Zu was?“

„Weiß ich auch nicht. Aber um irgendwelchen Diskussionen zu entgehen, ist es besser, man macht das, was die Eltern wollen. Dann hat man seine Ruhe. Und eigentlich macht es auch Spaß.“

„Echt, du wurdest von deinen Eltern gezwungen? Das ist ja heftig.“

Takeo nickte nur und hoffte, dass das Thema damit erledigt war. Die negativen Seiten, der Sohn reicher Eltern zu sein, waren viel zahlreicher, als die meisten Leute sie sich vorstellten. Er wusste noch, wie er die ersten Tanzstunden gehasst hatte. Mit zehn Jahren hatte er sich wirklich eine sinnvollere Beschäftigung mit seiner Zeit gewünscht, aber seine Eltern waren unerbittlich gewesen. Seiner Tanzpartnerin Hoki war die ganze Sache genauso unangenehm gewesen. Sie waren sich beide ziemlich lächerlich auf dem Parkett vorgekommen, da hatten ihre Eltern ihnen noch so oft versichern können, dass sie wirklich gut aussahen.

Die ganze Angelegenheit fing erst an, einigermaßen Spaß zu machen, als Hoki sich eines Tages standhaft geweigert hatte auch nur eine einzige Sekunde länger mit ihm zu tanzen. Innerlich hatte Takeo aufgeatmet, hatte er doch gehofft, dass die ganze Tortur jetzt ein Ende haben würde. Aber da hatte er die Rechnung ohne seine Eltern gemacht. Er bekam einfach einen neuen Tanzpartner zugeteilt. Und mit dem war es richtig lustig gewesen. Hiru hatte das ganze nicht so ernst genommen und zusammen hatten sie viel gelacht. Als Majordomus war Hiru gerne bereit gewesen, Takeo in die Kunst des Tanzens einzuweihen. Allerdings hatte nach einigen Stunden dann  der Tanzlehrer gekündigt, aber das hatte die Minamis nicht weiter interessiert. Hiru war ein brillanter Ersatz gewesen. Takeo hatte viel gelernt und benötigte seinen Freund jetzt nur noch zur Auffrischung und Festigung der Bewegungsabläufe.

„Ich kann überhaupt nicht tanzen“, gab Chizuru zu.

„Hast du es schon mal gelernt?“, erkundigte sich ihr Mitschüler und das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Kein Problem. Ich muss ja sowieso führen und du machst einfach genau die gleichen Schritte wie ich, nur entgegengesetzt. Also, wenn ich mit einem Bein vorgehe, gehst du mit dem gleichen Bein zurück und so. Gar nicht so schwer, wenn man es erst mal zwei Minuten gemacht hat.“

„Aber diese ersten zwei Minuten mache ich mich bestimmt komplett zum Horst.“

„Dafür wirst du danach nicht mehr aufhören wollen. Lass dich überraschen.“

„Na gut. Sag mal, freust du dich auch schon auf den Poetry Slam heute abend?“

„Ich weiß nicht. Ich sehe ihm mit gemischten Gefühlen entgegen. Gedichte sind einfach nicht mein Ding.“

„Aber es werden ja nicht nur Gedichte vorgetragen“, klärte ihn Chizuru auf. „Es werden auch Geschichten vorgelesen. Ich bin sicher, dass es dir gefallen wird.“

„Was mir auf alle Fälle nicht gefallen wird, ist die Doppelstunde Mathe, die wir jetzt haben.“

„Damit war ja zu rechnen“, grinste Chizuru und betrat das Klassenzimmer.

*****

„Ach, hier steckst du. Ich suche dich schon überall.“

Kazuki ging zur Bank, auf der er Haruka entdeckt hatte und setzte sich neben sie. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie gar nicht glücklich aussah und auf den Boden blickte, wo sie mit ihren Schuhen einen kleinen Stock hin und her rollte.

„Hey, was ist denn los?“

„Ach, nichts.“

„Ja, das sehe ich. Dich macht doch irgendetwas traurig. Woran denkst du?“

„Ich treffe mich doch heute wieder mit Nobu.“

„Ja, und?“, drängte Kazuki, da Haruka nach diesem Satz wieder eine längere Pause eingelegt hatte.

„Ich muss immer noch an die letzte Begegnung denken. An die beiden Jungen, die mit mir zusammen auf ihn gewartet haben.“

„Aber die haben dir doch nichts getan.“

„Schon, aber ich hatte trotzdem ein mulmiges Gefühl. Nobu kam und kam nicht und ich wurde immer ungeduldiger mit diesen beiden Typen auf dem Parkplatz. Ich habe mich einfach unwohl gefühlt. Die Kerle hätten wer weiß was mit mir anstellen können. Du weißt doch, was mir neulich im Kartenraum passiert ist.“

Kazuki nickte. „Tut mir leid, dass ich nicht da war.“

„Ach“, seufzte das Mädchen und spielte mit einem Knopf an der weißen Jacke ihrer Schuluniform, „du kannst mich doch nicht auf Schritt und Tritt begleiten, um mich zu beschützen. Davon abgesehen möchte ich das auch nicht. Du hast bestimmt besseres zu tun, als ständig mit mir herumzuhängen.“

„Das macht mir überhaupt nichts aus“, versicherte Kazuki ihr. „Ich bin gerne mit dir zusammen.“

Sie sah ihn fragend an und er nickte.

„Du bist so nett, Kazuki. Und ich gehe dir mit meinen Selbstzweifeln bestimmt total auf die Nerven. Du hast so unglaublich viel Geduld mit mir und fährst mich nicht gleich an, wenn mal etwas nicht auf Anhieb bei mir klappt und ich mich mit so vielen Dingen schwer tue.“

„Jeder von uns hat seine Stärken und Schwächen. Und manche Stärken oder Schwächen können auch ziemlich extrem sein. So wie bei dir deine Schüchternheit und dein Selbstbewusstsein. Aber wichtig ist, dass du dich davon nicht unterkriegen lässt und daran arbeitest. Guck mal, du hast Nobu letztens auf dem Parkplatz ziemlich die Meinung gesagt. Glaubst du, das hättest du vor drei Monaten auch schon gemacht?“

Die Schülerin schüttelte zögerlich den Kopf.

„Genau, du hättest dir viel zu viele Sorgen darüber gemacht, was er denn von dir denken könnte, wenn du ihn so zur Schnecke machst. Und dass du es doch gewagt hast, zeigt doch, dass du durch das Training mit ihm schon so einiges gelernt hast und dich auch traust, es umzusetzen. Du springst über deinen Schatten und lässt raus, was dich ärgert oder womit du nicht einverstanden bist. Das ist ein gewaltiger Schritt, den du gemacht hast. Aber es ist nur ein Schritt nach vorne. Du darfst jetzt nicht wieder zurück gehen, sondern musst immer weiter vorwärts.“

„Ich habe nur Angst, dass wieder so etwas ungewohntes passiert wie beim letzten Mal.“

„Glaubst du wirklich, Nobu würde die gleiche Sache zweimal abziehen? Bisher hat er dich noch nie derselben Situation mehrmals ausgesetzt. Immerhin würdest du sie dann ja schon kennen und dich darauf einstellen können. So einfallslos ist Nobu nicht. Bestimmt macht ihr heute etwas völlig anderes.“

„Vielleicht hast du Recht.“

Eine Zeit lang schwiegen die beiden Schüler und und Kazuki dachte darüber nach, was Haruka in den vergangenen Jahren alles passiert sein musste, dass sie sich so entwickelt hatte. Vielleicht waren ihre Eltern auch so duckmäuserisch und taten alles, um nur ja nicht aufzufallen. Diese Eigenschaft hätten sie durch ihre Übervorsichtigkeit dann an Haruka weitergegeben. Bestimmt hatte man sie in früheren Schulen gehänselt oder geärgert. Sie war das perfekte Opfer, denn sie wehrte sich ja nicht. Das hatte dann sicher dazu beigetragen, dass sich ihr ohnehin geringes Selbstwertgefühl noch weiter verstärkt hatte.

Es musste für sie eine schlimme Zeit gewesen sein und er, Kazuki, würde sich hüten, sie nach Ereignissen aus ihrer Vergangenheit zu fragen, die sie so geprägt hatten. Gewiss, er mochte das Mädchen, aber es war logisch, dass sie noch nicht soweit war, über das zu sprechen, was ihr alles passiert war. Er würde es an ihrer Stelle auch nicht tun.

Aber nun hatte sie jemanden gefunden, der ihr einen Ausweg aus dem Dilemma bot, wobei ein großer Unsicherheitsfaktor bei ihr bestehen bleiben musste. Der war, dass sie nicht wusste, aus welchem Motiv heraus Nobu ihr half. Er war nett und freundlich und half ihr sehr, aber das alles würde ihr vielleicht mehr nützen, wenn sie wusste, warum er sich so für sie einsetzte. Natürlich war auch Kazuki neugierig, aber diesen Schritt musste Haruka selber gehen. Wenn sie wissen wollte, warum ihr solche Hilfe zuteil wurde, dann musste sie den Mut aufbringen, ihren Mentor selber zu fragen.

„Du bist der erste Mensch, der mich so akzeptiert, wie ich bin“, fing Haruka plötzlich an zu sprechen. „Du bist ein wirklich guter Freund und ich …“

Sie stoppte. Auch Kazuki blieb stumm. Er wollte, dass sie von sich aus fortfuhr, denn er hatte Angst, dass sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen würde, wenn er sie durch Worte, Gesten oder auch nur einem Blick zum Weitersprechen auffordern würde. Und er hoffte, dass sie das aussprechen würde, von dem er sich wünschte, dass sie es tat.

„Ich habe dich sehr gerne, Kazuki.“

In seinem Inneren schlug etwas Purzelbäume. Er mochte sie auch sehr und war froh, dass sie diese Worte ausgesprochen hatte. Für Haruka musste es eine enorme Überwindung gewesen sein, ihm ihre Gefühle zu gestehen, und gerade das machte dieses Geständnis noch wertvoller.

„Ich dich auch“, antwortete er leise. „Ich freue mich, dass du den Mut gehabt hast, mir das zu sagen. Und …“

„Und dabei wird es auch bleiben“, ertönte eine Stimme hinter den beiden Schülern. Ihre Köpfe fuhren herum und Chiyo trat hinter einem Baum hervor. Haruka wurde kreidebleich und in Kazuki kroch die Wut hoch.

„Wie lange stehst du schon hinter dem Baum?“, fuhr er Chiyo an.

„Ach, eine ganze Weile. Lange genug jedenfalls, um die wichtigen Details eurer Unterhaltung mitzubekommen.“

Sie ging um die Bank herum und stellte sich vor Haruka.

„Wenn ich dazu auch mal etwas sagen darf …“

„Nein, darfst du nicht“, unterbrach Kazuki die Störenfriedin. „Das einzige, was du darfst, ist verschwinden.“

Chiyo ließ sich überhaupt nicht stören.

„Es ist ja absolut rührend, wie du Kazuki dein Herz ausgeschüttet hast. Aber das war es dann auch schon. Denk doch mal nach. Glaubst du wirklich, dass er dich auch mag? Gib dich doch keinen Illusionen hin.“

Kazuki sprang auf. „Chiyo, halt den Mund.“

„Jungs stehen auf Mädchen, die sich auch mal etwas trauen und nicht auf verweichlichte Memmen. Wer soll denn mit dir etwas anfangen können? Du rennst doch gleich immer weg, um dich keiner Konfrontation stellen zu müssen.“

Kazuki stellte sich zwischen die beiden und schubste Chiyo weg.

„Was fällt dir eigentlich ein?“, blaffte er sie an. „Glaubst du, du bist cool, wenn du anderen Leuten weh tun kannst?“

„Ich muss anderen Leuten nicht weh tun, ich bin auch so cool“, gab Chiyo lässig zur Antwort.

„Hast du dir schon mal überlegt, wie du dich fühlen würdest, wenn man dich so behandelt?“

„Ich würde nie so behandelt werden, denn erstens weiß ich mich zu wehren und zweitens würde ich es gar nicht erst so weit kommen lassen.“

„Ich wünsche dir nur, dass dir irgendwann einmal jemand zeigt, wie mies dein Verhalten ist. Und hoffentlich bin ich dann dabei, um mir anzugucken, wie sehr du dann leidest.“

„Ich reserviere dir einen Ehrenplatz“, meinte Chiyo keck und stolzierte mit hoch erhobenem Kopf davon.

„Dieses Miststück“, wisperte Kazuki. Er drehte sich zu Haruka um, um die Situation noch irgendwie zu retten, auch wenn er nicht wusste, wie er das anstellen sollte. Chiyos Worte mussten Haruka hart getroffen haben. Bestimmt wurden dadurch einige Anstrengungen Nobus wieder zunichte gemacht. Am liebsten hätte Kazuki dieser arroganten Kuh eine Ohrfeige verpasst, aber durch Schläge machte er nichts besser, sondern erreichte nur, dass er selber sich kurzzeitig gut fühlte.

„Vergiss, was sie …“

Irritiert blickte der Junge zur Bank. Haruka war nicht mehr da. Auch in der näheren Umgebung war sie nicht zu entdecken. Offenbar hatte sie das Streitgespräch genutzt, um sich aus dem Staub zu machen. Und wie sie sich jetzt fühlen musste, konnte sich Kazuki gut vorstellen. Seine Wut auf Chiyo war grenzenlos.

„Haruka“, rief er und lief in Richtung Schule.

*****

Chiyo war allerbester Laune. Das hatte ja in der letzten Pause hervorragend geklappt. Es war aber auch wirklich allerhöchste Zeit gewesen, dass jemand dieser Mimose einmal klipp und klar die Meinung gesagt hatte. Ansonsten würde sie es doch nie einsehen. Chiyo kannte solche Personen zur Genüge. Denen musste man von Anfang an mitteilen, wie es im Leben zuging und zwar unmissverständlich. Und manche Leute brauchten eben die Eisenhammermethode. Je eher sich Haruka mit dem Gedanken vertraut machte, dass niemand etwas von einer Verliererin wissen wollte, desto leichter würde sie es später haben.

Und voller Freude stellte Chiyo fest, dass sie gleich dort anknüpfen konnte, wo sie in der letzten Pause aufgehört hatte. Kazumi lehnte mit dem Rücken an einem Baum und las in einem Buch. Das war die ideale Gelegenheit. Heute war wirklich ein richtig toller Tag.

Chiyo bahnte sich einen Weg durch die umherstehenden Schüler. Ein Junge mit einer Flasche Cola in der Hand kam auf sie zugelaufen, wobei er über die Schulter hinweg einem anderen Jungen etwas zurief und beinahe in Chiyo hineingerannt wäre. Im letzten Moment bemerkte er es und wich nach links aus.

„Schlaf gefälligst nachts“, blaffte Chiyo ihn an und setzte ihren Weg fort. Sie blieb vor Kazumi stehen und beobachtete sie eine Weile, doch diese gab durch nichts zu erkennen, dass sie sie wahr nahm.

„Na, stecken wir unsere hässliche Nase wieder in ein langweiliges Buch?“, höhnte Chiyo.

„Na, stecken wir unsere hässliche Nase wieder in Dinge, die uns einen Scheiß angehen?“, konterte die Angesprochene.

„Du könntest deine Pausen wirklich mit nützlicheren Dingen verbringen.“

„Stimmt, aber das gleiche gilt auch für dich. Warum liest du nicht mal ein Buch? Das ist sicher gut für deine Bildung.“

„Um gebildet zu sein, braucht man keine Bücher zu lesen. Es hat nämlich nicht viel mit Bildung zu tun, zu lesen, was irgendwelche nicht existierenden Typen für unrealistische Sachen machen. Das fördert höchstens die eigene Dummheit.“

„Dann ist es ja umso erstaunlicher, dass du nicht liest“, meinte Kazumi, die während der ganzen Unterhaltung nicht einmal von ihrer Lektüre aufgesehen hatte. „Oder aber du kannst überhaupt nicht lesen.“

„Mache dir keine Gedanken, ich kann es.“

„Dann kann es nur daran liegen, dass deine Intelligenz nicht reicht, um zu erfassen, was in Büchern steht. Und jetzt bin ich dir dankbar, wenn du mich in Ruhe lassen würdest.“

Mittlerweile hatten sich ein paar neugierige Schüler um die beiden Mädchen versammelt, denn wenn Chiyo und Kazumi aufeinander trafen, konnte man sicher sein, dass es sich lohnte, den Schlagabtausch der beiden aus unmittelbarer Nähe zu verfolgen.

„Seht her“, rief Chiyo ihren Zuschauern zu, „hier sitzt Kazumi, der picklige Bücherwurm, und liest für einen Dollar Wunschpassagen aus diesem Buch, das selbst ein eingeschlafenes Murmeltier entsetzlich langweilen würde!“

Jetzt sah Kazumi von ihrem Schmöker auf.

„Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Du solltest deine freie Zeit, die du noch hast, genießen, bevor ich wieder auf dich aufpassen werde.“

Mit diesem Satz hatte Kazumi genau ins Schwarze getroffen. In aggressivem Ton erwiderte Chiyo: „Das stinkt mir sowieso, dass du mich stalkst. Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst.“

Kazumi lachte. „Chiyo, das weiß ich doch. Ehrlich, das ist mir vollkommen klar. Aber die anderen Leute, mit denen du zu tun hast, die brauchen jemanden.“

„Wenn du nicht noch heute damit aufhörst, mir auf die Nerven zu gehen, dann könnte es sehr bald passieren, dass du einen kleinen Unfall erleidest.“

Kazumi machte ein erschrockenes Gesicht. „Nein, wirklich? Das wäre ja furchtbar. Allerdings nicht für mich.“

Sie blickte in die Runde der Schüler und meinte laut: „Habt ihr das gerade eben gehört, was Chiyo gesagt hat?“ Zustimmendes Murmeln ertönte und Kazumi sah ihre Rivalin an.

„Dann muss ich mich wohl bei dir für die Ankündigung bedanken. Ich kann mir eigentlich gerade nichts mehr wünschen, als das mir wirklich etwas passiert. Immerhin habe ich haufenweise Zeugen, die bestätigen werden, dass du dann damit zu tun hast. Also, von sonderlich viel Intelligenz ist das nicht, so eine Drohung vor so vielen Leuten auszustoßen, findest du nicht? Vielleicht solltest du doch besser mal darüber nachdenken, ein Buch zu lesen.“

Zuerst stand Chiyo wie vom Blitz getroffen da, doch dann drehte sie sich wütend um und ging davon.

„Du könntest mit ‚Paranoia und wie man sie heilt’ anfangen“, rief ihr Kazumi hinterher. „Steht, glaube ich, in der Schulbibliothek.“

Die umstehenden Schüler klatschten ihr Beifall, aber Kazumi winkte mit einer Handbewegung ab. „Könntet ihr mich jetzt bitte weiterlesen lassen?“

Chiyo kochte vor Wut. Diese kleine Kröte hatte ihr doch tatsächlich die Show gestohlen. Es wurde wirklich höchste Zeit, ihr einen Denkzettel zu verpassen. Sie war fest entschlossen, dafür zu sorgen, den Spieß umzudrehen. Irgendwie würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, es ihr heimzuzahlen. Wenn es doch nur die Möglichkeit gäbe, diese Leseratte für immer von der Schule zu entfernen.

An so vielen Baustellen wie momentan hatte Chiyo noch nie zu kämpfen gehabt. Aber man musste Prioritäten setzen und an oberster Stelle stand nach wie vor Kazumi. Die anderen beiden Problemfälle, die die Namen Takeo Minami und Chizuru Miyamoto trugen, hatten noch etwas Zeit.

Immerhin war es für Chiyo ein Vorteil, dass sie wusste, in welchem Klassenraum Kazumi die letzte Unterrichtsstunde verbrachte. So konnte sie wenigstens den ersten Teil ihres Planes in die Tat umsetzen. Was weiter geschehen würde, wusste sie noch nicht. Aber es eilte ja auch nicht. Wenn sich heute nicht die Chance bot, etwas gegen ihre Widersacherin zu unternehmen, dann eben morgen oder am Tag darauf. Chiyo konnte warten.

*****

„Guckt mal, da vorne steht er.“

Asama stieß die beiden Mädchen, die rechts und links von ihr standen, an und deutete mit dem Zeigefinger auf einen Jungen, der mit einem anderen Schüler in ein Gespräch vertieft war.

„Das ist die Gelegenheit“, forderte Lina Chizuru auf. „Los, geh zu ihm und beginne ein unverfängliches Gespräch.“

„Okay.“ Die Schülerin zog die Schultern zurück. „Dem zahle ich es heim, verlasst euch drauf.“

Mit schnellen Schritten ging sie auf den Jungen zu und stellte sich neben ihn. Sofort unterbrachen die beiden ihr Gespräch und starrten Chizuru an.

„Hallo“, lächelte sie den ihr noch unbekannten Boy an.

„Hi“, grüßte dieser irritert zurück. „Ähm … kennen wir uns?“

„Na, du wirst doch nicht etwa dein Lieblingsopfer vergessen haben, oder?“

Hilflos blickte der Junge seinen Freund an, doch dieser entschloss sich zum Rückzug.

„Wir reden später weiter. Sieht so aus, als hättest du hier was zu klären.“

Als die beiden alleine waren, sagte Chizuru: „Du hast mich beim Ritual ganz schön hinterhältig reingelegt. Mir weiszumachen, deine Schulter sei verletzt und mich dann mit Schaum zu besprühen.“

Ein Lächeln der Erkenntnis legte sich auf das Gesicht des Schülers. „Ach ja, richtig. Du warst ja die Hilfsbereitschaft in Person. Tja, tut mir wahnsinnig leid, aber die Erstklässler sind nach einer Weile ziemlich auf der Hut, um nicht eingeseift zu werden. Da muss man sich eben etwas einfallen lassen, um sicherzustellen, dass auch wirklich jeder seine Portion abbekommt. Du warst ja auch noch nicht sehr mitgenommen, als du mir helfen wolltest.“

„Das hätte auch gerne so bleiben können“, lachte Chizuru.

„Bist du mir böse?“, wollte der Junge wissen. Chizuru schüttelte den Kopf, doch wie es in ihrem Inneren aussah, ahnte der Schüler natürlich nicht.

„Ich bin Nobu“, sagte er und streckte die Hand aus.

„Chizuru. Und Erstklässlerin, wie du ja weißt. Wendest du diesen Trick in jedem Jahr an?“

Nobu nickte. „Und bis jetzt hat er jedes Jahr gut funktioniert. Ein bisschen gemein ist er ja, das gebe ich zu. Aber ich erreiche durch ihn, was ich erreichen möchte. Und im nächsten Jahr darfst du mich zur Revanche einsprühen, ist das in Ordnung?“

Das ist mir viel zu spät, so lange werde ich garantiert nicht warten, dachte sich Chizuru, doch sie lächelte und meinte nur: „Alles klar, ich werde es nicht vergessen. In welcher Jahrgangsstufe bist du?“

„In der fünften. Noch etwas über anderthalb Jahre, dann habe ich es geschafft.“

„Und dann?“

„Ich würde gerne etwas im pädagogischen Bereich machen. Mit schwer erziehbaren Kindern arbeiten oder so.“

„Na, dann hast du ja hier mehr als genug Übungsmaterial“, grinste Chizuru. „Aber ich stelle es mir sehr schwer vor, in so einem Beruf zu arbeiten. Da hast du dir richtig was vorgenommen.“

„Ja, es ist eine Herausforderung. Aber ich habe keine Angst davor. Respekt schon, aber keine Angst. Ich finde es toll, Menschen zu helfen und gerade bei Kindern ist es wichtig, dass man ihnen zeigt, wie toll das Leben ohne Furcht oder Zweifeln sein kann.“

„Das klingt nicht schlecht. Musst du dazu noch eine spezielle Schule besuchen oder so?“

Nobu nickte. „Ja, es gibt eine Schule an der Ostküste, die auf so etwas spezialisiert ist. Da würde ich gerne hin.“

„Ostküste ist ziemlich weit“, stellte Chizuru fest.

„Kein Problem für mich. Mit meinem Auto komme ich schnell dort hin. Und was ist mit dir? Weißt du schon, was du nach der Schule machen möchtest?“

„Nein, noch nicht genau. Aber ich habe ja auch noch ein paar Jahre Zeit, um mich zu orientieren. Du, meine Freundinnen warten auf mich. Ich muss wieder los. Wir sehen uns ganz bestimmt noch.“

„Klar, die Schule ist ja jeden Tag geöffnet“, grinste Nobu und sah Chizuru nach, wie sie sich wieder zu Asama und Lina gesellte.

„Na, wie war es?“, wollten die beiden wissen.

„Volltreffer“, meinte Chizuru. „Ich weiß jetzt, wie wir es ihm heimzahlen können. Lasst mich ihn noch zwei- oder dreimal treffen und dann kann es losgehen. Allerdings müssen wir dafür noch ein paar Vorbereitungen treffen und die Aktion wird wohl einige Zeit dauern, aber wenn wir drei es zusammen machen, werden wir umso schneller fertig. Und ich kann für jede Menge Spaß auf unserer Seite garantieren.“

„So etwas höre ich gerne“, meinte Asama.

„Stellt euch vor, was der Kerl mir angeboten hat. Ich darf mich im nächsten Jahr bei ihm revanchieren und ihn einseifen.“

„Nein, wie großzügig“, höhnte Lina. „Nun stelle dir mal vor, er ist im nächsten Jahr gar nicht bei denen dabei, die den Erstklässlern ihr Ritual verpassen. Dann hast du aber Pech gehabt.“

„Ich bin doch nicht so bescheuert und lasse ihn sich auch noch vorbereiten. Nein, unsere Überraschung wird ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen. Und darauf kann er sich nicht vorbereiten“, grinste Chizuru voller Vorfreude.

*****

Schon den gesamten Tag hatte Kagura der japanischen Unterrichtsstunde entgegengefiebert. Die Schülerin war mehr als gespannt, wie Isamu auf ihren Brief reagieren würde. Sie hatte lange Zeit hin und her überlegt. Irgendwie musste es doch möglich sein, mal einige Zeit alleine mit ihrem Schwarm zu verbringen. Er wehrte sich dagegen, aber das war nur natürlich. Immerhin war er ihr Lehrer und bestimmt hielt ihn die Angst, dass ihre Affäre entdeckt werden würde, davon ab, sich mit ihr zu verabreden. Aber sie würde ihm diese Angst schon nehmen. Wenn alle beide Vorsichtsmaßnahmen treffen würden, die über das normale Maß an Vorsicht hinaus gingen, dann konnte einfach niemand etwas merken. Man musste nur alle Eventualitäten, die geschehen konnten, mit einkalkulieren.

Natürlich konnten sie sich nie irgendwo öffentlich zusammen zeigen. Die Gefahr, dass ein Schüler oder ein anderer Bekannter ihnen begegnen würde, war viel zu groß. Hotels boten zwar eine große, aber doch keine perfekte Sicherheit. Deshalb würde es unumgänglich sein, dass sie sich zwar immer in Hotels trafen, diese jedoch permanent wechseln mussten. Und sie mussten sich im Vorfeld informieren, ob eventuell irgendwelche Veranstaltungen in der Stadt geplant waren, bei denen die erhöhte Möglichkeit bestand, dass jemand, den sie kannten, ihnen über den Weg lief. Doch wenn sie die Risiken der Entdeckung so weit wie möglich minimierten, dann konnte einfach nichts publik werden. Und diese Heimlichkeit machte ja sogar noch einen zusätzlichen Reiz aus. So empfand es jedenfalls Kagura.

Das Mädchen hatte keine Angst davor, zur Ehebrecherin zu werden. Sie wusste, dass ihr Japanischlehrer nicht verheiratet war, keine Kinder hatte und noch nicht einmal mit einer Freundin liiert war. Ansonsten wäre sie auch keinesfalls so hartnäckig gewesen. Eine intakte Ehe zu zerstören kam für sie absolut nicht in Frage. Doch auch wenn Isamu ungebunden war, so wehrte er sich mit Händen und Füßen gegen ein privates Treffen. Deshalb war Kagura auf die Idee mit dem Brief gekommen. Niemand konnte etwas dagegen sagen, wenn ihr Lehrer ihr Nachhilfeunterricht gab. Schließlich konnte dieser ja am besten beurteilen, ob ihre Leistungen wirklich so mangelhaft waren, die anderen Kollegen hatten keine Ahnung. Diese Vorgehensweise war also die perfekte Tarnung. Was sie in Wirklichkeit in der Zeit machten, in der privater Unterricht auf dem Plan stand, war ja allein ihre Sache und hatte keinen anderen zu interessieren.

Japanisch war schon ein tolles Fach. Nicht die Sprache an sich, sondern der Mann, der sie unterrichtete. Insgeheim wünschte sich Kagura jeden Tag, dass vielleicht ein anderer Lehrer krank werden würde und Isamu die Vertretung übernahm. Dabei brauchte er noch nicht einmal den benötigten Stoff zu behandeln. Kagura wäre auch hingerissen gewesen, wenn er nur vorne gestanden und aus dem Telefonbuch vorgelesen hätte.

Und jetzt war es endlich soweit. Die Unterrichtsstunde war in vollem Gange und es konnte nicht mehr viel Zeit bis zur Pause vergehen. Und wenn es geklingelt hatte und Isamu ihr gegenüber keine Bemerkungen über den Brief fallen ließ, dann würde sie eben von sich aus fragen, ob er ihren Brief bekommen hatte. Daraufhin würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als Stellung zu beziehen.

Es läutete zur Pause und Isamu rief zwischen dem Lärm der aufbrechenden Schüler hindurch tatsächlich, dass Kagura noch eine Weile im Klassenzimmer bleiben sollte. Darum ließ sie sich nicht zweimal bitten. Jetzt ging es nur noch darum, ein geeignetes Datum zu finden, in der sie beide Zeit füreinander hatten.

Als alle Schüler das Klassenzimmer verlassen hatten, schloss der Japanischlehrer die Tür und ging wieder zurück zum Pult, wo seine Schülerin schon ungeduldig wartete.

„Ich habe Ihren Brief bekommen“, begann er. „Allerdings kann ich den Sinn darin einfach nicht erkennen.“

Das Mädchen machte ein erstauntes Gesicht. „Nun, ich dachte, ich hätte den Sinn ziemlich klar zum Ausdruck gebracht. Ich benötige Unterstützung in Japanisch und …“

„Erzählen Sie keine Märchen. Sie haben ein B in Japanisch. Sie sind keine schlechte Schülerin.“

„Bin ich wohl“, protestierte Kagura, die ihre Felle davonschwimmen sah. „Kijiki ist viel besser als ich. Sie hat ein A.“

„Sie müssen aber nicht mit anderen konkurrieren. Ein B ist keine schlechte Note. Sie müssen nicht so gut sein wie andere.“

„Heißt das, Sie geben mir keine Nachhilfe?“, fragte Kagura fassungslos.

„Das heißt, dass Sie sehr genau wissen, dass Sie keine Nachhilfe benötigen. Sie wollen sich mit mir treffen. Aber nicht, um zu lernen. Und da Sie diese Absicht haben, sehe ich gar nicht ein,  dass ich meine Zeit verschwende.“

„Sie … Sie nehmen wirklich in Kauf … dass ich bei den Prüfungen durchfalle?“

„Meine Güte, Sie fallen nicht durch. Sie sind die drittbeste Schülerin in dieser Klasse.“

„Aber ich kapiere so vieles nicht. Dabei benötige ich Hilfe.“

Isamu atmete tief aus und sah dem Mädchen direkt in die Augen.

„Also schön. Sie glauben, dass Sie es nicht schaffen? Sie glauben, dass Sie Hilfe benötigen. Gut, ich werde Ihnen helfen.“

Innerlich triumphierte Kagura. Endlich hatte sie es geschafft. So offen konnte sie das natürlich nicht zeigen, also zwang sie sich zu einem nur zaghaften Lächeln und fragte erfreut: „Wirklich? Vielen Dank.“

Der Lehrer nickte. „Wenn Sie Hilfe brauchen, müssen Sie sie auch bekommen. Fragen Sie Kijiki. Ich bin sicher, die wird Ihnen das, was Sie nicht verstehen, sehr gerne verständlich machen.“

Nach diesen Worten ging Isamu zur Tür, öffnete diese und war verschwunden und ließ eine wie vom Blitz getroffene Kagura stehen, die noch gar nicht realisiert hatte, was vor wenigen Sekunden passiert war.

*****

„Meine Güte, heute war der Unterricht so langweilig wie lange nicht mehr“, stöhnte Makoto Sakurai auf dem Weg nach Hause.

„Du musst dich nur zu beschäftigen wissen, dann wird aus jeder langweiligen Unterrichtsstunde ein regelrechtes Fest“, antwortete sein Bruder.

Makoto seufzte. Er wusste genau, was Tetsuya meinte. Sobald der Unterricht anfing, sich wie Kaugummi zu ziehen, fing Tetsuya an Punkte auf ein Blatt zu malen, diese zu verbinden und in diese Kritzelei irgendwelche wahnsinnigen Dinge zu interpretieren. Ob die Dinge, die er in die Zeichnung interpretierte, Sinn ergaben spielte überhaupt keine Rolle. Makoto erinnerte sich noch sehr gut an den Stern, der einen Hasen auf einem Schlitten zieht. Vollkommen schwachsinnig, aber Tetsuya liebte es, seinen Bruder mit diesen Dingen zur Verzweiflung zu bringen.

An diesem Tag war es allerdings besonders schlimm gewesen, denn die Lehrer schienen sich abgesprochen zu haben. Jede Unterrichtsstunde war irgendwann an dem Punkt angelangt, an dem es spannender war, sich das Freizeichen im Telefon anzuhören. Und deshalb durfte sich Makoto auch permanent die hirnrissigen Erklärungen anhören, die ihm sein Bruder zu seinem Gekritzel ins Ohr raunte. Einiges davon war so absurd, dass Makoto sich sehr zurückhalten musste, um nicht in lautes Lachen auszubrechen.

So absolut gleich sie sich in ihrem Äußeren auch waren, so verschieden waren sie, was diesen Aspekt anbetraf. Makoto wunderte sich immer wieder aufs Neue, woher Tetsuya nur diese blühende Fantasie nahm. Sicher, auch er konnte sich irgendwelche Sachen ausdenken, aber in punkto Absurdität war er seinem Ebenbild weit unterlegen. Dafür sah er die Dinge ernster und realistischer als sein älterer Bruder.

An ihrem Haus angekommen gelang es ihnen, durch die Tür zu schlüpfen, nachdem eine ältere Dame das Haus verlassen hatte. Hinter der Haustür befand sich ein Zwischenraum, in dem auf einer Seite die Briefkästen angebracht waren. Zwischenraum und Treppenhaus waren durch eine Schwingtür abgetrennt.

Die Zwillinge stiegen die Treppe hinauf und blieben vor ihrer Wohnungstür stehen. Tetsuya wühlte in seinen Taschen.

„Hast du den Schlüssel?“, fragte er.

„Nein, du hast ihn doch heute früh eingesteckt.“

„Aber ich habe ihn nirgends.“ Hektisch suchte Tetsuya in den Taschen seiner Hose, seiner Uniformjacke und in der Brusttasche seines Hemdes nach dem Wohnungsschlüssel.

„Das darf doch nicht wahr sein“, stöhnte Makoto. „Hast du ihn etwa verloren?“

„Das ist schlecht möglich, da ich ihn ja gar nicht eingesteckt habe.“

Jetzt wurde Makoto unsicher. Auch er begann nach dem Kleinod zu suchen, das die Barriere zwischen ihnen und ihrer Wohnung einreißen konnte. Allerdings blieb auch er bei seinen Bemühungen erfolglos.

„Hast du ihn etwa verloren?“, stellte Tetsuya seinem Bruder die gleiche Frage. Dieser lächelte hilflos.

„Sieht fast so aus“, meinte er kleinlaut.

„Das ist ja wunderbar. Hast du dir schon mal überlegt, wie wir jetzt in unsere Wohnung kommen?“

„Keine Ahnung.“

„Na, zum Glück hat wenigstens einer von uns Ahnung“, grinste Tetsuya und hielt triumphierend den Schlüssel in die Höhe. „Reingelegt, ich hatte ihn doch bei mir.“

„Du bist heute wieder in Höchstform“, fauchte Makoto und riss seinem Bruder den Schlüssel aus der Hand, was dieser nur mit einem Lachen quittierte. Makoto steckte den Türöffner ins Schloss und ermöglichte ihnen den Zutritt. Er schaute nach links und rechts und runzelte die Stirn.

„Wieso hast du denn alle Türen geschlossen?“, wollte er von Tetsuya wissen. Das war bisher noch nie vorgekommen. Normalerweise blieb zumindest immer die Wohnzimmertür offen stehen. In diesem Raum hielten sie sich die meiste Zeit auf, so dass es Zeitverschwendung gewesen wäre, immer wieder die Tür auf- und zuzumachen.

„Was?“, fragte Tetsuya zurück und betrat die Wohnung. Auch er bemerkte, dass sämtliche Türen geschlossen waren.

„Was soll das denn?“

Entschlossen ging er zur Wohnzimmertür und öffnete diese, dicht gefolgt von seinem Bruder. Auf der Türschwelle blieb er stehen und starrte in den Raum. Makoto drängte sich neben ihn und schaute über seine Schulter. Er klappte den Mund auf.

Die Schränke waren geöffnet und Bücher, CD- und DVD-Hüllen sowie Spieleverpackungen herausgerissen worden. Vor den Schränken türmten sich die achtlos liegen gelassenen Gegenstände.

Instinktiv machte Tetsuya zwei Schritte rückwärts und stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. Hier bot sich den Zwillingen ein noch schlimmeres Bild. Die Türen der Kleiderschränke standen offen. Ihre gesamte Kleidung war aus den Regalen gerissen worden. Jacken, Hemden, Hosen, Pullover, T-Shirts, Unterwäsche, Strümpfe und Pyjamas waren auf dem Boden verstreut. Die Matratzen ihrer Betten waren von den Unterlagen gezerrt worden und lehnten an den Wänden. Die kleinen Gegenstände und Manga, die in einer Regalwand zwischen den Betten aufbewahrt wurden, waren herausgerissen worden und lagen im Zimmer.

Makoto starrte geschockt auf das Durcheinander und sein Mund begann zu zittern. In seinen Augen sammelten sich Tränen der Hilflosigkeit.

„Nein“, flüsterte er tonlos.

Was passiert war, war nicht schwer zu erraten. Offensichtlich hatte sich ein Einbrecher Zutritt zur Wohnung verschafft und hatte sie in der Hoffnung Geld oder Wertgegenstände zu finden durchwühlt. Was Makoto am meisten zu schaffen machte, war nicht der Verlust der  Einrichtung, sondern dass man in ihre Intimsphäre eingedrungen war. Bisher war ihm die Wohnung immer als sicherer Ort erschienen. Damit war es nun vorbei. Er würde nie wieder Sicherheit in seinen eigenen vier Wänden verspüren, das wurde ihm in genau dem Moment bewusst, in dem er fassungslos auf das Chaos starrte.

Und ein weiterer unangenehmer Gedanke kam ihm. Alle Türen waren geschlossen gewesen, nun waren es nur noch zwei: die vom Badezimmer und die von der Abstellkammer. Was war, wenn der Eindringling gestört worden war? Was, wenn sie ihn mitten in der Arbeit überrascht hatten? Womöglich befand er sich noch in ihrer Wohnung und hatte sich in einem der beiden Zimmer versteckt. Auf keinen Fall durften sie das Bad oder die Abstellkammer betreten, bevor sie nicht absolut sicher waren, dass der Verursacher die Wohnung verlassen hatte.

Makoto griff nach dem Arm seines Bruders.

„Tetsuya, vielleicht ist der Einbrecher noch hier. Im Bad oder …“

„Los, raus hier“, sagte Tetsuya und zerrte seinen Zwilling hinter sich her zur Wohnungstür, schubste ihn ins Treppenhaus und ließ die Tür ins Schloss fallen.

Als Makoto ins Gesicht von Tetsuya blickte, bekam er Angst, denn sein Bruder machte genau das, was Makoto die ganze Zeit zurückgehalten hatte. Er weinte. Doch kein Schluchzen kam aus seiner Kehle. Er atmete ganz ruhig und biss die Zähne so fest zusammen, dass die Wangenknochen  hervortraten. Nicht die Tatsache, dass Tetsuya weinte, sondern dass es absolut lautlos geschah ließ Makoto erschauern. Dann zückte sein Bruder das Handy.

„Wenn rufst du an?“

„Die Polizei. Diese Dreckskerle kommen nicht so einfach davon.“  

*****

Ganz vorsichtig bestrich Takeo den Rand der unteren rechten Flügelhälfte mit Leim und setzte sie auf die obere Hälfte, wobei er darauf achtete, dass das Rad, das er durch eine Aussparung in der unteren Flügelhälfte schob, den Klebstoff nicht berührte. Der Schüler drückte die beiden Hälften gegeneinander und hielt sie eine Weile fest, wobei er seine Finger am Rand des Flügels entlang gleiten ließ. So stellte er sicher, dass der Flügel an jeder Stelle zusammengedrückt wurde und der Leim sich gleichmäßig verteilte.

Zufrieden legte er den Flügel auf den Tisch und streckte sich. Er freute sich sehr darauf, am heutigen Abend mit Chizuru zum Poetry Slam zu gehen, auch wenn er Gedichten normalerweise nichts abgewinnen konnte. Aber vielleicht wurde es ja doch interessant und unterhaltsam, wie es seine Klassenkameradin ihm prophezeit hatte. Alleine die Aussicht ein paar Stunden mit Chizuru zu verbringen war es wert, dass er sich etwas aussetzte, was ihn eigentlich nicht interessierte.

Um sich die Wartezeit bis zum Abend zu verkürzen hatte Takeo beschlossen, das Modell eines Flugzeugs zusammenzubauen. Es handelte sich um ein Transportflugzeug, mit dem unverarbeitete Lebensmittel, die nicht verderben konnten, befördert wurden. Hierbei handelte es sich meist um Getreide, Nüsse oder Kakao- und Kaffeebohnen.

Neben den Einzelteilen des Bausatzes lagen noch der Klebstoff, ein kleines Messer, eine Feile, etwas Schmirgelpapier und ein Tuch auf dem Tisch. Bisher hatte der fünfzehnjährige Junge lediglich die beiden Flügel zusammengeleimt. Nun wollte er sich mit der Schnauze des Fliegers beschäftigen.

Er nahm ein Bauteil zur Hand, das aussah wie ein Viertel einer Kokosnuss und griff zum Schmirgelpapier, um die Kanten zu glätten. Es klopfte an seiner Tür.

„Ja“, rief Takeo und legte das Papier zurück auf den Tisch. Seine Mutter trat ein.

„Na, Hausaufgaben schon fertig?“, fragte sie.

„Das sind Hausaufgaben.“

Sie guckte ihn erstaunt an. „Was?“

„Na, ich erledige die Bastelarbeit zu Hause. Also sind es Hausaufgaben.“

„Bestechende Logik. Was hältst du von ‚Hot Fudge‘ zum Nachtisch?“

„Sehr viel“, sagte Takeo begeistert.

„Gut, dann gibt es das heute. Wann musst du in diesem Club sein?“

„Der Slam fängt um acht Uhr an. Es reicht, wenn ich um viertel nach sieben aufbreche.“

„Okay.“ Takeos Mutter hatte sich ziemlich gewundert, als ihr Sohn ihr am gestrigen Abend mitgeteilt hatte, dass er in einen Club wollte und natürlich hatte es sie interessiert, was ihr Sprössling abends in einem Club zu suchen hatte. Und noch erstaunter war sie darüber, als er ihr erzählte, dass dort Gedichte vorgetragen wurden. Natürlich wusste sie, dass sich Takeo nicht die Bohne für Gedichte interessierte, aber sie hatte nicht weiter nachgefragt, sondern sich ihren Teil gedacht. Ganz sicher würde er nicht alleine dorthin gehen und wenn er sich dem aussetzte, dann musste etwas ganz besonderes dahinter stecken. Und bei diesem Besonderen konnte es sich nur um ein Mädchen handeln. Aber Aya hatte ihre Vermutung nicht laut geäußert. Sie freute sich, dass Takeo so schnell Anschluss in seiner neuen Schule gefunden hatte und deshalb war sie bereit, die Zügel ein wenig lockerer zu lassen. Natürlich hatte sie das ganze mit ihrem Mann besprochen und auch er hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt.

„Aber um viertel nach zehn lassen wir dich wieder abholen.“

„Geht klar“, nickte Takeo und seine Mutter verließ das Zimmer wieder. Der Junge fuhr mit dem Zeigefinger über die Kante des Bauteils und spürte die Unebenheiten. An zwei Stellen waren sie so stark, dass sie spitz in seinen Finger stachen. Das waren die beiden Stellen, mit denen sie am Gerüst befestigt waren.

Takeo griff nach dem Schmirgelpapier. Kaum hatte er es berührt, wurde an seine Zimmertür geklopft.

„Herein“, sagte der Jugendliche, während er das Papier auf den Kunststoffrand setzte.

Hiru, der Majordomus der Familie Minami, betrat das Zimmer und schloss die Tür wieder.

„Entschuldige bitte, aber ich habe gute Neuigkeiten. Es geht um die Nachforschungen.“

Takeo legte das Bauteil und das Papier zurück auf den Tisch, setzte sich aufrecht und schaute Hiru gespannt an. Augenblicklich waren Chizuru und das Modellflugzeug vergessen.

„Haben Sie etwas herausgefunden?“

Hiru nickte. „Ich weiß jetzt, wie der Name des Jungen lautet.“

„Großartig. Wie heißt mein aufdringlicher Verfolger?“

„Er heißt Kiyoshi Oida und geht in die vierte Klasse deiner Schule. Ich sollte mich ja nur um seinen Namen kümmern, also weiß ich nichts weiter von ihm. Er scheint ein ganz normaler Junge zu sein. Sein Vater arbeitet in einer Fabrik, die Mutter kümmert sich um den Haushalt und arbeitet dreimal in der Woche halbtags bei einem Steuerberater. Das ist alles.“

„Ein ganz normaler Junge“, murmelte Takeo. „Allerdings finde ich es ganz und gar nicht normal, wie er sich mir gegenüber benimmt. Wer weiß, was dahinter steckt?“

„Soll ich mich auch darum noch kümmern?“, wollte Hiru wissen.

Takeo winkte ab. „Nein, das finde ich alleine heraus. Nachher werden Sie noch entlassen, weil Sie sich mehr um meine Belange kümmern und dadurch Ihre eigentlichen Aufgaben vernachlässigen.“

„Du würdest dann sicher ein gutes Wort für mich einlegen.“

„Aber hundertprozentig. Danke für die Information.“

Hiru nickte und ging wieder an seine Arbeit.

Der Minami-Sprössling stand auf und wanderte in seinem Zimmer auf und ab. Kiyoshi Oida hieß sein Verfolger also. Takeo nahm sich vor, den Jungen künftig mit seinem Namen anzusprechen. Vielleicht würde er dadurch so verschreckt, dass er das Stalking aufgeben würde. Einen Versuch war es allemal wert und wenn es funktionierte, so hatte sich die ganze Nachforschung von Hiru gelohnt.

Nachdem sich Takeo wieder auf den Stuhl gesetzt hatte, nahm er erneut das Bauteil und das Schmirgelpapier zur Hand. Er umwickelte seinen Zeigefinger mit dem Papier und war zweimal über die Kante gefahren, als es zum dritten Mal klopfte.

„Ja“, rief er ungehalten und richtete seinen Blick genervt zur Decke. Sein Vater Kou Minami war der diesmalige Störenfried.

„Kann ich mal was mit dir besprechen?“, wollte er wissen.

„Worum geht es?“

Kou setzte sich auf Takeos Bett und sah seinen Sohn an.

„Ist alles bei dir in Ordnung? Hast du irgendwelche Schwierigkeiten?“

Verwundert blickte der Teenager ihn an. „Nein, bei mir ist alles okay.“

„Ärger in der Schule? Oder sonstige Probleme?“

„Nichts dergleichen. Warum? Was ist los?“

„Nun, deine Mum hat in letzter Zeit komische Telefonanrufe erhalten. Manchmal wurde einfach aufgelegt, wenn sie sich gemeldet hat. Dann hat jemand nach dir gefragt und als ihm mitgeteilt wurde, dass du nicht da bist, wurde einfach wieder aufgelegt. Und in allen Fällen hat der Anrufer seinen Namen nicht genannt. Auch die Stimme wurde von deiner Mutter nicht erkannt. Hast du dafür eine Erklärung?“

Sofort kam dem Jungen Kiyoshi in den Sinn. Aber dieser Gedanke war absurd. Kiyoshi sah ihn doch jeden Tag in der Schule. Warum rief er dann noch bei ihm zu Hause an? Auf jeden Fall war sein merkwürdiger Verfolger seine Angelegenheit, daher beschloss er, seinem Vater nichts davon zu erzählen.

Takeo zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber ich habe auch einmal so einen Anruf erhalten. Das ist aber schon mehrere Wochen her. Als ich mich gemeldet habe, wurde einfach aufgelegt. Was das zu bedeuten hat, weiß ich allerdings auch nicht. Aber ich dachte, die Anrufe hätten wieder aufgehört.“

„Das haben sie auch“, bestätigte Kou. „Jedenfalls eine Zeit lang. Vor drei Wochen fingen sie aber wieder an und dauerten ungefähr zwei Wochen an. Jetzt ist wieder Ruhe.“

Kou erhob sich vom Bett.

„Vielleicht müssen wir eine neue Telefonnummer beantragen. Warten wir mal ab. Wenn es wieder auftritt, werde ich mal sehen, was für Maßnahmen ich ergreifen kann.“

Sobald sein Dad das Zimmer verlassen hatte, schnappte sich Takeo das Schild mit der Aufschrift „INTERRUPTION = DEATH“ und klebte es von außen an seine Zimmertür. Dieses Schild war eine deutliche Warnung und würde jeden Störenfried von Besuchen abhalten.

Takeo widmete sich wieder seinem Flugzeug und vier Minuten später ertönte der Gong, der ihn zum Abendessen rief. Sich seufzend in sein Schicksal ergebend legte der Junge das Modell beiseite und öffnete die Tür.

„Jetzt weiß ich auch, warum Techniker immer so lange brauchen, bis sie ein Flugzeug zusammengebaut haben“, murmelte er vor sich hin, während er die Treppe hinunter stieg.

*****

In der Wohnung war die Spurensicherung gerade an der Arbeit. Mit Handschuhen und Spezialpinseln fingerten sie in den Sachen der Zwillinge herum. Makoto wusste, dass sie nur ihre Arbeit taten, aber ihm kam es vor, als würden ihre Sachen ein weiteres Mal durcheinander geworfen. Die Zwillinge hatten nur eine vage Vorstellung davon, was sich gerade in ihrer Wohnung abspielte. Wahrscheinlich wurde nach Fingerabdrücken gesucht, aber Tetsuya konnte sich schon denken, was dabei herauskommen würde. Bestimmt hatte der Einbrecher Handschuhe getragen und keinerlei Abdrücke hinterlassen. Und das alles während sie in der Schule waren. Seelenruhig hatten die ungebetenen Besucher ihre Wohnung in ein Chaos verwandelt, und bestimmt hatten sie gewusst, dass die Zwillinge nicht so bald wieder zurück kommen würden.

Nachdem die Polizei am Tatort eingetroffen war, wurden zuerst die Personalien der beiden Jungen aufgenommen. Dann mussten sie den Tathergang schildern, was ziemlich schnell ging, denn Makoto und Tetsuya waren ja erst nach Hause gekommen, als alles schon geschehen war. Es folgten die üblichen Fragen nach Verdächtigen: ob sie sich jemanden vorstellen könnten, der bei ihnen einbrechen würde, ob sie Feinde hatten, ob jemand sich an ihnen rächen wollte und so weiter. Doch alle Fragen konnten die Zwillinge nur verneinen.

Dass es sich um einen Einbruch handelte, stand ohne Zweifel fest. Am Schloss der Tür hatten die Ermittler kleine Einbruchsspuren gefunden. Offenbar verstanden die Täter ihr Handwerk, denn sie hatten sich nur am Schloss zu schaffen gemacht und waren offenbar ziemlich schnell in der Wohnung gewesen.

Inspektor Barton, der diesen Einsatz leitete, wollte von den Jungs wissen, ob etwas gestohlen worden war. Doch auch diese Frage konnten die beiden nicht beantworten, denn natürlich hatten sie in dem ganzen Durcheinander keinen Gedanken daran verschwendet, ob irgendwelche Dinge fehlten.

Barton hatte tief eingeatmet, aber das verringerte den Umfang seines Bauchs nicht sonderlich. Er hatte den Zwillingen gestattet, dass sie sich vorsichtig in der Wohnung umschauen durften, um herauszufinden, was alles gestohlen wurde. Die Worte klangen durch seinen asthmatischen Atem ziemlich unangenehm. Barton hätte einer Frau eine Liebeserklärung machen können, sie hätte sich trotzdem bedrohlich angehört.

Also hatten sich Makoto und Tetsuya auf die Suche nach entwendeten Wertgegenständen gemacht, immer darum bemüht, die anwesenden Polizisten in ihrer Wohnung nicht zu stören. Barton war ihnen gefolgt und beobachtete sie auf Schritt und Tritt, als handele es sich um sein Heim und einer der Zwillinge könnte etwas in seiner Hosentasche verschwinden lassen.

„Hast du schon etwa bemerkt, das fehlt?“, wollte Makoto von seinem Bruder wissen, als sie zusammen standen.

Tetsuya schüttelte den Kopf. „Irgendwie ist noch alles da. Jedenfalls, soweit ich bis jetzt sehen kann.“

„Aber das ist doch total verrückt. Wir haben ’nen Fernseher und Spielkonsolen und so. So etwas nimmt man doch mit. Ich meine, ich breche doch nirgendwo ein und klaue dann nichts.“

Sein Bruder schielte zu dem Inspektor und wandte sich dann wieder Makoto zu. „Der Typ macht mich vollkommen nervös. Muss der uns immer nachlaufen wie ein Hund? Was denkt er, was wir hier anstellen? Die Wohnung verwüsten?“

Barton ging zu den beiden Jungs, wobei er über einen Berg Kleider steigen musste und fast das Gleichgewicht verloren hätte.

„Also, was fehlt?“, erkundigte er sich.

„Soweit wir sehen können, gar nichts.“

Der Inspektor nickte. „Interessant.“

„Ich würde sagen, merkwürdig wäre das passendere Wort.“

„Der oder die Täter brechen hier ein, aber sie stehlen nichts. Wieso?“

Tetsuya zuckte mit den Schultern. „Vielleicht waren sie nur auf Verwüstung aus und es macht ihnen Spaß, alles nur durcheinander zu bringen.“

„Möglich, aber das glaube ich nicht.“

„Vielleicht haben sie etwas gesucht“, mutmaßte der jüngere der Zwillinge.

Barton wies mit seinem fetten Zeigefinger auf Makotos Brust und nickte einmal.

„Aber was wollten sie denn finden? Wir haben es nicht nötig, irgendwelche Sachen zu verstecken, geschweige denn etwas Wertvolles.“

„Offensichtlich doch. Und das muss für den oder die Täter so wertvoll sein, das sie die gesamte Wohnung danach umgekrempelt haben.“

„Hier gibt es nichts“, beharrte Tetsuya. „Das wüssten wir.“

„Oh, wenn es hier etwas von hohem Wert gibt, dann heißt das ja nicht, dass Sie davon wissen.“

Die Zwillinge starrten ihn verständnislos an.

„Vielleicht ist es etwas ganz banales, eine Notiz auf einem Zettel oder so. Und so ein kleiner Gegenstand kann überall versteckt sein. Deshalb hat man ja auch die Wohnung in ein Schlachtfeld verwandelt.“

„Na toll“, schnaufte Tetsuya. „Und was haben die jetzt gesucht?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Barton. „Und da Sie es offenbar auch nicht wissen, sind wir nicht sehr viel weiter.“

Makoto kam ein beunruhigender Gedanke und er schaute den Inspektor mit ängstlichem Blick an.

„Kann es sein … dass die eventuell nicht gefunden haben, was sie suchten?“

„Das ist möglich“, sagte Barton trocken.

Ein jüngerer Kollege kam durch den Flur zu ihnen und wandte sich an den Inspektor.

„Also, ich habe jetzt alle Parteien befragt. Keiner von denen hat etwas gehört oder gesehen.“

„Warum überrascht mich das nicht?“

„Aber das kann doch gar nicht sein“, rief Tetsuya. „An der Wohnungstür sind Einbruchsspuren und bestimmt ist das ganze nicht geräuschlos abgegangen. Jemand muss etwas gehört haben.“

„Die Menschen sind wahre Weltmeister darin, bei Dingen, die sie ihrer Meinung nach nichts angehen sollen, Augen und Ohren luftdicht zu verschließen. Glauben Sie, misshandelte Kinder existieren aus Spaß?“

„Ich frage noch mal alle. Das gibt es doch gar nicht.“

„Sie können gerne die Leute aus Ihrem Haus noch einmal befragen, aber ich kann Ihnen mit großer Sicherheit sagen, dass das nichts ändern wird. Sie fallen ihnen nur auf die Nerven und dann werden sie bockig und sagen gar nichts. Vergessen Sie’s.“

„Ja, aber was tun wir denn jetzt?“, wollte Makoto wissen.

„Sie erstatten Anzeige wegen Einbruchs gegen Unbekannt. Vielleicht finden wir Fingerabdrücke. Und wir klappern die umliegenden Häuser ab, in der Hoffnung, dass von deren Bewohnern vielleicht einer etwas gesehen oder gehört hat.“

„Und … wenn der Einbrecher noch mal wiederkommt? Vielleicht kommt er ja auf die Idee noch einmal unsere Wohnung zu durchsuchen. Wir brauchen Schutz“, verlangte Makoto.

„Erstens ist es bis jetzt nur eine Mutmaßung, dass der oder die Täter bei Ihnen etwas gesucht haben. Zweitens ist überhaupt nicht gesagt, dass sie noch einmal wiederkommen werden. Das halte ich übrigens auch für relativ unwahrscheinlich. Warum sollen sie sich noch einmal die Arbeit machen? Und drittens können Sie ja in ein Hotel ziehen, wenn Ihnen diese Wohnung nicht sicher genug erscheint. Polizeischutz kann ich Ihnen jedenfalls nicht geben.“

Makoto konnte es nicht glauben, dass Barton nichts unternehmen wollte. Aber ihm war auch klar, dass der Inspektor Recht hatte. Sie waren nicht in unmittelbarer Gefahr, sie wurden nicht bedroht – man hatte lediglich bei ihnen eingebrochen. Und solche Einbrüche passierten bestimmt mehrere hundert Mal am Tag. Und es war auch nicht wirklich sicher, ob der Einbrecher sie erneut aufsuchen würde. Sie durch die Polizei beschützen zu lassen, war also absolut unnötig.

Vom Verstand her wussten die Zwillinge das alles natürlich ganz genau. Und dennoch fühlten sie sich in ihrer Wohnung nicht mehr sicher. Und wenn sie ehrlich waren, hätte auch eine Wache vor ihrer Tür nicht viel an diesem Gefühl geändert. Schlaf würden sie jedenfalls in der kommenden Nacht nicht finden, soviel stand fest. Und ob sie sich jemals wieder unbeschwert in ihrer Wohnung bewegen würden, musste die Zeit zeigen. Sie selber glaubten jedenfalls nicht daran. Irgendwo würde immer die Angst bleiben, dass jemand in ihre Privatsphäre, die sie bisher immer für sicher gehalten hatten, eindringen würde.

*****

Traurig und deprimiert verbrachte Haruka die Stunden bis zum Treffen auf dem Parkplatz. Die Worte von Chiyo hatten sie sehr getroffen. Und im Grunde genommen hatte sie ja Recht, das wusste Haruka sehr genau. So unsicher wie sie immer war, wollte natürlich niemand etwas mit ihr zu tun haben. Und das konnte man den Jungs und Mädchen auch gar nicht verdenken. Kazuki half ihr zwar in der Schule und verbrachte Zeit mit ihr, aber sie war fest davon überzeugt, dass er seine Zeit viel lieber auf sinnvollere Weise verbringen würde. Zumal er sich auch noch mit ihr in der Öffentlichkeit sehen ließ. Das ließ die anderen Leute bestimmt tuscheln.

Aber er war so nett. Haruka wollte nicht, dass sich das Maul über ihn zerrissen wurde, denn das hatte Kazuki nicht verdient. Sie musste den Anfang machen. Sie würde am nächsten Tag zu ihm gehen und ihm sagen, dass er sich nicht mehr mit ihr abgeben solle. Im behandelten Stoff sah sie jetzt langsam klar, so dass sie ihn zukünftig auch sicher ohne Kazuki verstehen würde. Sie musste nur im Unterricht sehr genau aufpassen und noch mehr mitarbeiten, dann würde es schon klappen.

Bei diesen Gedanken verspürte das Mädchen einen schmerzhaften Stich in ihrem Inneren. Und sie wusste, sie würde Kazuki diese Worte niemals sagen. Dazu hatte sie ihn viel zu gerne. Sie genoss es, mit ihm zusammen zu sein, ganz egal, was sie beide unternahmen. Immer, wenn er sie berührte, zuckte ein kleiner Blitz durch ihren Körper. Sie wünschte sich, er würde es öfter tun.  Von sich selbst aus würde sie niemals die Initiative ergreifen. So weit war sie einfach noch nicht. Aber es musste unbeschreiblich schön sein, wenn man jemanden ohne irgendwelche lästigen Gedanken anfassen konnte. Haruka seufzte und ein Lächeln trat auf ihr Gesicht, als sie an Kazuki und sich dachte.

Dieser glückliche Moment wurde allerdings jäh zerstört, denn abermals drängten sich Chiyos Worte in Harukas Bewusstsein. Und diese waren wie eine gewaltige Welle, die sich über alles Schöne auftürmte, um dann mit voller Wucht niederzuklatschen und die gesamten positiven Empfindungen und Bilder unter sich zu begraben.

„Na, woran denkst du gerade?“

Haruka zuckte zusammen, als sie die Stimme hörte und schaute empor. Vor ihr stand Nobu in einer schwarzen Jeans und einem grünen Sweater. Haruka sah wieder weg und murmelte: „Ach, an nichts.“

Nobu lehnte sich neben sie an die Mauer des Einkaufszentrums und sagte: „Komm, das nehme ich dir nicht ab. Du hast doch bestimmt an etwas gedacht. Und ich wüsste gerne, was es ist. Du kennst mich mittlerweile, ich lasse nicht locker, bis du es mir gesagt hast.“

Daraufhin fing Haruka an zu erzählen, wie sie all ihren Mut zusammengenommen hatte und Kazuki ihr Geständnis gemacht hatte.

Nobu zog die Augenbrauen hoch. „Kannst du dich noch an den Moment erinnern, unmittelbar nachdem du ihm gesagt hast, dass du ihn gerne magst?“

Haruka nickte. „Es war furchtbar. In meinem Inneren zog sich alles zusammen und eine gewaltige Stimme redete auf mich ein.“

„Was hat sie gesagt?“

Es vergingen einige Sekunden, bevor die Schülerin sagte: „Sie hat gefragt, was für einen Blödsinn ich jetzt schon wieder gemacht hätte und ob ich noch zu retten sei, ihm so etwas zu sagen und dass es kein Wunder sei, wenn er jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben wolle.“

„Wie hat Kazuki reagiert?“

„Er hat gemeint, dass er mich auch gerne mag und dass er es toll fand, dass ich ihm das gesagt habe.“

Nobu strahlte sie an. „Soll ich dir etwas verraten? Ich finde es auch sehr gut, dass du dich getraut hast. Ehrlich, das zeigt, dass unsere Arbeit Früchte trägt. Du gewinnst Stück für Stück mehr Selbstsicherheit. Ganz toll.“

„Du brauchst mich nicht zu loben“, meinte Haruka mit traurigem Gesicht.

„Sehr glücklich siehst du aber nicht gerade aus. Das solltest du aber. Immerhin hat Kazuki dir doch auch gesagt, dass er genauso denkt. Was deprimiert dich?“

Sie wollte es Nobu nicht sagen, aber sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Er würde sei nicht eher gehen lassen, bis sie ihm alles erzählt hatte. Und er brachte es auch fertig, bis zum nächsten Morgen zu warten, soweit kannte sie ihn inzwischen. Also sprang sie über ihren Schatten und erzählte ihm auch noch das restliche Geschehen ab dem Zeitpunkt, zu dem Chiyo sich bemerkbar gemacht hatte.

Nobu schwieg eine Weile, nachdem er alles erfahren hatte, und meinte dann: „Das war unglaublich gemein von ihr. Ich kann verstehen, dass du einfach gegangen bist. Du hast so hart gekämpft und dich überwunden, Kazuki deine Gefühle zu gestehen und dann kommt Chiyo und zerstört alles. Glaub mir, ich kann nachvollziehen, wie es dir in diesem Augenblick gegangen ist. Es ist klar, dass du Kazuki für den Rest des Tages aus dem Weg gegangen bist. Doch er hat dich verteidigt, als Chiyo mit ihren Beleidigungen anfing. Das bedeutet doch, dass er nicht damit einverstanden war und dich trotz allem immer noch mag, meinst du nicht?“

Haruka zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat er insgeheim auch so gedacht und war nur sauer, dass Chiyo ihm die Augen geöffnet hat.“

„Das glaube ich nicht. Du bist ein richtig tolles Mädchen. Du willst die Dinge, so wie sie jetzt sind, nicht einfach hinnehmen. Und deshalb bist du bereit, an dir zu arbeiten. Deshalb tauchst du zu jeder Unterrichtsstunde auf und bist bereit, dir von mir Unterstützung zu holen. Und wenn dich jemand beleidigt, dann solltest du in der Lage sein, demjenigen Kontra zu geben. Das hat etwas damit zu tun, dass dein Selbstvertrauen so weit gestärkt ist, dass du in der Lage bist, andere Leute, die Schwachsinn über dich erzählen, in ihre Schranken zu weisen. Und dass du schon viel Selbstvertrauen gewonnen hast, siehst du doch daran, dass du Kazuki gestanden hast, dass du ihn magst. Vor zwei Monaten hättest du dich sicherlich nicht getraut, ihm das zu sagen.“

Sie blickte ihn zögerlich an.

„Es gibt keinen zweiten Menschen, der so ist wie du und genau deshalb bist du einmalig. Du solltest ein positiveres Bild von dir selbst bekommen. Wenn du mit dir zufrieden bist, dann bist du auch mit deinen Handlungen zufrieden. Und deshalb werden wir genau das heute üben.“

Er stellte sich vor das Mädchen und blickte ihr genau in die Augen.

„Ich möchte, dass du etwas positives über sich sagst.“

„Was denn?“

„Vollkommen egal. Nur positiv muss es sein. Und es muss dich betreffen.“

Haruka zögerte.

„Gar nicht lange überlegen“, drängte Nobu.

„Ich … ich kann gut kochen.“

„Okay, weiter!“

„Ich bin besser in der Schule geworden.“

„Noch etwas!“

„Ich gewinne mehr Selbstvertrauen.“

Nobu schüttelte den Kopf. „Ja, das ist alles ganz schön und gut. Aber du sagst das wie ein Roboter. Ich möchte, dass du hundertprozentig von dem überzeugt bist, was du sagst und das auch laut und deutlich zum Ausdruck bringst. Stell dir vor, die ganze Welt ist krank und es gibt nur ein Heilmittel. Du kannst die Menschen nur dann heilen, wenn alle von deinen positiven Seiten erfahren. Deshalb müssen auch die Leute in Afrika davon erfahren und zwar von dir.“

Sie sah ihn verständnislos an.

„Schreie es raus. Mache es so, wie bei unserer allerersten Übung. An die erinnerst du dich doch sicher noch. Rufe es so laut wie du nur kannst. Jeder muss es hören.“

Er legte den Arm um sie und schaute sie an.

„Weißt du eigentlich, dass du toll bist? Und dass du gut aussiehst?“, sagte er leise.

Oh Gott! Was war das denn jetzt? Haruka wurde knallrot und senkte den Kopf.

„Nein, nein, den Kopf oben behalten“, rief Nobu und drückte von unten gegen ihr Kinn. „Wenn ich das sage, dann bist du peinlich berührt, weil du meinst, ich übertreibe. Aber das tue ich nicht. Und weißt du, wann du erkennst, dass ich die Wahrheit sage? Wenn du sie selber sagst. Wenn du mit deiner eigenen Stimme hörst, dass du toll bist. Und dass du gut aussiehst. Deshalb möchte ich, dass du es sagst. Und zwar jetzt und hier. So laut wie möglich.“

Haruka blieb stumm. Diese Übung gefiel ihr überhaupt nicht. Sie war noch schwachsinniger als die allererste, die sie gemeinsam gemacht hatten.

„Ich lasse dich hier nicht weg, das weißt du. Und du weißt auch, wie du dich aus dieser Situation befreien kannst. Also?“

Ja, das wusste sie. Nobu würde keine Skrupel haben, sie über Nacht hier festzuhalten. Es gab nur einen Ausweg aus diesem Dilemma, auch wenn der ihr ganz und gar nicht gefiel.

„Ich bin toll“, sagte sie.

Nobu verzog das Gesicht. „Hast du gerade auch den Regenwurm husten gehört? Das reicht noch bei weitem nicht. Ich möchte, dass du es viel viel lauter sagst. Und mit Überzeugung in der Stimme. Denke daran, du musst Millionen Menschen das Leben retten. Du willst doch nicht, dass sie deinetwegen sterben, oder?“

„Ich bin toll“, meinte Haruka etwas lauter und bestimmter.

„Schon besser“, lobte Nobu. „Aber das haben nur die Leute bis Texas gehört.“

Der Junge ließ nicht locker, bis Harukas Stimme laut über den Parkplatz schallte. Fast eine halbe Stunde lang konnte man abwechselnd Sätze wie „Ich bin toll“, „Ich sehe gut aus“, „Ich zeig’s ihnen“ und „Niemand darf es wagen, mich zu ärgern“ hören.

„Na, wie fühlst du dich?“, wollte Nobu wissen.

„Sehr gut“, lächelte Haruka.

„Okay, dann war es das. Machen wir Schluss. Du hast dich jetzt lange genug zum Affen gemacht und dir Schwachsinn eingeredet.“

Die Schülerin erstarrte. „Was?“, fragte sie tonlos.

„Ach komm“, lachte  Nobu. „Du glaubst doch den Dreck etwa nicht selber, den du die ganze Zeit gebrüllt hast. So naiv kannst selbst du nicht sein.“

„Aber ich …“

„Ja, ich weiß, geschenkt“, winkte ihr Mentor ab. „Komm, ich bin müde. Gehen wir nach Hause.“

Er wandte sich von ihr ab. Wut wallte in ihr hoch und überflutete sie. Was glaubte er eigentlich, was er hier mit ihr machte? Sie lief hinter ihm her und packte ihn am Arm.

„Was heißt hier Schwachsinn eingeredet. Ich sehe gut aus.“

„Ja“, nickte er, „in der Geisterbahn würdest du vielleicht ’ne ganz gute Figur machen. Aber wir sind hier in der Realität.“

Haruka wurde noch wütender. Endlich zeigte Nobu sein wahres Gesicht. Dieses ganze Getue von wegen Hilfe war eine einzige Lüge. Und sie hatte auch noch zugelassen, dass er sie die ganzen Wochen nach Strich und Faden verarschte.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, schrie sie ihn an und stieß ihm die Handflächen vor die Brust, dass er nach hinten taumelte. „Meinst du, ich verbringe hier meine Zeit, damit du dich über mich lustig machen kannst?“

„Hey, ist ja schon gut“, meinte er ruhig, die Hände abwehrend nach vorne gestreckt, was sie noch mehr in Rage brachte.

„Überhaupt nichts ist gut! Findest du es toll, andere zu demütigen? Brauchst du das, damit du nachts besser schlafen kannst? Lass dir bloß nicht einfallen, dich mir noch einmal auf weniger als zehn Meter zu nähern, dann kannst du aber was erleben.“

Mit hochrotem Kopf ging sie über den Parkplatz. Als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte, drehte sie sich blitzschnell um.

„Fass mich ja nicht noch einmal an!“, schrie sie Nobu entgegen.

„Okay, okay, ich hab’s begriffen. Aber ich möchte, dass du verstehst, dass das alles nur ein Teil einer Übung war.“

Haruka kniff die Augen zusammen und funkelte ihr Gegenüber an. Wenn sie die Fähigkeit besessen hätte, Blitze zu verschießen, wäre Nobu in diesem Augenblick tot zusammengebrochen.

„Ich wollte dich provozieren, so dass du dich gegen mich zur Wehr setzt. Und das hat ja auch wunderbar geklappt. Dadurch, dass du die erste Übung so lange und so intensiv wiederholt hast, hast du auch die Einstellung zu den von dir gesprochenen Sätzen übernommen. Und als ich es dann gewagt habe, dich zu beschimpfen, dann hast du dich gewehrt. Genau so habe ich mir das vorgestellt. Und genau so musst du es tun, wenn dich wieder jemand dumm anmacht, so wie Chiyo heute im Park. Du kannst es. Das hast du gerade eindeutig bewiesen.“

Haruka war immer noch misstrauisch, entspannte sich aber ein wenig. „Dann heißt das …“

„Ich finde immer noch, dass du toll bist und unglaublich hübsch aussiehst“, lächelte Nobu sie an.

Sie sah ihn an und als sie erkannte, dass er die Worte ehrlich meinte, erwiderte sie sein Lächeln.

„Komm, ich fahr dich nach Hause“, bot er ihr an. „Du hast heute einen großen Fortschritt erzielt.“

*****

Ren war ziemlich deprimiert, als er an diesem Abend nach Hause ging. Er hatte eine Verabredung im Tierheim gehabt, um sich mit einer Mitarbeiterin dort zu unterhalten. Ren war seiner Lehrerin sehr dankbar, dass sie für ihn diesen Termin ausgemacht hatte. Das Winterfest dauerte zwar noch einige Zeit, aber Informationen konnte man nie früh genug sammeln.

Die Informationen, die er bekommen hatte, waren allerdings nicht dazu angetan gewesen, ihn glücklich zu stimmen. Er hatte erfahren, dass es verantwortungsbewusste Menschen gab, die ihre Haustiere im Urlaub hier ablieferten. Das war zwar nicht gerade die idealste Lösung,  aber einige Leute hatten halt niemanden, der sich ansonsten um die Tiere kümmern konnte.

Aber leider gab es auch das genaue Gegenteil: Menschen, die zwar vorgaben, dass sie in den Urlaub oder sonstwohin fahren wollten, aber in Wirklichkeit mit ihrem Vierbeiner nicht klar kamen und ihn deshalb ins Tierheim abschoben. Abgeholt wurde das Tier nie wieder. Natürlich mussten Personalien angegeben werden, aber wenn eine falsche Adresse oder Telefonnummer aufgeschrieben wurde, dann konnte man halt nichts machen. Diese Tiere konnten dann von Glück sagen, wenn sie so schnell wie möglich ein anderer Besitzer haben wollte.

Man konnte eben nicht in das Innere der Menschen hineinsehen. Am widerlichsten fand Ren aber die Sorte Menschen, die ohne eine Notiz ihre Haustiere vor dem Tierheim oder – was noch schlimmer war – irgendwo in der Walachei aussetzten. Vor dem Tierheim wurden sie rasch gefunden, so dass für sie gesorgt werden konnte. Aber auf einer Autobahn oder in einem abgelegenen Waldstück war diese Voraussetzung nicht gegeben. Da musste der Hund schon sehr viel Glück haben, um in den nächsten Stunden entdeckt zu werden.

Der Rundgang durch das Tierheim hatte den Jungen dann vollends deprimiert. In den Käfigen waren alle möglichen Arten von Tieren zu finden gewesen: Hunde, Katzen, Nagetiere. Die meisten der im Tierheim ansässigen Vierbeiner waren natürlich Hunde, gefolgt von Katzen. Wie ein Messer schnitt es Ren ins Herz, als er an den Zwingern vorbeimarschierte und die Hunde ihr Konzert abgaben, um auf sich aufmerksam zu machen. Ein paar Tiere beteiligten sich auch nicht, sondern blieben einfach nur ruhig auf dem Boden liegen und schauten kurz zu dem Besucher. Vielleicht rechneten sie sich mehr Chancen aus, dass man sie mitnehmen würde, wenn sie kein Theater veranstalteten.

Zu gerne hätte sich Ren einen Hund oder eine Katze mitgenommen, aber er wusste, dass es im wahrsten Sinne des Wortes tierischen Stress mit seinen Eltern geben würde, wenn er ein Tier mit in die Wohnung schleppte. Durch die ständigen Umzüge in eine andere Stadt hielten seine Eltern es für verantwortungslos, ein Tier zu halten. Und Ren konnte sie auf der einen Seite auch verstehen.

Auch das Verlangen, einen Vierbeiner zu streicheln und so ein wenig Trost zu geben, unterdrückte der Schüler. Eventuell weckte er dadurch in dem Tier Hoffnung, dass es mitgenommen werden würde. Und da er genau wusste, dass das nicht möglich war, hielt er es für ziemlich gemein, dem armen Wesen etwas vorzugaukeln.

Natürlich war das Tierheim nicht im geringsten für eine artgerechte Hundehaltung ausgerichtet. Es gab kaum Grünflächen, auf denen die Tiere sich austoben konnten. Ehrenamtliche Mitarbeiter gingen zweimal mit den Hunden spazieren, aber meist führten sie mehrere Hunde gleichzeitig aus, so dass von einem ereignisreichen Spaziergang mit Herumtollen, ausgiebigem Schnüffeln und Erkunden der Umwelt nicht die Rede sein konnte.

Sehr nett fand Ren es, dass es Menschen gab, die durch Spenden für die Tiere sorgten und das Heim auf diese Weise unterstützten. Futterspenden waren zwar nicht immer geeignet, da viele Leute einfach wahllos Sachen abgaben, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Bei denen war es dann wohl doch besser, wenn sie sich keine Haustiere anschafften, denn womöglich bekam der Hund bei ihnen auch Schokolade zu essen. Aber einige Menschen halfen auch mit Geld, was in diesem Fall bestimmt nützlicher war, denn so konnte anständiges Futter für die Tiere angeschafft werden.

Auch bei der Futterzubereitung hatte Ren zusehen und sogar selbst Hand anlegen dürfen. Er hatte Salat für Schildkröten gezupft und Obsst und Gemüse kleingeschnitten. Alles in allem war der Nachmittag sehr informativ gewesen und der Junge brannte darauf, auf dem Winterfest viele Neuigkeiten an seine Schulkameraden weiterzugeben.

Nun war er auf dem Nachhauseweg. Unterwegs bemerkte er, dass sich ein Schnürsenkel gelöst hatte und er blieb stehen und bückte sich, um sich seinen Schuh wieder ordentlich zuzubinden. Plötzlich hielt er inne. Was war das für ein Geräusch? Es klang ziemlich jämmerlich. Und von wo kam es?

Er versuchte sich zu orientieren und stellte fest, dass das Geräusch vor ihm erklang. Doch da war nichts als eine grüne Wiese, die mit einem Stacheldrahtzaun von der Straße abgetrennt war. Zwischen Straße und Zaun gab es noch einen kleinen Graben, der allerdings kein Wasser führte, da es in den letzten Tagen nicht geregnet hatte.

Ren ging vorsichtig in Richtung des Geräusches, das aus dem Graben zu kommen schien. Der Junge guckte nach links und rechts, konnte aber nichts entdecken. Doch das Geräusch war lauter geworden, daran gab es nicht den geringsten Zweifel.

Und dann sah er doch etwas. Ein kleiner Schuhkarton, der mit Gras bedeckt war, befand sich im Graben. Ren stieg in den Graben und ging zu der Stelle, an der der Karton lag. Er befreite ihn vom Gras und hob den Deckel ab. Im Inneren saß eine kleine Katze, die ihn aus großen Augen erstaunt ansah.

„Was zum …“, flüsterte Ren, ließ den Deckel fallen und hob das Bündel aus dem Karton, das sich sofort an ihn schmiegte.

„Wer hat dir das angetan?“, fragte er leise und bekam ein Maunzen als Antwort. Ren streichelte das Tier und drückte die Nase gegen ihr Fell und der kleine Tiger rieb den Kopf an seiner Wange.

Ren fasste es einfach nicht. Auf dem Weg zum Tierheim war der Karton noch nicht an dieser Stelle gewesen. Er war ganz langsam gegangen, um die Natur zu genießen und ihm wären die Laute der Katze aufgefallen. Also konnte das Tier noch nicht sehr lange im Graben gelegen haben. Wie brachten Menschen so etwas fertig? Manchmal konnte einem richtig schlecht werden, wenn man sich überlegte, dass man auch zu dieser Spezies gehörte, die nicht einmal vor einem Tierleben Achtung hatten.

Sofort war für den Jungen klar, dass er den Vierbeiner mit nach Hause nehmen würde. Sollte es doch Ärger geben, das war ihm völlig egal. Hier war ein Tier, das Hilfe benötigte. Und er würde sie ihm geben. Diesmal würde er nicht kampflos aufgeben, wenn seine Eltern verlangten, dass er die Katze wieder dorthin brachte, wo er sie gefunden hatte.

Das Tierheim war nicht weit entfernt und eine Alternative gewesen, aber da er gesehen hatte, unter welchen schlimmen Bedingungen die Tiere dort leben mussten, wollte er dem Vierbeiner, den er im Arm hielt, diese Art der Unterbringung nicht zumuten. Er würde schon für alles sorgen – für Futter, für eine Katzentoilette und für Spielzeug. Schließlich beschäftigte er sich mit Katzen und wusste gut Bescheid.

Und um diese kleine Katze nicht zu mögen, musste man wirklich ein Herz aus Stein haben. Ren musste an den Beschützerstatus seiner Eltern appellieren, dann würden sie ihm sicherlich erlauben, das Tier zu behalten. Auf jeden Fall würde sein erster Gang ihn gleich morgen zu einem Tierarzt führen. Soweit Ren bis jetzt erkennen konnte, war die Katze nicht verletzt, aber es konnte nicht schaden, wenn er seinen neuen Mitbewohner von Kopf bis Pfote gründlich untersuchen ließ.

Den Vierbeiner streichelnd und beruhigend auf ihn einredend ging Ren weiter und hoffte für denjenigen, der den Karton im Graben deponiert hatte, dass dieser ihm nie über den Weg laufen würde.

*****

Energisch hatte Takeo darauf bestanden, dass man ihn mit einem unauffälligen Auto zum „Joey’s“ fuhr, denn er hatte absolut keine Lust, irgendwelche Fragen zu beantworten, wenn er mit einem imposanten Schlitten vor dem Club vorfuhr, vor dessen Eingang er sich mit Chizuru verabredet hatte. Noch als er zu Hause war, hatte er seinen Majordomus gefragt, ob er wisse, was ein Poetry Slam sei. Natürlich wusste Hiru genau Bescheid. Er hatte sogar erzählt, dass er einmal an so einem Poetry Slam teilgenommen hatte. Allerdings war es eher eine geschummelte Teilnahme gewesen, denn die Gedichte, die Hiru zum Besten gegeben hatte, waren nicht seine eigenen gewesen, sondern die eines Freundes. Doch da dieser zu schüchtern gewesen war, um auf die Bühne zu gehen, war halt Hiru für ihn eingesprungen.

Takeo wusste nicht so recht, ob er diese Geschichte glauben sollte. Manchmal erfand Hiru einfach Geschichten, um ihn zu beruhigen. Anschließend klärte er den Zwischenfall, den Takeo wohl missverstanden haben musste, auf und er tat das auf eine Weise, dass der Teenager ihm absolut nicht böse sein konnte.

Auf der anderen Seite war es natürlich doch möglich, dass Hiru zu so einer Veranstaltung ging. Immerhin wusste Takeo nicht, was der Majordomus an seinen freien Tagen machte. Jedenfalls versicherte Hiru ihm, dass ihm der Slam ganz bestimmt Spaß machen würde. Alleine das Zuhören machte riesigen Spaß und sollte laut Hiru das Hirn ankurbeln. Man fing an, sich über das gehörte Gedanken zu machen und die Geschichten weiterzuspinnen oder sich selbst Gedichte auszudenken. Einem regen Austausch mit den anderen Besuchern konnte man jedenfalls nicht aus dem Weg gehen.

Nach etwa einer halben Stunde Fahrt war Takeo beim Club angelangt. Für seine erste Verabredung mit seiner Freundin, die gleich in einen Club geführt hatte, hatte sich der Junge einigermaßen in Schale geworfen. Er trug ein hellgrünes Hemd und eine schwarze Stoffhose. Seine Jeansjacke, die er normalerweise trug, hatte er gegen eine schwarze Lederjacke getauscht.

Takeo verließ das Fahrzeug und sein Fahrer teilte ihm mit, dass er um 22:15 Uhr wieder vor dem Eingang warten würde. Noch während das Auto davon fuhr, blickte Takeo sich suchend um und hatte Chizuru fast sofort entdeckt. Sie lehnte an einem Blumentopf, der ihr bis zur Hüfte reichte und sah richtig toll aus. Sie trug eine weiße Bluse und eine Jeans. Um den Hals hatte sie ein rotes Tuch geschlungen. Auf den Schultern ihrer beigen Jacke glitzerten kleine weiße Steinchen.

Der Junge ging zu ihr und begrüßte sie.

„Du siehst klasse aus.“

„Danke, du gefällst mir auch. Wollen wir uns in die Menge stürzen?“

„Ist es denn so voll?“, wollte Takeo wissen.

„Normalerweise nicht, aber wenn der Slam stattfindet, dann ist es immer ziemlich gut besucht. Komm, lass uns reingehen, sonst sind die guten Plätze alle weg.“

Sie stiegen die Treppenstufen zum Club empor und öffneten die Tür. Der Club war wirklich gut besucht. Männer und Frauen aller Altersstufen waren vertreten, saßen an Tischen und hatten Getränke vor sich oder standen im Raum herum und unterhielten sich. Der Raum war in ein angenehmes Dämmerlicht getaucht.

„Komm, da hinten“, rief Chizuru und zerrte Takeo mit sich. Dem Jungen blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, wenn er nicht wollte dass sie ihm den Ärmel seiner Jacke abriss. Und dann sah er auch, warum Chizuru es so eilig hatte. In einer Ecke gab es noch einen freien Tisch und genau diesen steuerte sie an. Allerdings war sie nicht die einzige. Ein anderer Mann wollte sich ebenfalls diesen Platz reservieren und jetzt kam es nur darauf an, wer zuerst den Tisch erreichte. Takeos Begleiterin kannte kein Erbarmen. Sie kurvte um Tische und schob sich achtlos durch die Menschenmenge und ihr Eifer wurde belohnt. Kurz bevor der Mann den Tisch erreicht hatte, hatte Chizuru sich bereits auf einen der beiden Stühle gesetzt und Takeo auf den anderen gedrückt.

„Erster“, keuchte sie völlig außer Atem.

Takeo sah den Mann an und hob entschuldigend die Schultern, während ihr Mitstreiter mit säuerlicher Miene abdrehte.

„Ich glaube, der wollte den Tisch haben“, grinste Takeo.

„Nicht … so lange ich … hier was … zu sagen habe“, japste Chizuru.

„Du hast hier was zu sagen? Das ist ja interessant. Hast du Anteile an dem Club hier?“

„Nur … diesen Tisch.“

Takeo schüttelte lächelnd den Kopf und bestellte bei einer Bedienung, die gerade vorbei kam, zwei Gläser Orangensaft. Dann sah er sich etwas genauer um. Rechts vor ihnen befand sich die Bühne, die noch im Dunkel verhüllt war. Alle weiteren Tische waren besetzt und die Gäste, die keinen Sitzplatz ergattern konnten, standen im Raum oder lehnten an den Wänden. Und immer noch betraten Menschen das „Joey’s“.

„Wie oft warst du schon hier?“, wollte Takeo wissen.

„Ich habe aufgehört zu zählen. Ein Freund meines Dad hat mir den Tip gegeben, hier mal herzukommen. Das erste Mal habe ich zusammen mit meiner ganzen Familie diesen Club besucht. Und ich war gleich vom ersten Abend begeistert. Also bin ich hier ab und zu mal wieder aufgetaucht. Aber ich bin froh, dass ich jetzt mit dir hier bin.“

Sie ergriff seine Hand und lächelte ihn an. Takeo erwiderte das Lächeln, während es in seinem Bauch kribbelte.

Die Bedienung brachte ihnen die Getränke und gleich danach ging das Licht aus und ein greller Scheinwerfer beleuchtete die Bühne. Unter Applaus begab sich ein kleiner älterer Mann mit einer Halbglatze zum Mikrofon.

„Ladies und Gentlemen, ich freue mich außerordentlich, dass Sie auch heute wieder den Weg ins „Joey’s“ gefunden haben. Natürlich fiel es Ihnen heute ganz besonders leicht, hierher zu finden, denn Sie wissen ja, um was es gehen wird. Heute abend ist wieder Poetry Slam. Da bei jedem Slam auch immer neue Besucher dabei sind, erkläre ich kurz, worum es geht. Heute abend erwarten Sie Lesungen von Gedichten und Geschichten. Die Personen, die diese Formen der Literatur vortragen, haben sie selbst geschrieben. Wenn Sie jetzt denken, dass es sich um simple Vorlesungen handelt, dann darf ich Sie beruhigen. Unsere Teilnehmer geben sich jede erdenkliche Mühe, um Sie zu unterhalten. Lassen Sie sich überraschen, bestimmt haben Sie die eine oder andere Lesart in dieser Form noch nie gesehen. Manche müssen ihre Texte ablesen, andere kennen Sie auswendig, aber alle werden in einer Art und Weise vorgetragen, dass bei Ihnen die Gefühle übersprudeln werden.
Aber Sie haben auch die Möglichkeit, sich von den Vortragenden zu erlösen. Sollte Ihnen ein Beitrag nicht gefallen und Sie möchten, dass der Redner aufhört, so brauchen Sie nur Ihrem Unmut Luft zu machen. Der Redner muss dann die Bühne verlassen.
Maximal hat jeder Vortragende acht Minuten Zeit. Derjenige, der die längste Zeit auf der Bühne ausgeharrt hat, erhält auch heute abend wieder 150 Dollar in bar. Durften mehrere Teilnehmer gleich lange auf der Bühne verweilen, so gibt es zwischen ihnen ein Stechen. Diese müssen dann einen ihnen fremden Text vorlesen. Wer das am längsten durchhält, hat gewonnen.
Sie wissen nun, wie es funktioniert. Dann darf ich den ersten Teilnehmer an das Mikrofon bitten: Samuel Harrison aus New York.“

Takeo war gespannt. Er hatte die Regeln verstanden und fand es gut, dass das Publikum mit abstimmen durfte. So konnte man wenigstens die Schnarchnasen so früh wie möglich rauskicken. Und Samuel Harrison war der erste Kandidat, der die Zuhörer mit seinen Texten quälte. Er leierte einfach nur seinen Text herunter, ohne Ausdruck, ohne Gefühl, ohne Betonung. Da war nicht zu erkennen, dass er sich Mühe gab und genau so hatte sich Takeo den Poetry Slam vorgestellt. Einfach nur langweilig und er stimmte mit dem Publikum vollkommen überein, dass bereits nach zwei Minuten die ersten Buh-Rufe hören ließ. Auch Chizuru stimmte in die missfallenden Äußerungen mit ein und meinte nur, als Harrison endlich von der Bühne verschwunden war: „Meine Güte, da ist ja das Schnarchen meines Vaters interessanter.“

Die zweite Teilnehmerin war eine mittelalte Frau, die mit zwei Handpuppen auf die Bühne kam, einem Hasen und einem Fuchs. Sie erzählte die Geschichte von dem Hasen, der den Fuchs dazu überredete, doch seine Stärke und Schönheit ein wenig mehr zum Vorschein zu bringen. Dabei verstellte sie ihre Stimme für jedes Tier und sorgte so für Lacher beim Publikum. Am lautesten lachten die Besucher, als der Hase den Fuchs doch tatsächlich zur Maniküre und Pediküre überredete, wobei dem Fuchs die Krallen rundgefeilt wurden und er dieses Ergebnis auch noch viel schöner als vorher fand. Seine Zähne wurden vom Zahnarzt mit Schaumstoff überkront. Und die anderen Tiere waren einstimmig der Meinung, dass er der hübscheste Fuchs war, den es in ihrem Wald gab.

Die kompletten acht Minuten verbrachte die Frau auf der Bühne – völlig zu Recht, wie Takeo meinte. Dieser Vortrag hatte ihm richtig gut gefallen. So konnte es von ihm aus weitergehen.

Nach und nach hielten die anderen Teilnehmer ihr Programm auf der Bühne ab. Und es waren ein paar unbestreitbare Highlights unter den Auftritten. Beispielsweise gefiel Takeo der Anagramm-Mann sehr gut. Er ließ sich vom Publikum Wörter zurufen und verwandelte sie innerhalb von fünf Sekunden in ein Anagramm. Wie er das fertig brachte, wusste Takeo auch nicht, aber der Erfolg sorgte allgemein für Heiterkeit.

Chizuru rief ihm „Kurzurlaub“ zu und daraus machte er ohne viel nachzudenken „Blau zur Kur“. Das „Fitnessstudio“ eines anderen Mannes verwandelte er kurzerhand in „Softeisnudist“. Allgemeine Heiterkeit war auch gegeben, als aus den „Rekordschulden“ das „Droschkenluder“ wurde. Dieser Teilnehmer blieb ebenfalls die vollen acht Minuten auf der Bühne.

Ziemlich lange hielt es auch der Schüttelreimer auf der Bühne aus. Er fing sehr gut an, aber vermutlich war sein Fehler, dass er seine besten Schüttelreime ganz zu Anfang vortrug. Im Verlaufe der Darbietung wurden die Gedichte jedoch immer schlechter, so dass er nur ganz knapp die acht Minuten nicht erreichte, sondern vorher von der Bühne gebuht wurde.

Ein Höhepunkt war ebenfalls der Mann, der seinen selbstgeschriebenen Text mit Geräuschen untermalte, die er mit dem Mund und einigen Hilfsmitteln fabrizierte.

Die gesamten Darbietungen dauerten gute anderthalb Stunden und zum Schluss gab es noch einmal ein Stechen zwischen fünf Teilnehmern, die alle im ersten Durchgang acht Minuten auf der Bühne ausgeharrt hatten. Das Preisgeld ging schließlich an den Anagramm-Mann, auch wenn dessen Darbeitung streng genommen nicht ins Poetry Slam-Programm passte.

Es waren vergnügliche zwei Stunden gewesen und Takeo hatte sich nicht vorstellen können, dass diese Veranstaltung so unterhaltsam werden würde.

Auf dem Weg zum Ausgang zog Chizuru ihn zur Seite und sagte: „Ich freue mich, dass es dir gefallen hat.“

„Ja, es war toll. Hier können wir gerne öfter hingehen.“

„Ich nehme dich beim Wort. Wirst du abgeholt?“

„Ja, das Auto steht bestimmt schon draußen. Und du?“

„Ich auch. Meine Mum holt mich ab. Also sollte ich es besser noch hier drin tun.“

Bevor Takeo nachfragen konnte, spürte er den Kuß auf seiner Wange.

„Danke für den tollen Abend“, flüsterte Chizuru.

Aufgeregt flatterten die Schmetterlinge in Takeos Bauch umher. Er sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. Die beiden Teenager fassten sich bei den Händen und schlenderten langsam zum Ausgang.

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Der heutige Tag war wirklich unglaublich anstrengend gewesen. Zuerst die Klassenarbeit, dann die mündliche Vokabelabfrage, eine Unmenge an Hausaufgaben, ein unüberschaubarer Wust an neuem Lernstoff und dann war in der Pause auch noch Chiyo aufgetaucht und hatte sie genervt. Kazumi war wirklich froh, dass dieser Tag beendet war. Nach der Schule war sie nach Hause gefahren, hatte etwas gegessen und nichts mehr für die Schule getan. Irgendwann musste auch sie sich mal erholen.

Stattdessen hatte sie sich zu einem Spaziergang aufgerafft, zu dem sie zwar absolut keine Lust hatte, von dem sie aber wusste, dass er ihr gut tun würde. Und wieder hatte sie ihr Weg hierher geführt, zu dem kleinen Kanal, den sie so sehr liebte und an dem sie abschalten konnte. Sie brauchte gar nicht viel zu tun. Es reichte einfach nur, dass sie am Geländer der Brücke stand, in den Kanal schaute und ihre Gedanken schweifen ließ.

Die Nacht war klar, die einzelnen Sterne waren sehr gut zu erkennen. Hier gab es keine störenden Lichter von Straßenlaternen oder sonst etwas, dass das Erscheinungsbild der Himmelskörper trübte. Oft schon hatte Kazumi in den Himmel geblickt und sich vorgestellt, dass irgendeiner von diesen Millionen Sternen nur auf sie wartete. Sie wusste nicht, welcher und sie wusste auch nicht, was sie dort vorfinden würde, aber sie wusste, dass genau dieses Exemplar nur aus dem Grund existierte, weil es wollte, dass sie zu ihm kam. Sehr gerne hätte sie diese Einladung angenommen, aber sie würde niemals in eine Rakete steigen, um sich in den Weltraum schießen zu lassen. Kazumi hatte einmal im Fernsehen eine Reportage über die ganzen Vorbereitungen gesehen, die Astronauten vor ihrer großen Fahrt treffen mussten. Nein, das war überhaupt nichts für sie. Das grenzte ja schon an Folter. Alleine bei dem Gedanken, sich in einer Zentrifuge durch einen Raum schleudern zu lassen, wurde ihr schlecht.

Schnell schweiften ihre Gedanken zu einem anderen Thema, nämlich zu Takeo und Chizuru. Die beiden passten wirklich perfekt zueinander, wie ein Paar Socken. Sie hatten es sich vielleicht noch nicht eingestanden, aber es musste jedem Blinden klar werden, dass sie einfach füreinander bestimmt waren. Wenn es nach Kazumi ging, mussten die beiden gar nicht lange zögern. Aus ihnen würde mit absoluter Sicherheit ein Traumpaar werden. Kazumi hoffte, dass sie zusammenkommen würden. Wenn jemand die Bezeichnung „Topf und Deckel“ verdient hatte, dann waren das Takeo und Chizuru. Die beiden hingen die meiste Zeit in der Schule und bestimmt auch außerhalb zusammen herum.

Die beiden mussten sich nur vor Chiyo in acht nehmen. Auch wenn sie erneut bei Takeo abgeblitzt war, so bedeutete dies noch lange nicht, dass sie jetzt auch die Finger von dem Jungen lassen würde. Irgendeinen Trumpf hielt Chiyo immer in der Hinterhand und sie würde nicht zögern, ihn auch auszuspielen, wobei es ihr ziemlich egal war, ob sie dadurch andere Menschen verletzte. Hauptsache sie bekam, was ihr ihrer Meinung nach zustand. Auf welchem Wege sie das erreichen würde und ob dabei vielleicht sogar Menschen starben, war ihr vollkommen egal. Kazumi kannte solche Typen.

Irgendwie war Kazumi es leid, Chiyo auf Schritt und Tritt im Auge zu behalten. Aber wenn man sie nicht jede Sekunde im Visier hatte, dann konnte einem sehr leicht entgehen, dass sie sich schon wieder an ein neues Opfer heran machte. Und Chiyo konnte den Zeitpunkt, in dem jemand unaufmerksam wurde, sehr genau einschätzen und danach handeln.

Heute allerdings war Kazumi viel zu erledigt, um sich über Chiyo Gedanken zu machen. Morgen war auch noch ein Tag. Ab morgen würde die Observation weitergehen. Und wer konnte schon wissen, ob sie durch das Stalking nicht unvorsichtig wurde und sich verraten würde? Möglich war es, wenn auch Kazumi noch niemals erlebt hatte, dass Chiyo sich eine Blöße gab.

Kazumi blickte ins Wasser, dasss ich unter der Brücke befand, dass sie aber nicht sehen konnte. Sie wusste, wie das Wasser aussah. Es sauber zu nennen würde einer faustdicken Übertreibung gleich kommen. Kazumi wusste, dass Fische in diesem Kanal schwammen, aber sie konnte sich absolut nicht erklären, wie diese Tiere in der Brühe überleben konnten. Sie mussten schon ziemlich abgehärtet sein, wenn ihnen ein Gewässer wie dieses nichts ausmachte. Aber vielleicht war man als Fisch auch nicht so anspruchsvoll.

Kazumis Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sie spürte, wie sie jemand an den Beinen packte und in die Luft hob. Sie war viel zu überrascht, um sich am Geländer festzuhalten und dann war es auch schon zu spät. Sie flog durch die Luft und klatschte ins Wasser. Gerade noch rechtzeitig konnte sie den Atem anhalten und sie hütete sich, unter der Wasseroberfläche die Augen zu öffnen.

Dann stieß ihr Kopf wieder ins Freie. Sie riß den Mund auf und rang nach Luft. Hektisch trat sie mit den Beinen im Wasser umher, um nur ja nicht noch einmal unterzugehen.

Das Ufer! Sie musste ans Ufer schwimmen, wobei es ganz egal war, für welche Uferseite sie sich entschied, denn beide waren etwa gleich weit entfernt. Mit Kraulbewegungen näherte sie sich dem Rand und stemmte sich aus dem Wasser. Sie ließ sich auf den Rasen fallen, rollte auf den Rücken und erholte sich erst einmal. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief ein und aus und versuchte, die Kontrolle über sich zu erlangen.

Was war denn bloß passiert? Jemand hatte sie ins Wasser befördert, soviel war ihr auch klar. Aber aus welchem Grund? Kazumis Hirn raste. Sie war nirgendwo angeeckt oder hatte jemanden etwas angetan, dass derjenige sich an ihr rächen wollte. Eigentlich kam sie mit allen Leuten gut aus.

Dann fiel der Groschen. Sie kannte nur eine Person, der sie diese Heimtücke zutraute. Aber würde sie wirklich so weit gehen? Wenn sie es gewesen war, dann war ihre Aktion ein sehr großes Risiko gewesen. Immerhin war das Gelände gut überschaubar. Man konnte sich normalerweise nicht unbemerkt anschleichen. Hätte Kazumi auch nur für kurze Zeit zur Seite geblickt, so hätte sie die Attentäterin bemerkt.

Aber es passte absolut zu Chiyo, dass sie in ihrer Rachsucht alle Vorsicht über Bord warf und sich sogar auf so eine waghalsige Aktion einließ. Kazumi hatte jetzt keine Zweifel mehr, dass Chiyo hinter der Attacke steckte. Offenbar hatte sie den Spieß umgedreht und sie nach der Schule den ganzen Tag beobachtet, um genau auf solch eine Gelegenheit zu warten. Dieses kleine Biest würde sich morgen umgucken.

Doch zuerst musste Kazumi einmal aus den nassen Klamotten heraus, sonst würde sie vermutlich eine ordentliche Erkältung bekommen. Sie triefte am gesamten Körper. Also rappelte sie sich auf und trat den Heimweg an. Und mit jedem Schritt, den sie zurücklegte, wuchs ihr Hass auf Chiyo. Nein, sie würde ihr garantiert nicht den Gefallen tun und über Nacht krank werden, so dass sie morgen nicht zur Schule gehen konnte. Sie würde die Carlton Jouchi Daigaku besuchen und wenn sie sich auf allen vieren hinschleppen musste. So leicht würde sie Chiyo nicht davonkommen lassen.