Das Ritual |
Kommentare zu "Das Ritual" „Hey, da bist du ja!“ Takeo umarmte seine Klassenkameradin. Er war froh, dass sie wieder da war. „Zum Glück“, antwortete Chizuru. „Die Tage im Krankenhaus waren echt die Hölle.“ Takeo hatte sich große Sorgen um Chizuru gemacht. Immer wieder hatte er sie vergeblich auf dem Handy zu erreichen versucht. Und am Sonntag wurde sein Anruf endlich beantwortet, allerdings nicht von dem Mädchen. Ihre Mutter war am anderen Ende der Leitung gewesen und von ihr hatte Takeo auch die Nachricht erhalten, dass Chizuru im Krankenhaus lag. Natürlich hatte er wissen wollen, in welches Hospital man seine Klassenkameradin gebracht hatte, doch anfangs wollte ihre Mutter ihm diese Information nicht geben. Mit Engelszungen hatte der Junge auf sie eingeredet und ihr erklärt, wer er war, dass er und Chizuru zusammen in eine Klasse gingen und sie mit ihm lernte. Es war so, wie er es sich gedacht hatte. Die Schülerin hatte tatsächlich ihrer Mutter von ihm erzählt. So ließ sie sich schließlich doch dazu bewegen, ihm mitzuteilen, wo und auf welchem Zimmer sie lag.
Noch am gleichen Tag hatte er sich vom Chauffeur zum Merrick Memorial Hospital fahren lassen. Und er hatte versucht, sich seinen Schreck nicht anmerken zu lassen, als er in Chizurus Zimmer trat. Sie hatte ziemlich schlecht ausgesehen und war sehr schwach gewesen, obwohl sie vor zwei Tagen schon hier gelandet war. Es dauerte eine Weile, bis man sie wieder aufgebaut hatte.
Von ihr hatte er erfahren, dass sie in ihrer Wohnung vor Schmerzen so laut geschrien hatte, dass ihr Nachbar wütend über diese Belästigung an der Tür geklingelt hatte. Doch zu diesem Zeitpunkt war sie bereits bewusstlos gewesen. Die plötzliche Stille nach dem Lärm war dem Nachbarn merkwürdig vorgekommen und er hatte die Polizei alarmiert, die die Wohnungstür aufgebrochen und Chizuru im Badezimmer gefunden hatte. Der Rettungswagen war innerhalb von fünf Minuten zur Stelle gewesen. Das Mädchen hatte vor Fieber regelrecht geglüht. Umgehend hatte man die Teenagerin auf eine Trage geschnallt und in den Rettungswagen geschoben. Erst im Merrick Memorial war sie wieder zu sich gekommen und konnte schwach Auskunft geben, was ihr fehlte. Man hatte ihr den Magen ausgepumpt, obwohl sich nichts mehr in ihm befunden hatte. Diese Tatsache hatte es im übrigen unheimlich erschwert, der Schülerin eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen. Die Erkenntnis, dass es sich um eine Vergiftung handelte, hatten die Ärzte sehr schnell gewonnen. Aber man wusste nicht, was diese Vergiftung ausgelöst hatte und so blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als sie langsam und allmählich wieder zu Kräften kommen zu lassen.
Es war schwer für Takeo gewesen, sie im Bett liegen zu sehen und nichts für sie tun zu können. Die kurze Zeit der Erzählung hatte sie schon sehr angestrengt, so dass sie bald eingeschlafen war. Und in diesen Stunden, als er bei ihr saß, wurde ihm klar, dass er sich in sie verliebt hatte. Wie sie hilflos vor ihm lag, die Augen geschlossen und ruhig atmend, hatte sie den Beschützerinstinkt in ihm geweckt. Ihm war der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass sie hätte sterben können und der Junge hatte gefühlt, wie sein Herz von einer unsichtbaren Hand zu einem Ball zusammengedrückt wurde. Takeo hatte Chizurus Hand ergriffen und ihr erklärt, dass er bei ihr war, dass ihr jetzt nichts mehr geschehen konnte und er immer auf sie aufpassen würde. Und der Junge war sich sicher, dass sie ihn hören konnte und ihr seine Worte Trost und Schutz gaben und sie sich somit ganz darauf konzentrieren konnte, wieder gesund zu werden. In der Woche darauf hatte er sie an jedem Tag besucht und miterlebt, wie es ihr von Tag zu Tag besser ging. Natürlich war er nicht ihr alleiniger Besucher geblieben. Chizurus Mutter war bereits am Sonntag erschienen, um u sehen, wie es ihrer Tochter ging und so hatten sich die beiden auch persönlich kennen gelernt. In respektvoller Höflichkeit hatte er Chizuru mit ihrer Mutter alleine gelassen und in der Cafeteria einen Tee getrunken. Auch am nächsten Tag hatten sich die beiden wieder im Krankenhaus getroffen und auf dem Flur ein paar private Worte gewechselt. Vierundzwanzig Stunden später hatte seine Klassenkameradin ihn mit der Neuigkeit überrascht, dass er den Aufnahmetest bei ihrer Mutter bestanden hatte. Sie fand ihn nett und sympathisch. Chizuru hatte an dem Dienstag schon sehr viel besser ausgesehen als am Wochenende und nachdem Takeo bekräftigt hatte, dass er ihre Mutter auch nett fand, hatte er ihr vom Freitagabend erzählt. Bis dahin hatte sie nur die Version gekannt, dass er vergebens auf sie gewartet hatte. Natürlich entsprach dies den Tatsachen, aber Takeo hatte sich entschlossen mit der Erwähnung von Chiyos Auftauchen zu warten, bis sich seine Klassenkameradin ein wenig besser fühlte. An diesem Montag erfuhr sie die ganze Wahrheit. „Was für ein Pech, dass ich nicht dabei gewesen bin“, hatte Chizuru geseufzt. „Chiyo hätte gar nicht mehr nach Hause zu laufen brauchen. Der Kinnhaken, den ich ihr verpasst hätte, hätte sie bis zu ihrer Haustür katapultiert.“ Takeo hatte gelacht und auf die Frage, wann Chiyo endlich aufhören würde, ihn in ihre Klauen zu bekommen, geantwortet: „Das hat sie jetzt wohl endlich kapiert. Ich habe es ihr klipp und klar gesagt. Und heute hat sie keinerlei Annäherungsversuche mehr unternommen, obwohl sie gesehen hat, dass wir beide nicht mehr die Pausen zusammen verbringen. Und ich kann nur hoffen, dass sie mir auch in Zukunft von der Pelle bleibt.“ Vor vier Tagen war Chizuru dann endlich nach Hause entlassen worden. Allerdings war ihr von den Ärzten geraten worden, sehr genau darauf zu achten, was sie an Nahrungsmitteln zu sich nahm und ob ihr Körper irgendwie darauf reagierte. Verschiedene Allergietests hatte man schon in der Klinik an ihr vorgenommen, die jedoch allesamt negativ ausgefallen waren. Aber das Mädchen glaubte zu wissen, was die Schuld an ihrem schlechten Zustand getragen hatte. Nach wie vor war sie der Meinung, dass die Milch, die sie morgens getrunken hatte, schlecht gewesen sein musste. „Immerhin kann ich jetzt den Spieß umdrehen“, grinste Takeo seine Klassenkameradin auf dem Schulhof an. „Wie meinst du das?“ „Na, jetzt kann ich dir dabei helfen, das nachzuholen, was du im Unterricht verpasst hast. Vielleicht denke ich mir noch ein paar Sachen zusätzlich aus, um öfter mit dir zusammen zu sein.“ Chizuru lächelte. „Danke, dass du in der ganzen Woche für mich da warst.“ „Immerhin ging es dir total mies. Und in dem Zustand sollte keiner alleine sein.“ Auch nachdem das Mädchen das Hospital verlassen hatte und sich zu Hause noch erholte, hatte Takeo sie weiterhin besucht. Sie hatten sich unterhalten, waren Crêpes essen gegangen und hatten sich prächtig amüsiert. Takeo hatte alles getan, um sie von trüben Gedanken fernzuhalten. Die beiden Teenager machten sich auf den Weg zu ihrem Unterrichtsraum. Unterwegs sprang Takeo über seinen Schatten. „Meine Familie veranstaltet jedes Jahr am ersten Mai ein Barbecue. Wenn du auch kommen möchtest, dann bist du hiermit eingeladen.“ Sie sah ihn an und lachte. „Das ist doch noch ein halbes Jahr hin.“ „Eben. So laufe ich nicht Gefahr, dass ich die Einladung vergesse.“ „Wer ist denn alles bei eurem Barbecue dabei?“ „Meine Eltern, Geschäftsfreunde meines Vaters …“ „Ha!“, rief sie triumphierend. „Reingefallen! Man muss es nur schlau genug anfangen und ganz unverfängliche oder nicht berechenbare Fragen stellen. So, jetzt weiß ich immerhin, dass dein Dad Geschäftsmann ist. Bestimmt verkauft er Bügeleisen oder so etwas.“ Takeo grinste und schüttelte den Kopf. Im Klassenraum wurde Chizuru eifrig von ihren weiteren Mitschülern begrüßt. Alle freuten sich darüber, dass sie wieder da war und stellten ihr jede Menge Fragen, die sie bereitwillig beantwortete. „Ist denn jetzt wirklich alles wieder mit dir in Ordnung?“, fragte ein Junge und schaute sie mit einer Mischung aus Skepsis und Sorge an. „Ja, ich bin wieder vollkommen gesund. Aber noch einmal möchte ich so etwas nicht mitmachen, das könnt ihr mir glauben. Keiner von euch kann sich auch nur annähernd vorstellen, was für unerträgliche Schmerzen ich aushalten musste. Ich dachte wirklich, sämtliche Organe würden in Fetzen gerissen.“ Nachdem der Wissensdurst ihrer Klassenkameraden gestillt war, betrat auch schon ihr Klassenlehrer den Raum und das Schulleben nahm wieder seinen gewohnten Gang. *****
„Ist alles soweit fertig?“, erkundigte sich Tsubasa Takeshi und schaute den Hausmeister an, der ihm gegenüber auf einem Stuhl saß. „Alles in bester Ordnung. Die Kartons stehen neben beiden Türen. Ich werde in der Pause den Zugang zu den Duschkabinen öffnen.“ „Sehr gut.“ Der Direktor der Carlton Jouchi Daigaku konnte sich ein leises Lächeln nicht verkneifen. Für einige Schüler würde dieser Tag eine böse Überraschung bereit halten, doch über die gute Überraschung würde sich wohl jeder Schüler an dieser Schule freuen. Schließlich kam es nur an einem Tag im Jahr vor, dass jeder Besucher der Lehranstalt nach der dritten Stunde nach Hause gehen durfte – und diese dritte Stunde wurde noch nicht einmal durch Unterricht ausgefüllt. Tsubasa konnte sich nicht denken, dass die Schweinerei vom letzten Jahr heute übertroffen werden würde. Er war heilfroh, dass die Putzfrauen an diesem speziellen Tag immer wesentlich früher anrückten als sonst. Vor einem Jahr hatten sie entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber es war halt ihr Job, die Schule sauber zu machen. Bestimmt hassten sie die Carlton Jouchi Daigaku für diesen Tag, aber das war Tsubasa egal. Für ihre Arbeit bekamen sie sogar noch einen Aufschlag auf ihr normales Gehalt, da die Tätigkeit, die sie hier leisten mussten, weit über normale Putzarbeit hinaus ging. „Ist Miss Ootome wieder mit dabei?“, erkundigte sich der Hausmeister. „Ich denke schon“, nickte der Schulleiter. „Wie in jedem Jahr. Und es interessiert sie überhaupt nicht, dass diese ganze Sache nur den Schülern der höheren Jahrgangsstufen vorbehalten ist. Seit sie hier arbeitet hat sie es sich nicht nehmen lassen, sich persönlich mit ins Getümmel zu stürzen.“ Der Hausmeister brummelte und es war ihm anzusehen, dass ihm der Einsatz der Japanischlehrerin überhaupt nicht zusagte. „Wir haben mehr als genug Freiwillige unter den älteren Schülern. Da brauchen wir nicht auch noch eine Lehrkraft. Aber wenn es ihr Spaß macht, zwischen Teenagern herumzurennen, dann soll sie das ruhig tun.“ Tsubasa erhob sich. „Gut, dann können wir ja loslegen. Ich mache jetzt meinen obligatorischen Rundgang. Wir sehen uns, nachdem die ganze Angelegenheit vorbei ist.“ Der Hausmeister nickte und gemeinsam verließen sie das Büro. Der Mann im blauen Kittel überquerte den Gang und verschwand in seinem eigenen Büro. Der Direktor stieg die Stufen in den ersten Stock hinauf. Ganze vier Klassen in jedem Gebäudeteil der Schule musste er in den nächsten Minuten aufsuchen und seine Vorstellung abliefern. Und er war sich sicher, dass alle Schüler seiner Aufforderung Folge leisten würden. Bisher hatte es noch keiner gewagt nicht zu erscheinen. In ihrer Neugier waren sie alle gleich. Selbst wenn ihnen mulmig zumute war, am Ende wollten sie doch wissen, was eigentlich los war. Auf dem Weg zum ersten Ziel dachte Tsubasa darüber nach, wie das Ritual angefangen hatte. Die Idee dazu kam natürlich von einem Schüler, der sich darüber beklagt hatte, dass viele Erstklässler eine Scheu davor hatten, den Kontakt zu den Schülern der höheren Klassen zu suchen. Und aus diesem Umstand heraus wurde ein Plan entwickelt, wie man es erreichen könnte, dass der Kontakt zwischen älteren Schülern und den neu an die Schule gekommenen Teenagern zustande kam. Um dem ganzen noch einen gewissen Kick zu geben, wurde das Ritual als Programmpunkt für einen Schultag im Herbst aufgenommen. Vor dem ersten Klassenzimmer angekommen, rückte Tsubasa seine Krawatte zurecht, setzte eine ärgerliche Miene auf, räusperte sich kurz und klopfte an die Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, riss er die Tür auf und trat ein. Augenblicklich wurde es so still in der Klasse, dass man einen Grashalm hätte zu Boden fallen hören können. Tsubasa schritt rasch zum Lehrer und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, worauf dieser nickte, zurück trat und sich an die Tafel lehnte, auf der bereits ein paar Notizen standen. Der Direktor sah sich mit gespieltem Ärger in der Klasse um. Sein Blick fiel auf Takeo, den neuen Schüler, mit dem er sich Anfang des vorigen Monats in seinem Büro unterhalten hatte. Kerzengerade saß dieser da. Auch die anderen Schüler wagten es nicht, sich zu rühren. An Tsubasas Haltung und an seinem Gesichtsausdruck wurde jedem klar, dass das hier kein Höflichkeitsbesuch war. Der Direktor wartete noch eine Weile, um die Unerträglichkeit noch weiter zu steigern. Als er fand, dass es an der Zeit wäre loszulegen, begann er mit seiner Vorstellung. „Guten Morgen“, begann er. „Ich bin es endgültig leid. Glauben Sie, nur weil Sie gerade erst an dieser Schule aufgenommen worden sind, haben Sie hier bestimmte Freibriefe? Meinen Sie wirklich, dass ich mir von Ihnen auf der Nase herumtanzen lasse und keine Konsequenzen aus Ihrem Verhalten entstehen?“ Seine Stimme war laut und bedrohlich und er konnte sehen, wie einige Schüler ziemlich blass wurden. Fast taten sie ihm leid. In ihren Köpfen arbeitete es bestimmt wie wild, weil sie darüber nachdachten, weshalb er so wütend war. Aber auf die richtige Antwort würden sie ohnehin nicht kommen. „Sie versammeln sich alle ohne Ausnahme nach der großen Pause in der Aula. Und wehe, einer von Ihnen wagt es, dort nicht zu erscheinen. Der kann sich noch heute von dieser Schule verabschieden. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich abrupt um und verließ den Klassenraum. Die Reaktion auf seinen Auftritt dürfte so ausfallen wie immer. Grinsend machte er sich auf den Weg zum nächsten Klassenzimmer, um dort seine Ansprache vor weiteren Erstklässlern zu wiederholen. Der Direktor lag goldrichtig. Unmittelbar, nachdem er das Zimmer verlassen hatte, setzte ein leises Getuschel unter den Schülern ein, das zunehmend lauter wurde. Niemand konnte sich einen Reim auf das machen, was soeben vorgefallen war. Keiner war sich irgendeiner Schuld bewusst und alle zerbrachen sich den Kopf darüber, weshalb sie sich in der Aula versammeln sollten. „Scheiße, was war das denn?“, hauchte Takeo. „Keine Ahnung. Ich kann nichts angestellt haben, ich war im Krankenhaus.“ „In der letzten Woche habe ich meine Hausaufgaben vergessen. Bestimmt geht es darum“, jammerte das Mädchen, das vor Takeo saß. „Blödsinn, dann hätte der Direktor nur dich angesprochen und nicht uns alle.“ „Was könnten wir denn kollektiv für Mist gebaut haben, dass er so sauer ist?“, fragte ein anderer Junge. „Keine Ahnung. Vielleicht haben wir alle gegen die Schulordnung verstoßen. Ehrlich gesagt, ich habe sie mir gar nicht richtig durchgelesen. Wen interessiert dieser Kram denn schon?“ „Wenn das wirklich der Grund ist, dann ist es jetzt jedenfalls zu spät, sie noch zu studieren.“ „Wenn Sie sich dann bitte wieder beruhigen würden, damit wir mit dem Unterricht weitermachen können“, ertönte die Stimme ihres Lehrers. Er hatte der Diskussion eine Weile zugesehen und die Schüler sich den Kopf zerbrechen lassen. Aber nun war es genug. Sie konnten in der Pause weitere Mutmaßungen anstellen. Natürlich wusste er ganz genau, was dieser Auftritt von Tsubasa Takeshi zu bedeuten hatte. Zufrieden registrierte er, wie die Klasse verstummte. Takeo und Chizuru und auch alle anderen Schüler überlegten im Stillen hin und her, was es wohl gewesen sein konnte, das den Direktor derart auf die Palme brachte. Aber sie kamen zu keinem Ergebnis und sahen schließlich ein, dass sie bis nach der großen Pause warten mussten, um Licht in das Dunkel zu bringen. Und jeder Teenager hoffte, dass die Strafe, die sie ohne Zweifel erwartete, nicht zu hart ausfallen würde. *****
„Also, denken Sie an den Vokabeltest, der Sie übermorgen erwartet und gucken Sie sich besser noch einmal alle Kanji an, die Sie bisher gelernt haben. Man weiß nie, was für Überraschungen auf Sie zukommen.“ Maya Ootome blickte sich in Ihrer Klasse um und sah einige genervte Gesichter. Normalerweise hätte ihr Kollege Isamu in den letzten beiden Stunden unterrichten sollen, aber zwei andere Lehrkräfte hatten sich krank gemeldet, so dass der Stundenplan für die ersten beiden Stunden komplett umgekrempelt werden musste. Isamu unterrichtete momentan in einer sechsten Klasse und hatte Mayas gesamtes Mitgefühl. Je höher die Jahrgangsstufen waren, umso schwieriger wurden die Schüler. Jedenfalls war das Mayas Eindruck. Ihr Kollege hatte sie noch davon in Kenntnis setzen können, dass in zwei Tagen eine Überprüfung der Kanji vorgesehen war. Also hatte Maya es ziemlich einfach gehabt. Sie hatte zwei Stunden lang Fragen beantwortet, problematische Kanji besprochen und jede Menge Eselsbrücken für Schriftzeichen gegeben. Japanisch zählte normalerweise nicht zu den Fächern, die sie unterrichtete, doch sie kannte sich in der Sprache gut aus und konnte den Schülern einiges vermitteln. Wenn sie sich allerdings einige Gesichter ansah und aus den Erfahrungen des heutigen Unterrichtes Rückschlüsse zog, dann konnte sie schon jetzt mutmaßen, wer bei dem Test mit Pauken und Trompeten durchfallen würde. In jeder Klasse gab es Spezialisten, denen die Freizeit einfach zu kostbar war, um sie vor Büchern oder Heften zu verbringen. Dementsprechend fielen dann auch die Noten aus. Dass es sich bei der Carlton Jouchi Daigaku um eine Privatschule handelte, für deren Besuch Geld bezahlt werden musste, machte keinen Unterschied. Schließlich wurde das Schulgeld von den Eltern gezahlt. Doch es gab natürlich Ausnahmen, wie Maya auch in dieser Klasse erfreut festgestellt hatte. Schüler, die konzentriert bei der Sache waren. Auch wenn sie sich bei gestellten Fragen nicht meldeten und hofften, dass man sie nicht aufrief, damit sie antworteten, so waren sie doch die ganze Zeit über aufmerksam und bemühten sich, dem Unterricht zu folgen. Ren Ito war so ein Schüler. Sicher, er hatte seine Launen und erschien manchmal einfach nicht zum Unterricht, aber er arbeitete den versäumten Stoff bis zur nächsten Unterrichtsstunde nach, war gut vorbereitet und konnte somit auch die Fragen korrekt beantworten, bei deren Durchnahme er gefehlt hatte. Seine Leistungen waren gut, dafür konnte man ihn nicht mit einer schlechten Note bestrafen. Aber Punktabzüge gab es für sein unregelmäßiges Erscheinen. Als es zur Pause klingelte, bat die Lehrerin Ren noch im Klassenraum zu bleiben. Die anderen Schüler stürmten aus dem Zimmer, denn diejenigen, die an der kommenden Aktion nicht beteiligt waren, hatten nun frei und konnten nach Hause gehen. Maya schloss die Klassentür und setzte sich auf das Lehrerpult. „Es sind zwar noch einige Wochen bis zum Winterfest, aber was hältst du davon, wenn wir einen Katzeninfostand organisieren?“ Ren blickte sie verwundert an. „Ein Katzeninfostand? Und was für Infos soll man sich da holen?“ „Na ja, man könnte ein Quiz veranstalten, Informationen über Katzenhaltung verteilen und die Schüler können sich Katzenaccessoires kaufen. Was das im einzelnen sein wird, darüber können wir ja noch mal reden. Ich dachte nur, es wäre eine tolle Idee, die man mal im Auge behalten könnte.“ Je länger der Schüler über diesen Vorschlag nachdachte, umso besser gefiel er ihm. „Das ist eine tolle Gelegenheit, um Werbung für den Katzenclub zu machen.“ „Genau“, stimmte die Lehrerin ihm zu. „Aber wenn wir das wirklich durchziehen wollen, dann benötigen wir noch eine Menge an Vorbereitungen. Zum Beispiel müssen wir, wenn wir tatsächlich ein Quiz veranstalten wollen, auch angemessene Preise haben.“ „Da könnte man doch mal bei den Leuten nachfragen, ob die etwas haben, was sie nicht mehr benötigen.“ Ren war mittlerweile Feuer und Flamme für Mayas Vorschlag. „Was hältst du davon, wenn wir auch die nicht so tolle Seite der Vierbeiner beleuchten?“ Ren runzelte die Stirn. „Was meinen Sie?“ „Ich kenne jemanden, der in einem Tierheim arbeitet. Und die kann Unmengen Geschichten erzählen. Auch solche, die nicht lustig sind. Etwa von Leuten, die ihre Katze zwei Wochen nach dem Kauf wieder zurückbringen, weil sie merken, dass so ein Tier doch Arbeit macht. Und vielleicht ergibt es sich durch meine Bekannte ja, dass jemand eines dieser armen Geschöpfe ein neues Zuhause gibt.“ „Das wäre klasse“, stimmte der Junge zu. „Ja, damit bin ich voll und ganz einverstanden.“ „Bist du eigentlich auch gleich bei dem großen Spektakel dabei?“ Ren nickte. „Klar, so etwas lasse ich mir doch nicht entgehen.“ „Ich mische auch wieder mit, obwohl es Lehrern eigentlich untersagt ist, sich aktiv zu beteiligen. Aber das kratzt mich überhaupt nicht. Ich bin mittlerweile so etwas wie eine Institution. Ohne mich würde einfach etwas fehlen.“ Sie sah auf die Uhr. „Wir haben noch zehn Minuten Pause. Wollen wir uns die Hälfte der Zeit noch überlegen, was wir alles an Utensilien für den Katzenstand brauchen?“ Ren war einverstanden. Schnell kramte er Papier und einen Stift aus seiner Schultasche. Sie benötigten auf jeden Fall einen Tisch und einen Stuhl. Auf dem Tisch sollte eine Katzentischdecke gebreitet werden. Die Anordnung und Art der einzelnen Gegenstände, die auf dem Tisch zu sehen sein sollten, wollten Maya und er noch festlegen. Als grobe Orientierung notierte sich Ren Broschüren über Katzenhaltung, eine Liste mit Buchtipps und einige Bücher, in denen man schmökern konnte. Wie das Katzenquiz aussehen sollte, darüber musste man sich auch noch Gedanken machen. Doch die beiden hatten ja mehrere Wochen Zeit. Schnell waren die fünf Minuten verflogen, aber es standen schon viele wichtige Punkte auf Rens Zettel. „Wollen wir uns in der nächsten Woche zusammensetzen und mit den Vorbereitungen beginnen?“, fragte die Biologielehrerin. Ren nickte begeistert. „Gut, bis dahin kann sich ja jeder von uns weitere Gedanken machen. Wir kriegen das schon hin. Und jetzt sollten wir zusehen, dass wir in die Aula kommen. Wir wollen doch unsere Delinquenten nicht warten lassen.“ „Werden die neuen Lehrer eigentlich auch auf irgendeine Art begrüßt?“, wollte Ren wissen, als sie das Klassenzimmer verlassen hatten und Maya gerade damit beschäftigt war, den Raum abzuschließen. „Klar, auf noch schrecklichere Weise. Wir kriegen jede Menge Kaffee und Kuchen.“ „Wie furchtbar“, grinste Ren. „Da finde ich unsere Methode doch wesentlich angenehmer.“ Sie befanden sich momentan im Gebäudeteil B und mussten zur Aula des anderen Teils. Fünf Minuten waren ausreichend, aber nur zu schaffen, wenn keine Schüler im Weg standen. Zum Glück hatten der Junge und die Lehrerin relativ freie Bahn und kamen zügig voran. Ren musste über das ganze Gesicht grinsen, als er zwei Mädchen passierte, die wild darüber spekulierten, weshalb sie sich in der Aula einzufinden hatten. Er bekam gerade noch mit, dass eine der beiden Jugendlichen darüber nachdachte, einfach nicht zu erscheinen. Es hatte sich in all den Jahren überhaupt nichts geändert. Seitdem er an diese Schule gekommen war, war es jedes Mal so gewesen, dass sich die Neulinge die Köpfe zerbrochen hatten. Auch ihm war es damals so gegangen. Und als er endlich der Lösung des Rätsels ausgesetzt war, war er überhaupt nicht begeistert gewesen. Mittlerweile hatten sie den gläsernen Gang durchschritten und befanden sich im Teil A, in dem sie die Treppen zum Erdgeschoss hinab stiegen. Sie betraten die Aula und wurden vom Hausmeister aufgehalten, doch als er sah, wer ihn passieren wollte, ließ er sie ungehindert durch. „Sind schon alle da?“, erkundigte sich Maya. „Natürlich nicht“, brummte der Hausmeister. „Ist doch immer so, dass die Mehrzahl zu spät kommt.“ „Man kann hier nicht zu spät kommen“, lächelte Maya ihn höflich an. „Außerdem hat es noch nicht zur Stunde geklingelt.“ Sie ging mit Ren zur zweiten Eingangstür. Nur noch wenige Minuten, dann würde der Spaß losgehen. Und spaßig würde es werden, wenn auch nicht für die Erstklässler. *****
„Es wurde auch Zeit, dass du hier wieder auftauchst“, sagte Tetsuya zu Chizuru. „In seiner Verzweiflung hat Takeo schon mit seinen Äpfeln geredet.“ Dieser blickte auf das Obststück in seiner Hand und meinte: „Tetsuya erzählt wieder Müll. Ich bin noch nicht so durchgeknallt, dass ich mit Früchten rede. Oder, was meinst du?“ Er hielt den Apfel an sein Ohr und guckte dann zu Tetsuya. „Siehst du, er hat es gerade bestätigt.“ Die Schüler standen zu siebt zusammen auf dem Schulhof. Natürlich hatten sich auch die Zwillinge gefreut, dass Chizuru wieder die Carlton Jouchi Daigaku besuchte. Makoto hatte ihr vorgeworfen, die ganze Krankheit nur inszeniert zu haben, damit sie sich einen Arzt angeln könne, denn es sei ja allgemein bekannt, dass Ärzte ziemlich gut verdienen und damit Mädchen beeindruckten. Die Schülerin hatte nur gelacht und erklärt, dass sie auch etwas von dem Mann, den sie liebte, haben wolle und da wäre ein Arzt wohl die denkbar schlechteste Wahl. Jemanden, der ständig in der Klinik und nur wenige Stunden bei ihr war, könne sie überhaupt nicht gebrauchen. Und da könne der gute Doktor mehrere hunderttausend Dollar im Jahr verdienen, das würde überhaupt nichts ändern. Doch auch Chizuru selbst freute sich, all ihre Klassenkameraden und die anderen Schüler zu sehen. Das Gesprächsthema in dieser Pause war natürlich das Verhalten des Direktors und abermals wurden die wildesten Spekulationen laut. „Ist euch eigentlich schon aufgefallen, wie gut gelaunt heute hier alle herumrennen?“ bemerkte ein Junge. „Die grinsen alle so unverschämt, wenn ein Erstklässler in ihre Nähe kommt.“ „Das ist ja auch kein Wunder.“ Die Sakurai-Zwillinge zwinkerten sich gegenseitig zu. „Wisst ihr etwa Bescheid?“ Sofort richteten sich alle Augen auf die Zwillinge, die übers ganze Gesicht strahlend in der Mitte standen und sich ebenfalls über die Erstklässler zu amüsieren schienen. „Natürlich wissen wir Bescheid. Aber wir wären ja total bescheuert, wenn wir euch auch nur eine Silbe verraten würden. Nur soviel können wir euch mit absoluter Sicherheit sagen: der Direktor hat tatsächlich Schüler auf dem Kieker. Und zwar nicht nur eine oder zwei Personen, sondern ohne Ausnahme alle Erstklässler.“ Diese Offenbarung verwirrte die Schüler noch mehr. „Das kann gar nicht sein“, sagte der Junge, der die gute Laune der anderen Schüler angesprochen hatte. „Wir haben sechs erste Klassen an dieser Schule. Wenn der Direktor auf jeden Erstklässler wütend ist, dann muss jeder Erstklässler ihn durch irgendetwas verärgert haben. Und das bedeutet, dass jeder den gleichen Fehltritt begangen haben muss. Vielleicht sogar gemeinschaftlich. Aber nicht jeder aus einer ersten Jahrgangsstufe hat etwas mit allen anderen aus der ersten Jahrgangsstufe zu tun. Es ist absolut unmöglich, dass jeder Erstklässler mit jedem anderen Erstklässler in Kontakt steht. Also kann der Direx gar nicht auf alle sauer sein. Es sei denn, er ist plemplem.“ Makoto schaute zuerst den Jungen verdutzt an und dann seinen Bruder. „Er hat es bemerkt! Er ist hinter das große Geheimnis unseres Schulleiters gekommen!“ „Ihr seid doch nicht mehr ganz frisch“, schimpfte ein Mädchen. „Ich will jetzt endlich wissen, was hier los ist.“ Die Schülerin packte einen vorbeilaufenden Jungen am Arm und zerrte ihn zu sich. „Bist du ein Erstklässler“, fragte sie bestimmt. „Nein, ich bin in der vierten Klasse“, kam die Antwort und der Junge guckte verwirrt auf die Hände, die seinen Arm umklammert hatten. „Gut, dann kannst du sicher Licht ins Dunkel bringen. Was geht hier vor? Wieso sollen sich alle aus der ersten Klasse in der Aula versammeln? Und warum benehmen sich alle aus den höheren Jahrgangsstufen so komisch? Das würden wir gerne mal wissen.“ Jetzt lächelte der Twen, entfernte sanft die Hände von seinem Arm, holte tief Luft und fragte: „Wie heißt du?“ „Tamae.“ Er blickte ihr in die Augen und sagte: „Ich glaube, der Direktor ist schon in der Aula. Ich werde jetzt zu ihm gehen und ihm sagen, dass du Schüler der oberen Jahrgänge belästigst. Das wird ihn bestimmt besänftigen.“ Der Schüler stapfte auf den Eingang zu und ließ eine fassungslose Tamae zurück. Auch die anderen Teenager starrten dem Viertklässler entsetzt hinterher. Tetsuya und Makoto brachen in brüllendes Gelächter aus und ließen ihre rechten Hände gegeneinander klatschen. „Das ist überhaupt nicht lustig!“ Wütend blitzte Tamae die Zwillinge an und in ihren Augen sammelten sich Tränen. „Ich krieg jetzt Schwierigkeiten.“ Makoto legte ihr die Hand auf die Schulter. „Hey, entspanne dich. Ich kann dir hundertprozentig versichern, dass der Junge kein Wort zum Direktor sagen wird. Und außerdem kriegst nicht nur du Schwierigkeiten, sondern alle aus der ersten Klasse.“ „Aber wieso?“, wollte Chizuru wissen. „Was haben wir denn so schlimmes gemacht?“ „Ihr habt euch diese Schule ausgesucht“, grinste Tetsuya und sah auf die Uhr. „Ich würde vorschlagen, ihr macht euch jetzt auf dem schnellsten Weg auf in die Aula. Schließlich wollt ihr den Direktor doch nicht warten lassen, oder? Und bestimmt wollt ihr das große Geheimnis gelüftet wissen.“ Tröstend legte Chizuru den Arm um Tamaes Schultern und alle gingen gemeinsam zum Eingang des Schulgebäudes. Nur die Zwillinge machten keine Anstalten, sich ebenfalls in Bewegung zu setzen. Takeo drehte sich noch einmal um und fragte erstaunt: „Und ihr? Die Pause ist doch gleich zu Ende. Ihr müsst doch auch in euren Unterricht.“ „Ach, wir bleiben noch etwas hier.“ „Genau“, stimmte Tetsuya seinem Bruder zu und blickte zum Himmel, „die Wolken sind gerade so schön weiß.“ Takeo verzog nur das Gesicht und ging weiter. Ab und zu gab es Momente, in denen er die Zwillinge am liebsten packen und ordentlich durchschütteln wollte. Klar, sie waren witzig und verbreiteten gute Laune, aber manchmal konnten sie auch unglaublich nervtötend sein, beispielsweise, wenn sie Freunde auf die Folter spannten. Er trottete hinter den anderen her und war überhaupt nicht versessen darauf, in die Aula zu kommen. Wenn die Zwillinge tatsächlich wussten, was sich dort abspielte, dann bereitete es ihnen jedenfalls ungeheures Vergnügen zu sehen, wie die Erstklässler wie die Lämmer zur Schlachtbank gingen. Im Umkehrschluss hieß das allerdings, dass die Schüler die im Sommer neu an die Schule gekommen waren vermutlich nichts zu lachen haben würden. Warum war er heute nicht einfach zu Hause geblieben? Er fasste in die Tasche seiner Schuluniformjacke und schloss seine Hand um den Tannenzapfen. Aber auch das beruhigte ihn nicht wirklich. Unterdessen sahen Makoto und Tetsuya den Schülern mit einem verschlagenen Grinsen nach. „Das wird auf jeden Fall sehr effektiver Sportunterricht für die Küken“, stellte Tetsuya fest. Dann wandte er sich seinem Bruder zu und fragte: „Wenn der ganze Zauber hier beendet ist, wollen wir dann noch in das Geschäft gehen, in dem wir die Lampe gekauft haben? Vielleicht haben die noch andere Sachen für unsere Wohnung.“ „Von mir aus. Aber irgendwie hat der Laden etwas unheimliches, so schummrig wie er ist.“ „Stimmt, aber das macht gerade seinen besonderen Reiz aus“, schwärmte Makotos Bruder. „Und außerdem muss ich, wenn ich etwas unheimliches sehen will, gar nicht in den Laden gehen. Ich gucke einfach dich an, dann habe ich die doppelte Dosis.“ „Jetzt solltest du lieber mal gucken, dass du dich in die Aula bewegst. Die Pause ist in einer Minute vorbei.“ „Dann auf ins Getümmel!“ Tetsuya packte Makoto am Arm und zog ihn mit sich. *****
Auch die schüchterne Haruka und ihr Klassenkamerad Kazuki hielten sich in dieser Pause auf dem Schulhof auf, allerdings standen sie einige Meter entfernt. Haruka war ziemlich nervös. „Du willst wirklich mitmachen?“, fragte sie. „Klar“, meinte Kazuki begeistert. „Das ist jedes Jahr ein riesiger Spaß. Warum beteiligst du dich denn nicht?“ „Ich weiß nicht. Die anderen haben sowieso keine hohe Meinung von mir. Wenn ich jetzt noch am Ritual teilnehme, dann gucken sie mich bestimmt komisch an.“ „Stimmt, vor allem die Erstklässler. Hast du wirklich noch nie bei diesem Spektakel mitgewirkt?“ „Nein, außer im ersten Jahr“, gab Haruka zu. „Na komm, springe über deinen Schatten. Das wird sicher lustig. Und empfindest du es nicht auch ein bisschen als Genugtuung? Guck mal, in unserem ersten Jahr ist uns das widerfahren, was heute den jetzigen Erstklässlern blüht. Und das ist die ideale Gelegenheit, um den Spieß umzudrehen. Die neuen Schüler kennen dich im übrigen gar nicht, also bist du eine unter vielen, die ihnen einen kleinen Willkommensgruß da lassen. Und auch wenn sie das nicht gerade lustig finden, sie wissen, dass es nicht böse gemeint ist und beruhigen sich schnell wieder. Glaub mir, du wirst bestimmt deinen Spaß haben.“ „Vielleicht“, meinte Haruka mit immer noch skeptischer Stimme. So richtig überzeugt war sie nicht. So wie Kazuki sich ausgedrückt hatte, hatte sich die ganze Aktion nach Rache angehört. Und an jemandem rächen wollte Haruka sich nicht. Sie empfand keine Hassgefühle, schon gar nicht gegen die Erstklässler. „Pass auf, ich werde die ganze Zeit in deiner Nähe bleiben. So kann ich dir zu Hilfe kommen, wenn sich ein wütender Junge aus der ersten Klasse auf dich stürzt. Aber ich bin ganz sicher, dass das nicht passieren wird.“ Haruka überlegte. Kazuki war offenbar fest entschlossen, beim Ritual mitzuwirken. Wenn sie nicht dabei sein wollte, dann bestand die einzige Option darin, nach Hause zu gehen. Und das würde sie dann alleine tun müssen. Im Umkehrschluss hieß das, dass sie noch einige Zeit mit Haruka zusammen verbringen konnte. Und das gab schließlich den Ausschlag. „Okay, ich mache mit.“ „Super“, freute sich Kazuki. „Hoffentlich kannst du schnell rennen. Denn das ist notwendig. Die sind ganz schön flink.“ „Wie war es denn bei dir das erste Mal? Ich meine, nach dem ersten Schuljahr?“ „Es war ein komisches Gefühl, eine Mischung aus Freude und Ungewissheit. Und ich habe mir alle möglichen Szenarien ausgemalt. Zum Beispiel was ich tun soll, wenn ein Schüler sich wehrt und um sich schlägt. Und noch andere Sachen. Bis heute ist nicht ein einziges Mal das eingetreten, was ich mir vorgestellt hatte. Außerdem hatte ich einen anderen Jungen als Freund, der mir zur Seite gestanden und mir Ratschläge erteilt hat.“ „Was für Ratschläge?“ „Zum Beispiel nicht groß zu überlegen, wenn jemand vor dir steht. Du musst sofort abdrücken, sonst besteht die Gefahr, dass dir dein Opfer entwischt.“ „Aber meine Munition reicht ja auch nicht ewig. Was mache ich denn, wenn sie mir ausgeht?“ „Dann holst du dir Nachschub. Der steht in den Kartons an der Eingangstür. Allerdings ist es nicht so prickelnd, wenn du dein Opfer vor dir hast, abdrückst und nichts passiert. Und du solltest dir auf gar keinen Fall deine Waffe wegnehmen lassen. Denn sonst ist dein vermeintliches Opfer plötzlich hinter dir her. Und du willst ja nicht getroffen werden, obwohl das vermutlich nicht ausbleiben wird.“ Jetzt rang sich Haruka doch zu einem Lächeln durch. Nein, sie wollte auf keinen Fall getroffen werden, aber da die Erstklässler keinerlei Waffen zur Gegenwehr besaßen und die anderen Schüler sowieso untereinander Verbündete waren, durfte diese Gefahr auch kaum bestehen. „Und diese Mistkerle, die dich in der vorletzten Woche bedrängt haben, sind immer noch an dieser Schule?“, wollte Kazuiki wissen. Haruka zuckte mit den Schultern. „Vermutlich schon.“ „Warum hast du denn auch nichts gesagt? Du hättest dafür sorgen können, dass sie von der Schule fliegen. Ein einziger Satz von dir hätte genügt. So sind sie immer noch hier und können vermutlich mit anderen Mädchen dasselbe machen wie mit dir. Du hättest nur die Wahrheit sagen müssen.“ „Ich hatte Angst, dass sie es mir heimzahlen könnten. Wäre ja nicht schwer gewesen, darauf zu kommen, dass ich sie verraten habe. Und vielleicht hätten sie mir dann irgendwo aufgelauert.“ „Dafür können sie jetzt anderen Mädchen auflauern. Nobu hat dich gerettet und es ihnen ganz schön gezeigt, aber ich glaube nicht, dass sie sich davon abhalten lassen werden, mit ihrem miesen Treiben weiterzumachen.“ „Können wir bitte von etwas anderem sprechen?“ Kazuki atmete tief ein. „Na gut. Heute siehst du Nobu wieder. Willst du, dass ich mitkomme?“ „Nein, lass nur. Die letzten Male bin ich ja auch alleine zu den Übungen gegangen. Trotzdem habe ich immer noch ein mulmiges Gefühl, wenn ich zu diesem Parkplatz unterwegs bin. Ich meine, ich weiß ja nicht, was sich Nobu immer für Sachen ausdenkt, die ich dann meistern muss. Und deswegen bin ich immer ziemlich nervös. Diese Ungewissheit ist echt schlimm.“ „Na ja, ansonsten wäre es ja auch witzlos. Wenn du vorher schon weißt, was dich erwartet, dann kannst du dich ja darauf einstellen und dann ist das ganze Training bestimmt nicht so effektiv. Außerdem ist deine Angst nichts ungewöhnliches. Das ist ganz normal. Ich wäre vermutlich auch total hibbelig und würde angespannt zu diesen Treffen gehen, wenn ich nicht wüsste, was mich dort erwartet.“ „Immerhin sehe ich selbst, dass diese Übungen etwas bewirken. Auch wenn ich manchmal lieber nicht hingehen möchte, so bin ich anschließend doch immer froh, dass ich es doch getan habe. Und danke, Kazuki, dass du immer für mich da bist und mir zur Seite stehst.“ „Hey, das mache ich gerne. Du bist nämlich viel stärker, als du selbst glaubst. Du musst nur einen Weg finden, deine Stärke rauszulassen. Und dabei unterstütze ich dich sehr gerne. Aber es klingelt gleich. Wollen wir uns auf den Weg machen?“ Haruka nickte und gemeinsam gingen sie zur Aula hinüber. Das Mädchen war wirklich dafür dankbar, dass ihr Kazuki in allem zur Seite stand und sie immer wieder ermunterte. Vielleicht würde sie irgendwann auch den Mut aufbringen, ihm zu sagen, wie gern sie ihn hatte. *****
„Meine Güte“, sagte Inu zu ihrer Freundin, „deine Laune ist ja heute wieder auf dem Höhepunkt. Schon seit über einer Woche läufst du als Griesgram durch die Gegend. Kriegst du dich auch mal wieder ein?“ „Wie würdest du dich denn fühlen, wenn man dich so abserviert hätte“, pampte Chiyo sie an. „Dieser elende Möchtegernmacho, was bildet er sich eigentlich ein? Was glaubt er, mit wem er es zu tun hat?“ „Auch das sagst du jetzt schon zum x-ten Mal. Lasse dir doch mal etwas neues einfallen. Und finde dich damit ab, dass du bei Takeo nicht landen kannst. Du brauchst es gar nicht erneut zu versuchen, er will nichts von dir. Muss er dich erst krankenhausreif schlagen, damit du es kapierst?“ Chiyo guckte sie an, als habe sie den Verstand verloren. „Wie sprichst du denn mit mir?“ „Ich rede Klartext und ich bin die einzige, die sich das bei dir erlauben darf. Und das nutze ich natürlich schamlos aus.“ „Das wird er mir büßen. Es wird ihm noch wahnsinnig leid tun, dass er mich so abserviert hat. Aber dann ist es zu spät.“ „Was hast du vor?“, erkundigte sich Inu neugierig. „Keine Ahnung“, meinte Chiyo, „aber etwas wird mir schon einfallen.“ Im Grunde war in ihr schon ein Plan herangereift, wie sie vorgehen würde, um sich Genugtuung zu verschaffen. Sie musste sich einfach ganz intensiv mit Takeo beschäftigen. Sie musste ihn unter die Lupe nehmen und sein gesamtes Leben durchkämmen. Und das Internet war genau die richtige Quelle für solche Vorhaben. Dort würde sie fündig werden und herausfinden, welches dunkle Geheimnis Takeo mit sich herum trug. Jeder hatte Dreck am Stecken, das war bei Takeo sicher nicht anders. Sie würde schon hinter seine Fehltritte kommen und nachträglich dafür sorgen, dass ihn diese Fehltritte direkt in den Abgrund führten. Eventuell hatte sie auch Pech und bekam gar nichts heraus. Sei es, weil Takeo tatsächlich eine weiße Weste hatte oder weil sie trotz aller Anstrengungen nichts über ihn heraus bekam. Aber das wäre nicht weiter schlimm. Notfalls musste sie halt darüber nachdenken, wie sie ihm etwas unterjubeln konnte. Vielleicht würde sie dafür die Hilfe von Verbündeten brauchen, aber diese waren schnell aufzutreiben. Als Krönung konnte sie eventuell höchstpersönlich anwesend sein, wenn der Schüler sich in der Falle verfing, die sie extra für ihn ausgelegt hatte. Wenn er nichts mit ihr zu tun haben wollte und sich einbildete, er könne sie wie das letzte Miststück behandeln, dann musste er eben die Konsequenzen tragen. Doch eventuell war Takeo gar nicht die treibende Kraft in der ganzen Geschichte. Chiyo dachte an die ganzen Pausen, in denen sie gesehen hatte, wie der Teenager mit Chizuru und mit Kazumi herum hing. Wobei Chiyo es viel mehr gegen den Strich ging, dass er mit Kazumi Kontakt hatte. Sie hatte ihn bestimmt gegen sich aufgehetzt. Und Chizuru hatte in die gleiche Kerbe geschlagen. Im Grunde waren die beiden also schuld daran, dass Takeo sie so behandelt hatte, wobei der größte Part ganz sicher von Kazumi getragen wurde. Chiyo überlegte kurz, von wem die größere Gefahr ausging. Chizuru wollte nur mit Takeo zusammen sein. Aber Kazumi hatte ihr ganz deutlich klar gemacht, dass sie Chiyo im Auge behalten würde, um sicherzustellen, dass diese nicht mehr auf Beutezug ging und noch weitere Jungen in ihr Netz lockte. Demzufolge war Kazumi die Bedrohung, der sie sich zuerst entledigen musste. Ganz bestimmt war Kazumi ihre Zeit viel zu kostbar, als dass sie Chiyo jede freie Minute auf Schritt und Tritt überwachen würde, aber darauf wollte sich Chiyo lieber nicht verlassen. Sie würde selber aktiv werden müssen, um Kazumi aus dem Weg zu räumen. Dabei hatte sie nicht vor, ihre Rivalin zu töten. Aber sie musste dafür sorgen, dass Kazumi für eine längere Zeit keinen Schaden mehr anrichten konnte. Und diese längere Zeit durfte nicht nur ein paar Tage betragen. Mehrere Wochen oder gar Monate schwebten Chiyo als Zeitspanne vor. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, was so effektiv war, dass es ihren Zweck erfüllte. Und wenn Kazumi erst einmal nicht mehr zur Debatte stand, dann konnte Chiyo sich um ihre weiteren Probleme kümmern, die die Namen Takeo und Chizuru trugen. Von Takeo wollte sie sowieso nichts mehr wissen, aber er würde ihr nicht so einfach davon kommen. Und Chizuru würde die Quittung dafür bekommen, dass auch sie den Jungen gegen Chiyo aufgehetzt hatte. Und dann fiel Chiyo ein, wie sie sich schon mal einen kleinen Vorgeschmack holen konnte. „Ich bin beim Ritual dabei“, verkündete sie. Inu guckte sie überrascht an. „Auf einmal? Ich dachte, du wolltest nach Hause und deine Zeit sinnvoller verbringen als mit diesem … wie hast du es genannt? Kinderkram?“ „Ich habe es mir eben anders überlegt. Man wird ja wohl noch mal seine Meinung ändern dürfen, oder?“ „Ist ja gut. Reg dich doch nicht gleich wieder so auf. Man könnte meinen, ich hätte dir die Abfuhr erteilt und nicht dieser Erstklässler.“ Beim Ritual würde sie sich Kazumi vornehmen, dazu war sie fest entschlossen. Sie würde sie ständig im Auge behalten und ihr in einem geeigneten Moment eine hübsche Überraschung bereiten. Das war zwar nur ein klitzekleiner Bruchteil von dem, was sie wirklich verdiente, aber ihr, Chiyo, würde es eine erste Genugtuung verschaffen. Sozusagen eine Anzahlung oder ein Vorgeschmack auf das, was sie in Zukunft erwartete. „Los, gehen wir!“ Chiyo packte ihre Freundin am Handgelenk und zog sie einfach mit sich. Sie war genau in der richtigen Stimmung, um es ihren drei meistgehassten Schülern und noch einigen anderen Teenagern ordentlich zu zeigen. So konnte sie sich am besten abreagieren. Wer den Fehler machte, ihr heute über den Weg zu laufen, der war dran, da kannte sie überhaupt kein Erbarmen. Sofort nachdem sie die Aula betreten hatte, schnappte sie sich ihre Waffe und stellte sich mit dem Rücken an eine Wand, die halbwegs im Dunkeln lag, so dass man sie nicht sofort sehen konnte. Dann hielt sie angestrengt Ausschau nach ihren Opfern und als sie sie erblickt hatte, ließ sie sie nicht mehr aus den Augen. Hoffentlich war es bald soweit. Das Ritual konnte für sie gar nicht schnell genug beginnen und es fiel Chiyo schwer, ihre Ungeduld zu zügeln. *****
An der Tür zur Aula wartete der Hausmeister, der jeden Schüler, der hinein wollte, nach seinem Namen und seiner Klasse fragte. Auf einer dreiseitigen Liste wurde der entsprechende Name dann abgehakt. Als Takeo und Chizuru die Aula betraten, standen schon viele Erstklässler im Raum und tuschelten aufgeregt. Jeder fragte sich, was hier wohl auf ihn warten würde. Es gab keine Sitzgelegenheit, was schon ungewöhnlich war. Normalerweise waren immer mehrere Stuhlreihen aufgebaut, was man aber heute unterlassen hatte. So standen alle vor dem Rednerpult, das vorne platziert worden war. „Ich kapier das alles nicht“, wisperte ein Mädchen ihrer Nachbarin zu. „Du bist die besten in der ganzen Klasse. Wieso musst du hier auch antanzen. Du hast doch sicher nichts ausgefressen.“ „Schon, aber vielleicht ist es etwas, was uns alle betrifft. Verhaltensmaßregeln, die die Mehrheit von uns verletzt haben oder so. Und den Quatsch dürfen sich dann wieder alle anhören, auch die, die gar keinen Fehler begangen haben.“ Chizuru beugte sich zu den Mädchen vor. „Ich habe gerade in der Pause erfahren, dass der Direx auf uns alle sauer ist. Auf jeden einzelnen aus den ersten Klassen.“ „Das ist doch totaler Mumpitz. Das kann überhaupt nicht sein.“ Takeo zuckte mit den Schultern. „Warten wir doch noch ein paar Minuten, dann wissen wir es.“ Eines der Mädchen aus der Reihe vor ihm sah ihn von oben bis unten an und meinte: „Du bist total cool, oder?“ „Nicht wirklich“, lächelte Takeo, „aber es bringt doch nichts, sich verrückt zu machen. Dadurch erfahren wir es auch nicht schneller.“ Das Klingelzeichen zeigte das Ende der Pause an. Takeo schaute zur Eingangstür, durch die weitere Erstklässler traten, nachdem sie dem Hausmeister die gewünschten Angaben gemacht hatten. Endlich erschien Tsubasa Takeshi und ging zum Rednerpult. Es wurde schlagartig still im Raum. Jeder Schüler blickte gespannt nach vorne, manche mit einem neugierigen Gesichtsausdruck, manche ängstlich, manche gleichgültig. „Liebe Schülerinnen, liebe Schüler“, begann der Direktor seine Rede. „Sie alle haben vor einigen Monaten diese Schule, die Carlton Jouchi Daigaku, zum ersten Mal betreten. Damit haben Sie sich für einen Laufbahn in Ihrem Leben entschieden, die sich später als durchaus hilfreich erweisen kann, vorausgesetzt, dass Sie bereit sind, die Strapazen, die unsere Lehranstalt für Sie bereit hält, zu meistern. Sie werden in all den Jahren, die Sie an dieser Schule verbringen werden, hart arbeiten müssen, um den Anforderungen gerecht zu werden. Aber wenn Sie dann den Abschluss in der Tasche haben, stehen Ihnen gute berufliche Perspektiven offen. Das zeigt unsere Erfahrung. Fast siebzig Prozent aller ehemaligen Schülerinnen und Schüler der Carlton Jouchi Daigaku stehen heute in einem Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis oder in einem Studium. Wir bereiten Sie auf das vor, was Sie später einmal beruflich tun möchten. Und wenn Sie noch nicht wissen, was Sie tun möchten, dann helfen wir Ihnen dabei, es herauszufinden. Fleiß wird bei uns belohnt, wie beispielsweise mit einem mehrmonatigen Schulaufenthalt in einer Schule in Japan. In jedem zweiten Schulhalbjahr wird unter den siebzig besten Schülern einer ermittelt, der das Privileg erhält, sich ein paar Monate in Japan aufhalten zu dürfen. Und das ist eine große Ehre. Natürlich ist im entscheidenden Moment auch eine gehörige Portion Glück dabei, aber es liegt allein an Ihnen unter die siebzig besten Schüler zu kommen und somit erst die Voraussetzung für die Auslandsreise zu schaffen. Sie werden viele Jahre an dieser Schule sein und es werden in dieser Zeit viele angenehme und viele unangenehme Dinge auf Sie zukommen. Sie müssen beides aushalten und es versteht sich von selbst, dass die unangenehmen Dinge schwerer auszuhalten sein werden.“ Takeo begann sich zu langweilen. All das, was der Direktor ihnen erzählte, war doch bereits bekannt. Es war logisch, dass man sich für die Schule anstrengen musste, um das Klassenziel zu erreichen. Und die Mitteilung über den Japanbesuch war auch keine Neuigkeit. Alle Schüler hatten diese Information mit der Aufnahmebestätigung bekommen. In einer Broschüre war alles wichtige über die Carlton Jouchi Daigaku nachzulesen, wobei Takeo den Eindruck hatte, dass die Aussicht für vier Monate nach Japan zu fliegen, geschickt als Werbemittel von der Lehranstalt eingesetzt wurde. Was also sollte dieses überflüssige Geschwafel? Der Teenager blickte sich in der Aula um – und plötzlich war seine Aufmerksamkeit geweckt. An den Wänden hatten sich einige Schüler verteilt. Offenbar waren es ebenfalls Erstklässler, aber Takeo verstand nicht, warum diese dann nicht in die Mitte der Aula zu den anderen Schülern gekommen waren. Sein Blick fiel auf einen älteren Schüler, der eine Hand in die Jackentasche gesteckt hatte und die andere auf seinem Rücken hielt. Nein, vom Alter her konnte dieser unmöglich in der ersten Klasse sein. Aber was suchte er dann hier? Takeo richtete seine Augen in Richtung der Eingangstür und sah die beiden Zwillinge. Es waren Tetsuya und Makoto, da bestand überhaupt kein Zweifel. Was hatten sie in der Aula verloren? Sie hatten ganz anderen Unterricht als die Erstklässler. Und noch eine Beobachtung schob sich wieder in die Erinnerung des Jungen. Er hatte gesehen, wie einige ältere Schüler das Schulgelände verlassen hatten. Das war mehr als ungewöhnlich, denn die Stundenzahl ging gerade für höhere Jahrgänge deutlich über zwei Stunden am Tag hinaus. War dort Unterricht ausgefallen? Jetzt erst fielen dem Schüler die Kartons auf, die neben der Eingangstür auf dem Boden standen. Die beiden Sakurai-Jungen beugten sich nach vorne und holten jeweils etwas längliches, das Tekeo nicht genau erkennen konnte, aus einer der Pappkisten. Er stieß seine Klassenkameradin an, die irritiert vom Direktor zu ihm blickte. Takeos Kopf ruckte leicht nach rechts und Chizuru schaute in die ihr angezeigte Richtung. Auch sie sah die Zwillinge, die unauffällig an die hintere Wand schlenderten und sich mit dem Rücken gegen sie lehnten. Dort standen noch mehr Jungen und Mädchen. „Als ich als Schüler an diese Schule kam, gab es noch nicht die heutige Situation, dass sich alle Erstklässler vollständig in der Aula zu versammeln hatten“, erklärte der Direktor gerade. „Dieser Brauch ist erst unter meiner Führung entstanden. Und ich bin auch nicht von alleine darauf gekommen, der Anstoß kam von einem Schüler, der vor einigen Jahren diese Schule verlassen hat.“ Takeo und Chizuru hörten gar nicht mehr zu. Waren die bis dahin gemachten Beobachtungen für sie beide schon merkwürdig genug, so stieg bei der nächsten leichte Panik in ihnen auf. Der Hausmeister zog etwas aus seiner Tasche und machte sich damit an der Tür zu schaffen. Dann begab er sich zur zweiten Tür und tat dort das gleiche. Er fummelte in Höhe des Türschlosses herum. Die beiden Erstklässler zählten zwei und zwei zusammen und für sie bestand absolut kein Zweifel an dem, was der Hausmeister dort tat. Er hatte die Türen abgeschlossen. „Was läuft hier?“, flüsterte Chizuru ihrem Klassenkameraden mit zittriger Stimme zu. „Keine Ahnung.“ „Um auf die Ängste zu sprechen zu kommen, die einige von Ihnen nach meinem Auftritt heute morgen in den Klassenräumen bestimmt entwickelt haben“, sprach Tsubasa Takeshi weiter und hatte mit diesen Worten wieder die Aufmerksamkeit von Takeo und Chizuru, „so kann ich Ihnen versichern, dass diese Ängste unbegründet sind. Ich bin zu keinem Zeitpunkt auch nur auf einen einzigen von Ihnen böse gewesen. Sie haben überhaupt nichts verbrochen, jedenfalls weiß ich nichts davon. Mein Erscheinen in Ihren Klassenzimmern diente einzig und allein dem Zweck, sicherzustellen dass Sie alle hier in der Aula erscheinen würden. Und die Frage, warum ich dieses Theater gespielt habe, wird in wenigen Sekunden beantwortet. An Ihrem ersten Tag habe ich Sie alle an dieser Schule begrüßt und Ihnen alles Gute gewünscht. Aber von Ihren Mitschülern sind Sie noch nicht begrüßt worden. Aus diesem Grund holen wir das heute nach.“ Der Direktor trat zwei Schritte zurück, breitete die Arme aus und rief laut: „Herzlich willkommen in der Carlton Jouchi Daigaku!“ Und kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, brach die Hölle los. *****
Unvermittelt und mit lautem Geschrei stürmten die Schüler der höheren Jahrgänge, die bis zu diesem Zeitpunkt an den Wänden gelehnt hatten, auf die Erstklässler zu. In ihren Händen hielten sie Sprühdosen. Keiner der Erstklässler wusste, was ihn erwartete, aber sie waren auch gar nicht scharf darauf, das herauszufinden. Sie spritzten kreischend auseinander und versuchten vergeblich, sich vor den bewaffneten Jungen und Mädchen in Sicherheit zu bringen. Allerdings gab es nichts, wo sie sich verstecken konnten. Und noch nicht einmal eine Sekunde später wussten sie, welches Schicksal sie erdulden mussten. Ein Junge aus der ersten Klasse prallte gegen einen älteren Schüler und wurde von diesem vorne an der Schuluniform gepackt. Dann wurde ihm die Sprühdose vors Gesicht gehalten. Der ältere Schüler drückte auf die Düse, woraufhin sich Seifenschaum auf das Gesicht des Erstklässlers ergoss. Der bewaffnete ließ sein Opfer los und lief weiter, um sich den nächsten Teenager zu schnappen. Der eingesprühte Junge prustete und wischte sich den Schaum aus dem Gesicht. Auch Kiyoshi befand sich unter den Leuten, die bei dem Chaos dabei sein wollten. Er hatte Takeo ins Visier genommen und rannte auf ihn zu. Glücklicherweise stand der Erstklässler mit dem Rücken zu ihm, so dass er ihn nicht sehen konnte. Und hören konnte er ihn bei dem Getöse, das gerade in der Aula herrschte, schon gar nicht. Als Kiyoshi Takeo erreicht hatte, hielt er sich gar nicht mit langen Vorreden auf. Er sprühte dem Jungen den Schaum direkt in den Nacken. Kreischend griff sich Takeo an den Rücken und fuhr herum, was ein Fehler war, denn so bekam er die nächste Ladung direkt ins Gesicht. Kiyoshi lachte höhnisch und lief davon, während Takeo sich das Gesicht frei rieb. Er hatte erkannt, wer hinter dieser Aktion steckte und war fest entschlossen, es dem unbekannten Jungen auf gleiche Weise heimzuzahlen. Allerdings musste er dazu erst einmal an eine Sprühdose gelangen. Das bedeutete, dass er einem anderen Schüler seine Waffe entwenden musste. Kein Problem, wenn die älteren Schüler Krieg haben wollten, würden sie ihn bekommen. Kazumi rannte hinter einem Erstklässler her und wurde dabei mit Argusaugen von Chiyo beobachtet, die sich sichtlich anstrengen musste, bei dem Gewimmel ihre Gegnerin nicht aus dem Blick zu lassen. Und schließlich war Chiyos Chance gekommen. Der Erstklässler stolperte und rutschte panisch über den Boden, doch auf diese Weise war der Versuch, sich vor Kazumi in Sicherheit zu bringen zum Scheitern verurteilt. Vorsichtig schlich sich Chiyo an den Twen heran. Mit ihrer Attacke half sie zwar dem Iungen aus der ersten Klasse, aber das war es ihr wert. Und dann war es soweit. Kazumi wollte gerade auf die Düse ihrer Spraydose drücken, da war Chiyo bereits hinter ihr. Sie zog am Kragen von Kazumis Bluse und sprühte ihr den Schaum direkt in die Bluse auf den Rücken. Doch sie hatte nicht mit Kazumis blitzschneller Reaktionsgeschwindigkeit gerechnet. In Windeseile drehte die angegriffene Schülerin sich um und betätigte die Dose. Weißer Schaum verteilte sich auf Chiyos Oberkörper und ihr Blazer, das Halstuch und ihre weiße Bluse waren in Windeseile schaumgetränkt. Noch bevor Chiyo ihrerseits reagieren konnte, war Kazumi bereits geflüchtet. Der Japanischlehrer Isamu Akabashi stand in sicherer Entfernung vom Geschehen, aber dieser Abstand erwies sich als nicht sicher genug. Kagura schlenderte in aller Ruhe zu dem Lehrkörper, blieb vor ihm stehen und grinste ihn an. In aller Seelenruhe drückte sie ab und traf ihn mitten auf die Brust. „Sie wissen ganz genau, dass nur Schüler angegriffen werden dürfen. Lehrkräfte und keine Erstklässler sind tabu“, schimpfte Isamu. „Oh, tut mir leid, das habe ich vergessen“, meinte Kagura und verpasste ihrem Lehrer eine erneute Ladung, bevor sie sich kichern wieder auf die Jagd nach weiteren Erstklässlern machte. Kazuki konnte sein Versprechen, dass er immer in Harukas Nähe bleiben würde, leider nicht einhalten. Durch die umherlaufenden Schüler wurde er zur Seite geschubst und mitgerissen, so dass er und seine Mitschülerin sich aus den Augen verloren. Das Mädchen suchte nach ihm, konnte ihn aber nicht entdecken. Also entschloss sie sich, ohne jemanden an ihrer Seite bei der Aktion mitzumischen. Sie drehte sich um – und stand plötzlich Nobu gegenüber. Keinem der beiden Schüler fiel es ein, abzudrücken. Sie standen nur da und hielten sich gegenseitig die Spraydosen entgegen. Nobu fand als erster die Fassung wieder. „Na los, trau dich. Drück ab“, forderte er sie auf. Von Haruka kam keine Reaktion. Nobu senkte die Dose ein wenig, zielte auf Harukas Bauch und drückte ab. Das Mädchen keuchte auf und verpasste ihrem Gegenüber eine Ladung Schaum, der auf dem dunkelblauen Blazer des Jungen landete. „Na also, geht doch“, grinste Nobu zufrieden und hastete weiter. Ein Mädchen aus der ersten Klasse unternahm alles, um nicht getroffen zu werden und sie hatte Glück. Einige Male gelang es ihr zu entkommen und die größeren Schüler hatten das Nachsehen. Jetzt allerdings schien ihr Schicksalsstündlein geschlagen zu haben. Sie lief planlos in der Aula umher und blieb einen Augenblick stehen, um zu verschnaufen. Das war der Moment, in dem sie Ren und Maya in die Zange nahmen. Ren näherte sich dem Mädchen von vorne und die Lehrerin schlich sich von hinten an die Teenagerin heran. Als das Mädchen sich wieder ein wenig erholt hatte, blickte es nach oben und entdeckte Ren, der lächelnd vor ihr stand. Sie wich einen Schritt zurück und hörte eine Stimme in ihrem Rücken: „Vergiss es.“ Abrupt drehte sie sich um und sah sich einer Lehrerin gegenüber, die eigentlich gar nicht am Ritual hätte teilnehmen dürfen. Die Schülerin sah die Entschlossenheit in den Augen der Frau, wusste, dass diese jeden Moment abdrücken würde und reagierte blitzschnell. Sie ließ sich fallen und hechtete zur Seite weg, so dass Ren vom Schaum im Gesicht erwischt wurde. Der Katzenliebhaber schloss instinktiv die Augen und betätigte gleichfalls die Düse. Weißes Pulver spritzte gegen den Körper der Lehrerin, die aufschreiend zurückwich. Ren wischte sich das Gesicht sauber, sah Maya vor sich auf dem Boden liegen und dann fingen beide aus vollem Hals an zu lachen. Von ihrem Opfer war keine Spur mehr zu entdecken. Unterdessen hatte Kazumi die hinterhältige Attacke von Chiyo nicht vergessen. Um sich zu rücken besprühte sie ihre gesamte Handfläche mit Schaum und hielt dann Ausschau nach dem Mädchen, dass sie so feige von hinten angegriffen hatte. Und dann hatte sie sie entdeckt. Sie war gerade mit einem anderen Schüler beschäftigt. Wie du mir, so ich dir, dachte sich Kazumi und pirschte sich an Chiyo heran. Von hinten legte sie ihr die Hand auf die Schulter und sagte: „Ich habe da noch etwas vergessen.“ Chiyo fuhr herum und klatschend landete Kazumis Hand in ihrem Gesicht. Durch rasche handbewegungen seifte Kazumi das komplette Gesicht ihres Opfers ein, das prustend und schimpfend versuchte, den Schaum wieder loszuwerden und in ihrer Überraschung an keinerlei Gegenmaßnahmen dachte. Die Zwillinge blickten sich um und überlegten, was sie sich wohl für ein Opfer aussuchen konnten. Erstklässler zu nehmen erschien ihnen auf die Dauer zu langweilig. Es musste etwas anderes zur Abwechslung her. Zuerst dachten sie daran, dass man dem Direktor auch einen Gruß dalassen könnte, aber der stand sicher oben auf dem Podest. An ihn heranzukommen, würde schwierig werden. Und dann hatten die Zwillinge ihr Opfer entdeckt. Es lehnte neben der Eingangstür zur Aula, zu seinen Füßen stand ein Karton mit Spraydosen, der bereits fast leer war. Grinsend gingen die beiden Jungen zum Hausmeister hinüber. Dieser kannte die Zwillinge und war mächtig auf der Hut. „Wenn ihr das vorhabt, was ich glaube, dann bewegt ihr euch auf verdammt dünnem eis. Ich sorge dafür, dass ihr von dieser Schule fliegt, wenn ihr mich als Opfer ausgewählt habt“, sagte der Hausmeister in drohendem Tonfall. „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte Tetsuy unschuldig. „Wir wollen uns nur neue Spraydosen holen. Unsere sind nämlich leer“, erklärte Makoto und beugte sich zum Karton hinunter. „Na, dann ist ja gut.“ Der Hausmeister trat einen Schritt zur Seite und machte den Weg zum Karton frei. Im Bruchteil einer Sekunde richteten die Sakurai-Zwillinge sich auf und seiften den Hausmeister ein. „Na so was“, tat Tetsuya erstaunt. „Da war ja doch noch etwas drin.“ „Wer konnte so etwas ahnen?“, meinte Makoto und schon stürmten die beiden Schüler sich erneut ins Geschehen, während sie einen buchstäblich vor Wut schüumenden Hausmeister zurück ließen. Chizuru war bisher ebenfalls geschickt allen Angriffen entkommen. Dann entdeckte sie Nobu, der an der Wand stand und sich die Schulter hielt. Die Spraydose lag auf dem Boden und er sah aus, als habe er Schmerzen. Die Schülerin eilte zu ihm, sah in sein schmerzverzerrtes Gesicht und fragte: „Was ist passiert? Kann ich dir helfen?“ „Meine Schulter“, stöhnte Nobu.“ „Komm, setz dich mal hin“, befahl Chizuru und Nobu rutschte an der Wand zu Boden. „Kannst du deine Jacke aus…“ Weiter kam Chizuru nicht. Nobu griff nach der Dose auf dem Boden und plötzlich war absolut nichts mehr davon zu bemerken, dass er eine Verletzung an der Schulter hatte. Chizurus Gesicht färbte sich mit weißem Schaum. „Nicht böse sein. Tricks gehören dazu“, meinte Nobu und rannte davon. Auch Takeo hatte noch eine offene Rechnung zu begleichen. Er sah einen größeren Jungen auf sich zukommen und rannte zur Seite weg. Der Junge folgte ihm. Takeo ließ ihn nahe an sich herankommen, dann wich er aus und stellte seinem Verfolger ein Bein. Der Plan ging auf. Der Schüler stolperte und ließ seine Spraydose fallen, die Takeo schneller an sich nahm, als sein Verfolger reagieren konnte. Jetzt war der Erstklässler bewaffnet und konnte Revanche nehmen für das, was man ihm angetan hatte. Er sah sich in der Halle um, die mittlerweile wie ein Schlachtfeld aussah. Fast überall auf dem Boden hatte sich Schaum verteilt und man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte. Dazwischen lagen viele Schüler, die mit Rasierschaum und Schmutz übersät waren, aber es waren auch einige darunter, die fast gar nichts abbekommen hatten. Doch für die ganzen Jungen und Mädchen interessierte sich Takeo nicht. Er war auf der Suche nach einem ganz bestimmten Schüler, nämlich nach dem, dessen Namen er nicht kannte und der es sich zum Hobby gemacht hatte, ihn zu stalken. Endlich hatte er ihn gefunden und rannte los, wobei er sehr darauf achtete, nicht ebenfalls auf dem Boden zu landen. Es dauerte eine Weile, doch dann stand er hinter ihm. Takeo packte den älteren Jungen am Arm, riss ihn herum und betätigte gleichzeitig die Düse. Ein dicker Schaumstreifen zog sich über den Hinterkopf, das Ohr und die Wange des Jungen, der der laut aufschrie und seine Hand öffnete, wodurch seine Waffe auf dem Boden landete. Doch Takeo dachte gar nicht daran aufzuhören. Er ließ seinen Zeigefinger auf dem Druckknopf liegen, besprühte das Gesicht seines Gegners, dann senkte er die Dose ein wenig und leerte ihren Inhalt auf die Schultern, die Brust und den Bauch des Jungen. Dieser taumelte entsetzt rückwärts, rutschte aus und fiel auf den Bauch. Takeo ließ die mittlerweile leere Dose fallen, ergriff die Waffe seines Gegners und besprühte seinen gesamten Rücken. Verzweifelt versuchte der Junge aus dem Gefahrenbereich zu kriechen, doch irgendwann gab er auf und hielt nur noch die Hände schützend über seinen Kopf. Schließlich warf Takeo auch die zweite Spraydose fort. Von seinem Widersacher war fast nichts mehr zu sehen. Er war unter einer dicken Schaumschicht begraben, nur an einigen Stellen der Beine war noch die schwarze Farbe seiner Hose zu erkennen. „Jetzt sind wir quitt“, meinte Takeo grimmig und verließ den Schauplatz. Lediglich eine Viertelstunde dauerte das ganze Spektakel, aber diese Viertelstunde reichte aus, dass die Schüler sich selber nicht mehr wiedererkannten. Es gab nur einige wenige, bei denen fast keine Spuren der vormittäglichen Aktion zu sehen waren. Tetsuya gelang es fast bis zum Schluss sauber zu bleiben. Lediglich ein paar kleine Spritzer waren auf seiner Hose und seinem Blazer zu sehen. Der Junge war völlig ausgepowert und sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Trotzdem lächelte er glücklich. Diese ganze Rennerei hatte riesigen Spaß gemacht, doch nun war ihm furchtbar heiß. Er zog den Blazer aus und im selben Moment sorgte ein Mädchen dafür, dass sich das Hellblau seines Hemdes in ein schaumiges Weiß verwandelte. Tetsuya ließ seine Jacke fallen und schnappte sich die Schülerin, bevor sie fliehen konnte. Er rang ihr die Spraydose aus der Hand, warf sie hinter sich, zerrte das halb lachende, halb kreischende Mädchen zu Boden, wischte sich den Schaum von der Brust und seifte das Gesicht seiner Angreiferin ein. „Das ist lustig, was?“, fragte er, während sie verzweifelt und relativ erfolglos seine Angriffe abzuwehren versuchte. Schließlich erhob er sich und reichte dem Mädchen die Hand. „Frieden?“ Sie nahm die Hilfe an, ließ sich in die Höhe ziehen und japste: „Frieden.“ Die beiden Schüler lachten und umarmten sich. Alle Jungen und Mädchen, die sich am Ritual beteiligt hatten, waren heilfroh, als alles beendet war. Lachend und sich weiterhin gegenseitig mit Schaum ärgernd verließen sie die Aula. *****
Der nächste Gang führte die Schüler in die Umkleideräume der Sporthalle, hinter denen sich auch die Duschen befanden. So wie sie momentan aussahen, konnte man sie unmöglich unter Menschen lassen. Sie machten den Eindruck, als hätten sie sich minutenlang im Schnee gewälzt, mit dem Unterschied, dass man sie nach einiger Zeit, wenn der Schnee geschmolzen war, wieder als Jugendliche erkannt hätte. Die Sporthalle war ziemlich groß. Hier spielten die Schüler nicht nur gegeneinander diverse Ballspiele, sondern widmeten sich auch traditionellen japanischen Kampfsportarten wie Karate oder Kendo. Wer es nicht so hart auf hart mochte, der konnte sich mit Tai-Chi beschäftigen. Für jeden war etwas dabei. Der Umkleideraum der Jungen war voll. Ein paar Schüler befanden sich bereits unter der Dusche, andere standen herum und unterhielten sich, der Rest saß auf den vorhandenen Holzbänken, auf denen auch Hemden, Hosen, Uniformjacken und Halstücher lagen. Trotz der Fülle an Schülern war die Luft nicht stickig oder abgestanden sondern frisch und klar. Dafür sorgte ein Belüftungssystem, das dafür sorgte, dass sich schlechter Geruch nicht in den Umkleideräumen ausbreiten konnte. Die Planer dieser Schule hatten sich viel Mühe gegeben, um den Schülern den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. „Dir hat man es zum Schluss aber noch ganz schön gegeben“, sagte ein Sechstklässler zu Tetsuya. „Fast wäre ich unbeschadet davon gekommen. Das war wirklich nicht fair.“ „Ich habe es gesehen und habe mich beinahe weggeschmissen vor Lachen.“ „Guckt mich an“, meldete sich Makoto stolz. „Ich bin von euch allen am saubersten, weil ich fast nichts abgekriegt habe.“ „Da musst du ja Unmengen an Haken geschlagen haben, um der ganzen Flut auszuweichen“, vermutete der Junge aus der sechsten Klasse. „Tja, man muss sich eben koordiniert bewegen können.“ Makoto wusste zuerst gar nicht, wie ihm geschah, als sein Bruder ihn vorne am Hemd packte und zu sich zog. Erst als er den kalten Schaum auf seiner Brust spürte, wusste er, was passiert war. Makoto schrie laut auf, während die weiße Pracht langsam zu seinem Bauch hinunter rutschte. „Das war wohl nichts mit deiner koordinierten Bewegung, was?“, grinste sein Ebenbild ihn an. „Du musst nicht immer so prahlen, das ist gar nicht gesund.“ Mit einem wütenden Gebrüll stürzte sich Makoto auf seinen Bruder. Dieser wand sich los und nahm nun seinerseits Makoto in den Schwitzkasten. Die Zwillinge rangen miteinander und stolperten dabei durch den gesamten Raum, während die anderen Schüler Platz machten und bereits Wetten auf den Sieger abschlossen. Während ihrer Keilerei waren die Sakurai-Jungen ganz mit sich selbst beschäftigt. Jeder versuchte über den anderen die Oberhand zu gewinnen und dabei stolperten sie blind mitten in den Duschraum. Doch auch hier ging der Kampf weiter und als sie schließlich unter einer Dusche landeten, reagierten die anwesenden Schüler ohne zu zögern. Sie drehten das Wasser auf, dass auf die beiden Streithähne prasselte, die sich prustend trennten und innerhalb von zwei Sekunden klatschnass wurden. Der Schaum wurde von ihren Kleidern gespült und das Hemd und die Hose klebten ihnen am Körper. Dennoch nahmen sie es mit Humor. Kiyoshi hatte seine Uniformjacke ausgezogen und an einen Kleiderhaken gehängt und war gerade dabei, sich die Schuhe aufzubinden als Takeo sich neben ihn stellte. „Du hast mich ja ordentlich zugerichtet“, lächelte Kiyoshi den Jungen an, der das Lächeln nicht erwiderte sondern ihn weiterhin mit todernstem Gesicht ansah. „Hast du gut gemacht. Ich hab’s auch nicht anders verdient.“ „Deine Einsicht kannst du dir sparen. Findest du nicht, dass es langsam mal Zeit ist, mir zu sagen, wer du eigentlich bist?“ „Das verrate ich dir schon noch, aber nicht jetzt.“ „Wie du meinst“, antwortete Takeo. Dann sah er sich im Raum um, bis er die Person fand, nach der er Ausschau gehalten hatte. „Nobu, kommst du bitte mal her.“ Der angesprochene Schüler stapfte zu Takeo. „Hier ist jemand, der gerne duschen möchte.“ Blitzschnell packte Takeo Kiyoshis rechten Arm. Nobu wusste sofort, was er zu tun hatte und schnappte sich den anderen Arm und gemeinsam zerrten sie den Jungen in Richtung der Duschen. „Was zum …“ Kiyoshi wehrte sich aus Leibeskräften, aber Takeo und Nobu hielten ihn fest im Griff. „Hey, ich bin noch angezogen“, protestierte Kiyoshi. „Keine Sorge“, lachte Nobu, „deine Klamotten müssen sowieso gewaschen werden.“ „Nein!“ Mit aller Kraft stemmte Kiyoshi seine Füße gegen den Boden, aber die beiden anderen Schüler kippten seinen Körper einfach um 45 Grad nach hinten und schleiften ihn zum vorgesehenen Ziel, wobei die Schuhe von Kiyoshis Füßen rutschten und auf dem Boden liegen blieben. Im aufrechten Stand hatte sich Takeos Stalker wenigstens noch wehren können, jetzt hing er in Schräglage zwischen seinen Peinigern und musste alles hilflos über sich ergehen lassen. An der Dusche angekommen wurde er von dem stärkeren Nobu gegen die Wand gedrückt, so dass er nicht fliehen konnte, während Takeo das Wasser aufdrehte. Alle drei Schüler wurden klatschnass. Takeo war immer noch sauer. Aber er beruhigte sich damit, dass er bestimmt bald herausfinden würde, wer der unbekannte Twen war und warum er sich dauernd in seiner Nähe aufhielt. Auch bei den Mädchen war einiges los. Chiyo hatte sich schon so früh wie möglich zu den Duschen begeben. Aus Erfahrung wusste sie, dass bereits kurze Zeit nach dem Ende des Rituals die Umkleideräume und Duschen überfüllt waren. Außerdem wollte sie der Gefahr aus dem Weg gehen, Kazumi zu begegnen. Ansonsten hätte sie sie vermutlich umgebracht. Sie hatte ihr ihren Denkzettel kaputt gemacht und aus diesem Grund war Chiyo wirklich nicht in der allerbesten Laune. Schnell zog sie ihre Schuluniform aus, duschte und zog sich frische Sachen an. Dann verschwand sie und reagierte auch nicht auf Ansprachen oder Fragen ihrer Mitschülerinnen. Immerhin ging ihr Plan auf und sie bekam ihre Rivalin nicht zu Gesicht. Kazumi wusste natürlich ebenfalls darüber Bescheid, dass in der Umkleide der Mädchen jetzt der Teufel los war, deshalb stand sie noch mit ein paar anderen Schülerinnen und Schülern in der Aula herum. Sie unterhielten sich über die Ereignisse in den letzten Minuten. Die Gruppe hatte viel Spaß und ein Mädchen sorgte gerade dafür, dass ein männlicher Schüler mit Busen aus Schaum verschönert wurde. „Die sind viel zu groß“, beschwerte sich dieser. „Für die kriege ich doch niemals einen passenden BH.“ „Du kannst ja einen Kürbis halbieren und aushöhlen“, schlug das Mädchen vor und die anderen erstickten fast vor Lachen. „Die sind doch sowieso aus Silikon“, meinte ein anderer Junge und drückte die Schaumbusen mit den Händen platt. „Guck mal, jetzt brauchst du dich auch nicht mehr darum zu sorgen, wo du einen BH herkriegst. Du nimmst einfach Kuchenteller.“ Während sich die Mädchen in der Aula amüsierten, befand sich Haruka bereits mit anderen Schülerinnen im Umkleideraum. Gewiss, ihr hatte das Ritual auch Spaß gemacht, aber ihre Gedanken waren auch damit beschäftigt, was ihre Opfer über sie dachten und ob sie ihr auch wirklich nicht böse waren sondern das ganze als Spaß angesehen hatten. „Hey“, sprach ein Mädchen aus ihrer Klasse sie an, als sie gerade den zweiten Knopf ihrer Bluse geöffnet hatte. „Warst du gerade nicht auch bei dem Ritual dabei?“ Haruka nickte. „Finde ich total klasse, dass du da mitgemischt hast. Denen haben wir es ordentlich gezeigt, aber im nächsten Jahr können die jetzigen Küken es ja ihren Nachfolgern abgeben. Aber Glückwunsch, ich hätte echt nicht erwartet, dass du dich traust, uns bei dem Ritual zu unterstützen.“ Damit drehte sie sich um und ging wieder an ihren Platz zurück. Haruka atmete erleichtert auf und fühlte sich total glücklich. Chizuru unterhielt sich mit zwei Klassenkameradinnen über die heimtückische Aktion, die ihr während des Rituals passiert war. „Das war wirklich hinterhältig von diesem Kerl. Ich meine, er hätte sich doch wirklich verletzt haben können. Da ist man besorgt und erkennt, dass man in eine Falle gelockt worden ist“, empörte sich Asama, die neben Chizuru saß. „Wie wäre es, wenn wir es ihm auf ähnliche Weise heimzahlen?“, schlug das dritte Mädchen, das auf der anderen Seite neben Asama saß, vor. „Wie denn?“, wollte Chizuru wissen. „Keine Ahnung. Wir müssen uns eben etwas überlegen. Aber ich finde, so ein fieser Trick schreit geradezu nach Rache. So einfach dürfen wir ihn nicht damit davonkommen lassen.“ Die drei Mädchen überlegten hin und her und plötzlich schreckte die Schülerin, die den Revanchevorschlag ins Spiel gebracht hatte, auf. „Sag mal, du könntest doch mit dem Jungen ins Gespräch kommen. Als Aufhänger nimmst du einfach die heutige Aktion. Und dabei versuchst du ein paar Sachen über ihn rauszufinden, was seine Hobbies sind, was er gerne mag und so weiter. So können wir uns besser eine Retourkutsche überlegen. „Keine schlechte Idee, Lina“, strahlte Chizuru. „So machen wir das. Wir finden schon eine Möglichkeit, wie wir ihn dumm dastehen lassen können.“ „Genau“, nickte Asama, „schließlich sind wir Mädchen viel einfallsreicher als Jungs.“ Jede der drei Schülerinnen freute sich jetzt schon über Nobus Gesicht, wenn ihr Plan in die Tat umgesetzt werden würde. Zufrieden machten sie sich bereit, unter die Dusche zu kommen. *****
Takeo stand auf dem Flur vor der Tür zum Mädchenumkleideraum und hoffte, dass seine Mitschülerin noch nicht das Gebäude verlassen hatte. In frischen Sachen fühlte sich der Junge gleich viel besser. Trotz all der Aufregung und den unerwarteten Angriffen war es doch ein erheblicher Spaß gewesen. Im nächsten Jahr wollte sich Takeo zu den Reihen der Attackierer gesellen, das nahm er sich fest vor. Ein Mädchen, das Takeo jetzt zum ersten Mal sah, trat auf den Gang. „Entschuldigung“, sprach er sie an, „kennst du zufällig Chizuru, eine Erstklässlerin? Ist sie noch da drin?“ „Keine Ahnung, aber es sind noch ziemlich viele aus der ersten Klasse da. Warte doch einfach noch ein bisschen, vielleicht hast du ja Glück.“ Der Schüler bedankte sich und sah ihr hinterher. Er fragte sich, wie es Chizuru ergangen war. Als die Welle der bewaffneten Schüler über sie hinweggespült war, hatte er mehr damit zu tun gehabt, sich in Sicherheit zu bringen als auf seine Klassenkameradin zu achten. Bestimmt hatte auch sie einiges abbekommen, denn es war nicht davon auszugehen, dass auch nur ein einziger Schüler der ersten Klasse ungeschoren davon gekommen war. Während er wartete, sah er den Zustand der Aula vor sich, als er sie verlassen hatte. Überall hatte Schaum gelegen, so dass man den Boden nicht mehr erkennen konnte. Hoffentlich musste der Hausmeister diese Schweinerei nicht beseitigen, denn damit wäre er überfordert gewesen. Aber es war auch vollkommen egal, wer für die Säuberungsaktion zuständig war. Derjenige hatte Takeos Mitgefühl. Es dürfte bestimmt ein paar Stunden dauern, bis die große Halle wieder gereinigt war. Endlich tauchte Chizuru auf, die von zwei weiteren Mädchen begleitet wurde. „Na, hast du alles ohne Verletzungen überstanden“, erkundigte sich der Junge. „Ich schon, aber ich wurde von einem anderen Verletzten in die Falle gelockt.“ Auf Takeos fragenden Blick hin erzählte die Teenagerin das, was sie mit Nobu erlebt hatte. „Und das kriegt er zurück, jeden einzelnen Schaumtropfen“, meinte eines der Mädchen, das Chizuru begleitete. „Ach ja, das sind übrigens Lina und Asama“, stellte Chizuru die anderen beiden Schülerinnen vor. Takeo nannte seinen Namen und erkundigte sich dann, was Lina mit ihren Worten der Rückzahlung gemeint hatte. „Glaubst du vielleicht, dass ich diese Attacke einfach so hinnehme? Vergiss es. Das kann er vielleicht mit anderen Schülern machen, aber nicht mit mir. Und vielleicht überlegt er es sich in Zukunft zweimal, bei anderen mit so einem miesen Trick zum Zug zu kommen.“ „Und was habt ihr vor?“ „Wissen wir noch nicht. Aber uns fällt schon etwas ein.“ Sie verließen die Turnhalle. Lina und Asama gingen nach rechts, während sich Takeo und Chizuru in die entgegengesetzte Richtung aufmachten. Sie erzählten sich gegenseitig, was ihnen in der Aula alles passiert war. „Und jetzt möchte ich einfach nur noch nach Hause und mich ausruhen. Die Rennerei hat mich ganz schön geschlaucht.“ „Mir geht’s genauso“, stimmt Takeo zu. „Ich bringe dich aber noch zur Haltestelle.“ Obwohl Chizuru ihm versicherte, dass das nicht notwendig sei, ließ er sich nicht davon abbringen. Gemeinsam warteten sie auf den Bus. Ohne groß nachzudenken nahm Takeo die Hand seiner Mitschülerin in die seine. Chizuru lächelte ihn an und erst in diesem Augenblick wurde Takeo bewusst, was er soeben getan hatte. Schon wollte er verlegen ihre Hand wieder loslassen, da bemerkte er, wie sich Chizuru an seine Schulter schmiegte. „Du riechst gut“, flüsterte sie ihm ins Ohr und jetzt wurde er tatsächlich rot und blickte zu Boden. Das Mädchen drückte ihre Wange wieder gegen seine Schulter und streichelte mit dem Daumen seinen Handrücken. „Wollen wir morgen abend gemeinsam etwas unternehmen?“, fragte Takeo. „Mmmmh“, machte Chizuru zustimmend und blickte in sein Gesicht ohne die Position ihres Kopfes zu verändern. „Kennst du das Joey’s? Das ist ein Club. Da ist morgen abend Poetry Slam. Wenn du magst, dann können wir ja hingehen.“ „Ich weiß nicht. Eigentlich stehe ich nicht so auf Gedichte.“ „Warst du schon mal auf einem Poetry Slam?“, wollte Chizuru wissen und Takeo schüttelte den Kopf. „Dann lasse dich doch einfach mal überraschen. Ich wette, dass es dir gefällt. Ein Typ ist immer dabei, der schreibt unheimlich schräge Gedichte. Man kommt aus dem Lachen kaum noch raus.“ „Wie oft findet der Slam denn statt?“ „Viermal im Jahr, in jeder Jahreszeit einmal. Jetzt ist der Herbst dran und das wird dann auch die letzte Veranstaltung in diesem Jahr sein. Dann geht es im Februar wieder weiter. Komm doch mit.“ „Okay, ich gucke es mir mal an.“ „Schön“, freute sich Chizuru. „Und da du mit mir hingehst, wird der Abend gleich doppelt so toll.“ Der eintreffende Bus beendete ihre Unterhaltung. Sie verabschiedeten sich und Chizuru drückte noch einmal kurz seine Hand, bevor sie einstieg, in den hinteren Teil des Fahrzeugs lief und ihm durch das Rückfenster so lange zuwinkte, bis er nicht mehr zu sehen war. Lächelnd und mit einem Kribbeln im Bauch, das aber durchaus nicht unangenehm war, schlenderte Takeo verträumt zum Schülercafé. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte einen heißen grünen Tee. Während er wartete, dachte er nach. An der Bushaltestelle hatte sie die Initiative ergriffen. Sie hatte seine Hand genommen. Sicher, er wusste, dass sie ihn mochte, aber bei ihm war es mehr als das. Er hatte sich in sie verliebt. Bedeuteten die zärtlichen Berührungen von ihr, dass sie ebenso empfand? In seiner Nähe fühlte sie sich geborgen, das hatte sie gerade eben ganz deutlich gezeigt. Aber was empfand sie dabei? Wollte sie ihm damit zeigen, dass sie ihn gern hatte oder war bei ihr ebenfalls Liebe im Spiel? Aus Mädchen wurde man so schwer schlau. Sie hatten keine Scheu davor, ihre Gefühle offen zu zeigen, aber was das bedeutete, konnte man nur schwer einschätzen. Schließlich umarmten und küssten sich Mädchen auch gegenseitig, aber das hieß nicht, dass sie ineinander verliebt waren. Ganz kurz kam Takeo in den Sinn, sie einfach zu fragen. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Wenn sie sich auch in ihn verliebt hatte und er fragte sie danach, dann würde sie ihn womöglich für den größten Trottel halten, entweder weil er es nicht selbst bemerkt hatte oder weil dem einfach nicht so war. Nein, es war sicherlich besser, sie nicht zu fragen. Vielleicht würde er es irgendwann von selbst mit absoluter Gewissheit bemerken. Auf jeden Fall hatten ihm ihre Berührungen unzählige Schmetterlinge in den Bauch gezaubert. *****
Auch auf dem Weg nach Hause hatte sich Chiyo nicht beruhigen können. Für die Attacke, die sie Kazumi zu verdanken hatte, hasste sie sie noch mehr. Vor Wut zitternd hatte sie überlegt, mit welcher Aktion sie ihre Feindin für längere Zeit aus dem Weg räumen konnte. Möglichkeiten gab es genug, aber keine war geeignet genug, um jemanden für Wochen oder gar Monate außer Gefecht zu setzen. Das Problem war, dass sich Verletzungen nicht gezielt dosieren ließen. Beispielsweise könnte man einen Verkehrsunfall herbeiführen. Aber dieser Unfall konnte so oder so ausgehen. Kazumi konnte Glück haben, so dass ihr bei diesem Unfall nicht allzu viel passierte. Das war eben nicht vorauszusehen. Am besten wäre es natürlich, wenn sie ins Koma fallen würde. Aber auch wenn sie das tat, so konnte sie nach ein paar Tagen wieder aufwachen und das war nicht in Chiyos Sinn. Außerdem hatte Chiyo keine Ahnung, wie man es anstellte, dass Menschen ins Koma fielen. Ließ sich so etwas überhaupt steuern? Der beste Plan, der der Schülerin einfiel war, dass man Kazumi irgendwie verschwinden ließ. Man konnte sie betäuben, in eine Kiste stecken und dann irgendwo viele Tausend Meilen entfernt auf einer Insel aussetzen. Afrika wäre der geeignete Kontinent. Dort gab es sehr viele unbewohnte Inseln und die Entfernung war auch ganz ordentlich. Von dort würde sie ganz bestimmt einige Zeit brauchen, um wieder in ihre Heimat zurückzukehren, mit ein bisschen Glück sogar nie mehr. Vielleicht gingen ihr nach einigen Tagen die Nahrungsmittel aus und sie würde verhungern, bevor sie von jemandem gefunden werden oder sich von selbst auf einem gebastelten Floß retten konnte. Eventuell gab es auf dieser Insel ja auch hilfreiche Tiere, die einem die Arbeit abnahmen. Insekten, deren Bisse und Stiche sehr schwere Krankheiten nach sich zogen oder Würgeschlangen, die ihre Opfer bei lebendigem Leib zerquetschten. Auch klitzekleine Tiere konnten sehr viel Schaden anrichten. Aber darüber nachzudenken war Zeitverschwendung. Um Kazumi auf diese Weise verschwinden zu lassen, war eine sehr präzise Planung und ganz bestimmt auch sehr viel Geld erforderlich. Doch je schneller es vonstatten ging und je gründlicher und preisgünstiger es war, umso lieber war es Chiyo. Und plötzlich hatte sie die Idee, wo sie die Information, die sie so dringend benötigte, erhalten konnte. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht? Das Internet! Dort fand man alles, was man suchte. Selbst solche nichtssagenden Informationen über das Gewicht eines neugeborenen Vogels, was eigentlich niemanden interessierte. Daheim angekommen war Chiyo ungestört, denn ihre Eltern arbeiteten noch. Schnell lief das Mädchen in ihr Zimmer, warf die Schultasche in die Ecke und startete den Rechner. Ungeduldig wartete sie, bis er hochgefahren war und sie die weite Welt des Internet betreten konnte. Wie sollte sie anfangen? Am besten, indem sie eine Suchmaschine für sich arbeiten ließ. Sie tippte den Begriff „Koma“ ein und erhielt eine Auflistung über zahlreiche Seiten, die diesen Begriff erklärten und sich mit verschiedenen Formen des Komas beschäftigten. Das alles interessierte sie herzlich wenig. Es gab bestimmt Medikamente, bei denen als Nebenwirkung die Gefahr bestand, dass man ins Koma fiel, wenn man zuviel von ihnen einnahm. Irgendwie konnte man Kazumi bestimmt dazu bringen, dass sie diese Medizin schluckte, ohne dass sie ahnte, was sie gerade schluckte. Chiyo probierte es mit den Suchbegriffen „Medizin“, „Nebenwirkungen“ und „Koma“. Diesmal wurden ihr noch mehr Seiten angezeigt, von denen sie die kurzen Auszüge studierte und nach dem Inhalt entschied, was vielversprechend klang. So arbeitete sie sich die nächsten zwei Stunden durch verschiedene Pages. Das Ergebnis befriedigte sie keineswegs. Es gab einige Wirkstoffe, die die gewünschte Wirkung erzielten, aber sie zu beschaffen war gar nicht so einfach, wie sie sich vorgestellt hatte. Und dann bestand auch keine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit, dass genau die Nebenwirkung, die sie beabsichtigte, ausgelöst wurde. Das ganze Prozedere war sehr unsicher. Allmählich verlor Chiyo die Geduld. Sie warf sich gegen die Rückenlehne ihres Stuhls und blickte den Bildschirm böse an. Für jeden Dreck lieferte das Internet Lösungen, aber wenn man selber mal etwas brauchte, dann war dieses Mistweb total nutzlos. Man sollte sich besser nicht auf das Internet verlassen. Chiyo überlegte, wen sie um Rat fragen konnte. Und erneut schoss ihr eine Idee durch den Kopf. Es gab doch Foren, in denen sich Menschen austauschten, die mit dem Gedanken spielten, sich selbst umzubringen. Die Schülerin plante, sich in so ein Forum einzuschleichen und auf diese Weise Informationen über ihr Vorhaben zu erlangen. Doch es gab eine Hürde: zuerst einmal musste sie so ein Forum finden. Diese waren bestimmt ziemlich gut versteckt, denn es ging natürlich niemand damit hausieren, dass so etwas existierte. Also stand ihr sicher wieder eine längere Suche bevor. Sie tippte die entsprechenden Begriffe in das Feld der Suchmaschine ein und wurde unverzüglich belohnt. Damit hatte Chiyo überhaupt nicht gerechnet. Offen wurden ihr auf dem Bildschirm Foren der gesuchten Kategorie angezeigt. Sie wählte ein Forum aus und las sich durch die unterschiedlichen Einträge, von denen einige recht vielversprechend klangen. Ihr Magen meldete sich mit lautem Knurren. Es wurde Zeit, dass er Arbeit bekam. Immerhin hatte sie die Tür gefunden, die zur Kammer ihrer Rache führte, da konnte sie jetzt auch ruhig eine Pause einlegen. Zufrieden schaltete sie den Rechner auf Sparflamme, reckte sich und stand dann auf, um in die Küche zu gehen und sich ein Schinkensandwich zuzubereiten. Während sie kaute und ab und zu an ihrem Glas Cola nippte, fiel ihr ein, dass ihre Arbeit auch dann, wenn sie herausgefunden hatte, wie sie Kazumi schaden konnte, noch nicht beendet war. Es gab immer noch Takeo, mit dem sie sich beschäftigen musste. Und wenn sie schon einmal dabei war, dann konnte sie das auch gleich jetzt erledigen. Irgendwo würde sie schon etwas über einen dunklen Punkt in der Vergangenheit des Jungen finden. Und sie würde dafür sorgen, dass sich dieser für ihn zu einem riesigen schwarzen Loch entwickeln würde. Sobald sie mit ihrer Mahlzeit fertig war, lief sie zurück in ihr Zimmer und fing mit der Sucharbeit an. Sie konnte es absolut nicht glauben. Nichts war von Takeo im Internet zu finden, absolut gar nichts. Es schien so, als existierte der Junge überhaupt nicht. Verbissen forschte sie weiter. Ihr Ehrgeiz war geweckt. Es war absolut unmöglich, dass nicht einmal der kleinste Hinweis über einen Menschen im Internet zu finden war. Nach zwei weiteren Stunden war sie richtig frustriert und schaltete den Computer aus. Wahrscheinlich musste sie noch mehr über den Erstklässler in Erfahrung bringen, um ihn im Internet ausfindig zu machen. Niemand schaffte es in der heutigen Zeit, keinerlei Informationen über sich preiszugeben, ohne dass diese irgendwo im World Wide Web hinterlegt wurden. Vielleicht würde Chiyo sich in die Computer irgendwelcher Behörden hacken müssen, aber früher oder später würde sie etwas über Takeo herausfinden. Das schwor sie sich. *****
Als er seinen Kakao, der dem grünen Tee folgte, ausgetrunken hatte, entschloss Takeo sich, zu Hause anzurufen, damit jemand kam um ihn abzuholen. Es würde eine Weile dauern, bis der Wagen vor dem Café halten würde. Der Junge bestellte sich noch ein Croissant, bei dessen Verzehr er sich Zeit ließ. Endlich war sein Chauffeur da und Takeo wurde nach Hause gefahren. Er ging über den Flur ins Arbeitszimmer, wo seine Mutter saß und an einer neuen Geschichte schrieb. Sie blickte hoch, als sie hörte, wie er den Raum betrat. „Hey, du bist ja schon zu Hause. Ist Unterricht ausgefallen?“ „Nicht wirklich. Heute war in der Schule der Teufel los und alle Schüler aus der ersten Klasse mussten es ausbaden.“ Auf das fragende Gesicht seiner Mutter erzählte Takeo, was ihm und seinen Mitschülern widerfahren war. Je weiter er in seiner Erzählung voranschritt, umso breiter wurde das Grinsen seiner Mutter, die schließlich in lautes Gelächter ausbrach. „Ja, sehr komisch“, meinte Takeo. „Ich habe auch furchtbar gelacht, als diese ganze wild gewordene Meute auf uns zustürmte.“ „Sorry“, gluckste Aya, „aber es ist schön, dass solche Bräuche nicht aussterben.“ „Wieso?“ „Auf der Schule, auf die ich früher gegangen bin, wurde zur Begrüßung ein Schulfest veranstaltet. Das Fest hatte natürlich nur eine Alibifunktion, um die Jungs und Mädchen aus der ersten Klasse angemessen zu begrüßen. Nur mit ihnen wurde ein spezielles Spiel gespielt. Es hingen Luftballons an einer Schnur und die Schüler mussten mit verbundenen Augen einen der Ballons zum Platzen bringen, indem sie ihn mit einem Nagelbrett zerstörten. Ihnen wurde erzählt, dass sich in jedem Ballon ein Zettel befand, auf dem stand, was für einen Preis sie gewonnen hätten. In Wirklichkeit war der Ballon mit Erdbeersirup gefüllt.“ „Na toll“, meinte Takeo, „da weiß ich echt nicht, welche Begrüßungsvariante ich lieber wählen sollte. Und, hast du ordentlich Preise abgesahnt?“ „Nun ja, ich habe gleich die doppelte Dusche erwischt. Als der Sirup aus dem ersten zerstörten Ballon auf mich fiel habe ich mich so erschrocken, dass ich einen zweiten Ballon kaputt gemacht habe.“ „Dann hat es sich ja wenigstens gelohnt.“ Neugierig linste der Junge auf den Bildschirm des Laptops, vor dem seine Mutter gerade saß. „Was für eine Geschichte ist denn heute an der Reihe?“ „Eine Liebesgeschichte über einen Mann und eine Frau, die Tausende von Kilometer entfernt wohnen und sich ineinander verliebt haben. Und sie würden sich so gerne treffen, haben aber nicht das Geld, um die weite Reise zu unternehmen. Deshalb kann es nur beim Kontakt über den Computer bleiben.“ „Irgendwie ein bisschen traurig, oder? Und da besteht keine Chance, dass sie sich mal sehen? Was ist das denn für ein Ende für eine Geschichte?“ „Nicht alle Geschichten haben ein Happy End“, meinte Aya. „Ganz besonders nicht für Erstklässler. Ich gehe mal nach oben.“ Mit diesen Worten verließ Takeo den Raum und ging die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Er legte sich auf sein Bett und ließ den heutigen Vormittag noch einmal Revue passieren. Mitten in seinen Gedanken schreckte ihn das Klopfen an seiner Zimmertür auf. Kiru betrat nach Aufforderung das Zimmer. „Gut, dass Sie kommen“, meinte Takeo. „Haben Sie schon irgendwelche Erkenntnisse über den unbekannten Jungen?“ „Nein, leider noch nicht. Aber ich rechne jeden Tag mit Informationen über ihn. Lange kann es also nicht mehr dauern, bis wir herausgefunden haben, wer er ist.“ „Gut, allmählich wird er nämlich wirklich lästig.“ Kiru nickte und erkundigte sich dann, weshalb Takeo schon so früh von der Schule zurück war. „Heute fand in der Schule ein merkwürdiges Ritual statt“, begann der Teenager und wurde von dem Majordomus unterbrochen. „Ach ja, das Ritual. Das fand also heute statt? Dann ist es klar, dass du jetzt schon zu Hause bist.“ Takeo blieb der Mund offen stehen. „Soll das etwa heißen, Sie wissen von dem Ritual?“ „Selbstverständlich. Ich kenne das Prozedere, das alle Schüler, die neu an die Carlton Jouchi Daigaku kommen, durchlaufen müssen. Dem entgeht keiner. Nur dass es heute stattfinden würde, davon hatte ich keine Ahnung.“ „Das ist ja wunderbar. Fehlt eigentlich nur noch, dass meine Eltern auch Bescheid wussten.“ „Oh, das haben sie. Wir haben uns sehr gründlich über diese Schule informiert. Es warten noch einige Überraschungen auf dich, aber keine wird so unangenehm werden wie die heutige.“ „Super. Ich bin wieder der letzte, der von allem erfährt“, beschwerte sich Takeo. „Sonst hätte das ganze ja auch wenig Sinn, oder? Wenn du es vorher gewusst hättest, hättest du doch nur halb so viel Spaß gehabt“, grinste der Majordomus. „Was manche Leute unter Spaß verstehen, ist irgendwie erschreckend“, konterte der Junge. „Als kleine Wiedergutmachung werde ich heute abend zum Dessert Vanillepudding zubereiten lassen“, versprach Kiru. „Danke. Das versöhnt mich etwas, auch wenn ich noch ein paar Stunden warten muss.“ Als sein Freund aus seinem Zimmer wieder verschwunden war, legte Takeo den Kopf wieder auf das Kissen und dachte voller Vorfreude daran, dass er morgen Chizuru wiedersehen würde. *****
„Wir sind da“, jubelte Tetsuya, als sie den Trödelladen erreicht hatten. „Hurra“, bemerkte sein Bruder trocken. „Hast du genug Geld dabei?“ „Wieso ich? Du willst doch irgendwelches Zeug aus diesem Laden haben. Also darfst du es auch bezahlen.“ Tetsuya legte den Arm um Makotos Schultern. „Sei doch nicht immer so griesgrämig. Kein Wunder, dass die Leute Angst vor dir haben, wenn du immer so guckst, als hättest du gerade einen Löffel Tabasco geschluckt.“ Ohne eine Antwort abzuwarten öffnete Tetsuya die Tür zum Laden. Zum zweiten Mal traten die Zwillinge in den dämmerigen Verkaufsraum, in dem sich die Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen mussten. Dann aber wurden die ganzen Schätze aus der Vergangenheit erkennbar. Alte Bücher, alte Kleidung, alte Gegenstände wie Lampen, Waffen und Möbel waren in dem Verkaufsraum, der sich nach links und rechts erstreckte. Gegenüber der Eingangstür befand sich ein Tresen, auf dem eine Kasse stand und ein paar Flyer lagen. Schnurstracks wanderte Tetsuya auf einen Holztisch zu, dem man sein Alter schon aus ein paar Metern Entfernung ansah. Die Beine waren ziemlich dick und an den beiden Längsseiten befand sich unter der Tischplatte eine Schublade, die man an einem Knauf herausziehen konnte. „Guck mal“, wies Tetsuya seinen Bruder auf die Entdeckung hin. „Faszinierend“, antwortete Makoto lustlos. „Was willst du denn mit so einem Teil?“ „Man könnte dich zum Beispiel in die Schublade stecken, wenn du einem auf den Keks gehst. Zeig doch mal ein bisschen Begeisterung.“ „Für einen Tisch, den wir sowieso nicht in unsere Wohnung stellen können, weil diese viel zu klein ist?“ „Für die ganzen Dinge, die hier stehen. Das sind Antiquitäten und Nostalgiestücke.“ „Klar, alles Zeug, bei dem ihre Besitzer nicht mehr wissen wohin damit, wird Nostalgie genannt. Schon klar.“ „Ach, da sind ja meine neuen Stammkunden.“ Der Besitzer des Trödelladens war erschienen. Es war ein alter Mann mit weißem Haar und einem dichten weißen Bart. „Interessieren Sie sich für diesen Tisch?“ Makoto zeigte auf seinen Bruder. „Er interessiert sich. Mir reicht der Tisch, den wir bereits in unserer Wohnung stehen haben.“ „Mein Bruder mag keine Antiquitäten. Deswegen wird er nach seinem Tod auch verbuddelt und darf nicht ausgestopft in einem Zimmer weiterleben“, meinte Tetsuya. Der Händler lachte. „Warte mal, ich glaube, ich habe da noch etwas für Sie.“ Er ging hinter seinen Tresen und verschwand durch einen Vorhang in den hinteren Bereich des Ladens, der für die Kunden nicht einsehbar war. In einem großen Raum lag allerlei altes Zeug herum, für das im Laden kein Platz mehr vorhanden war. Der alte Mann drehte sich um, als erwartete er, dass die Zwillinge ihm folgten. Dann ging er mit raschen Schritten zu einem dunkelroten Telefon, das auf einem kleinen Tischchen stand und ebenfalls bereits viele Jahre auf dem Buckel hatte, was man schon daran merkte, dass der Apparat nicht mit Zifferntasten sondern mit einer Wählscheibe ausgestattet war. Der Händler zog einen Zettel unter dem Telefon hervor, nahm den Hörer von der Gabel und wählte die Nummer. Nachdem vier Mal das Freizeichen ertönt war, wurde der Hörer am anderen Ende abgenommen und eine Männerstimme meldete sich mit dem Wort: „Ja?“ „Ja, hier Antiquitäten Stevens. Sie sind wieder da. Sie wissen schon, die beiden Jungen, von denen ich Ihnen erzählt habe.“ „Sehr gut“, sagte die Stimme. „Halten sie sie auf. Erzählen Sie ihnen irgendetwas. Beschäftigen Sie die beiden. Ich schicke sofort jemanden los. Die Jungs dürfen den Laden nicht verlassen, bevor mein Mann bei Ihnen eingetroffen ist. Kriegen Sie das hin?“ „Ja, das müsste ich schaffen“, antwortete der Händler. „Beeilen Sie sich.“ Dann legte er den Hörer auf die Gabel, schnappte sich einen etwa 90 Zentimeter hohen Spiegel und bugsierte ihn durch den Vorhang in den Verkaufsraum. Neugierig kamen die Zwillinge näher. Makoto stellte sich vor den Spiegel und meinte sarkastisch: „Wow, ich kann mich selbst sehen.“ „Geh mal weg. Zwei von deiner Sorte sind ja nicht auszuhalten“, meinte Tetsuya und schubste seinen Bruder zur Seite. „Das ist ein sehr schönes Stück. Gucken Sie sich nur den Rahmen an.“ Der Rahmen des Spiegels bestand aus Messing und hatte allerlei schnörkelartige Verzierungen, die jedoch nicht aufgemalt waren sondern aus dem Rahmen hervortraten. Makoto fasste den Spiegel an beiden Seiten und versuchte ihn anzuheben. „Meine Güte, da sollten wir uns besser ein Klavier in die Wohnung stellen, das ist leichter.“ Zwischen den beiden Schülern entstand eine lebhafte Diskussion, warum diverse Stücke aus dem Laden ungeeignet für ihre Wohnung seien, obwohl einer der Zwillinge genau die gegenteilige Meinung vertrat. Der Händler stand daneben und hörte ihrem Streitgespräch zu, ohne ein Wort zu sagen. Warum hätte er sich auch einmischen sollen? Für ihn war es günstig, dass die Jungen sich durch die Streiterei noch ein wenig länger im Laden aufhielten, denn auf diese Art brauchte er selber gar nichts zu tun. Auf der anderen Seite bestand die Gefahr, dass der Streit eskalierte und die beiden Twens plötzlich das Geschäft verließen. „Gut, ich sehe also, dass dieser Spiegel nicht den Anklang von Ihnen beiden findet. Immerhin ist er ja auch ziemlich schwer, so dass Sie einige Mühen haben würden, um ihn in Ihre Wohnung zu schleppen. Und liefern kann ich Ihnen das Stück leider nicht.“ „Macht nichts, wir nehmen ihn sowieso nicht.“ „Dafür nehmen wir aber dann etwas anderes.“ Makoto zog seinen Bruder außer Hörweite des Verkäufers und zischte ihm zu: „Warum willst du unbedingt etwas von diesem Plunder hier kaufen?“ „Weil dieser Plunder total cool ist. Und ein paar Figuren und anderer Kleinkram passt noch locker bei uns rein.“ „Es ist unsere gemeinsame Wohnung. Und uns beiden muss es dort drin gefallen.“ „Klar, weiß ich doch. Okay, Makoto, schließen wir einen Kompromiss. Ich darf mir ein einziges kleines Stück von hier mitnehmen und den bewahre ich in meinem Bereich auf. Einverstanden?“ Makoto atmete tief. Für ihn war das kein Kompromiss, aber das Beste war wohl, wenn er nachgab. Dann kam er wenigstens schnell aus diesem Laden heraus. Er sehnte sich nach ein bisschen Erholung, immerhin hatte er heute schon genug erdulden müssen. Erst wurde er von seinem Bruder eingeseift, dann hatte er sich mit ihm einen heftigen Fight geliefert und nun musste er auch noch in diesem düsteren Geschäft herumhängen. „Na gut, ich gebe dir noch fünf Minuten, um dir etwas auszusuchen. Nach fünf Minuten bin ich verschwunden und gehe schon mal nach Hause. Du kannst dich ja danach hier noch umsehen, wenn du möchtest, aber das machst du dann bitte ohne mich.“ „Alles klar, länger als fünf Minuten brauche ich bestimmt nicht.“ Schließlich entschied sich Tetsuya für einen kleinen Elefanten aus Mahagoniholz. Das Tier gefiel sogar Makoto, deshalb rümpfte er auch nicht die Nase, als sein Bruder die Geldbörse zückte, um das Tier zu bezahlen. Der Händler allerdings wurde innerlich zunehmend unruhiger, denn allzu lange würde er die Jungs nicht mehr in seinem Laden halten können. Es wurde höchste Zeit, dass sein Telefongesprächspartner hier anrückte. *****
Haruka hatte nach der Aktion in der Schule mächtigen Hunger gehabt. Zu ihrem großen Appetit trug wahrscheinlich auch das Lob bei, das sie im Umkleideraum bekommen hatte. Insgesamt drei Mädchen hatten sich positiv über ihren Einsatz beim Ritual geäußert und eines von ihnen war eine Schülerin aus der fünften Klasse, die Haruka noch nie gesehen hatte. Überglücklich hatte die schüchterne zwanzigjährige beschlossen, den Rest des Tages in der Stadt zu verbringen. Es wäre ihr sehr recht gewesen, wenn Kazuki sie begleitet hätte, aber er hatte bereits andere Termine. So stiefelte sie alleine los, schlenderte durch die Stadt und genehmigte sich ein leckeres Mittagessen in einem chinesischen Schnellimbiss. Während sie ihre mit Käse überbackenen Schinkennudeln aß, erinnerte sie sich daran, dass sie Kazuki versprochen hatte, mit ihm gemeinsam zu kochen. Das Vorhaben konnte man in der Weihnachtszeit gut in die Tat umsetzen. In Gedanken ging alle Gerichte durch, die sie zubereiten konnte und traf die Entscheidung, dass es ein einfaches, leckeres Essen sein sollte, dass nicht viel Vorbereitungs- und Kochzeit erforderte. Immerhin wollte sie ja Kazuki ein wenig in die Kunst der Essenszubereitung einweihen und da war es klug, sich etwas auszusuchen, dass unkompliziert war und bei dem man am Ende den Eindruck bekam, dass man etwas tolles geschaffen hatte. Kazuki war ein schlauer Junge und lernte bestimmt schnell. Und es würde das erste Mal sein, dass sie richtig ungestört waren. Natürlich würde sich Haruka für die Kochaktion einen Tag aussuchen, an dem ihre Eltern nicht zu Hause waren. Wenn sie daran dachte, dass sie mit Kazuki alleine sein würde, schlug ihr Herz schneller. Sicher unternahmen sie gemeinsam etwas, aber auch da waren sie nie wirklich alleine. Immer gab es andere Menschen auf der Straße oder in Geschäften oder auch in Parks. Das Treffen mit Kazuki würde einen weiteren Schritt in eine neue Erfahrung darstellen, denn bisher hatte Haruka noch nie eine einzelne Person zu sich eingeladen, geschweige denn einen Jungen. Sie nahm sich vor, sich die größte Mühe zu geben und nicht alles zu vermasseln. Wenn Kazuki ihr durch irgendeinen Umstand, den sie ihres mangelnden Selbstvertrauens wegen zu verantworten hatte, die Freundschaft kündigen würde, dann wäre das eine Katastrophe. Sie mochte ihn wahnsinnig gerne und mittlerweile fiel es ihr schwer sich vorzustellen, wie sie ohne ihn zurecht gekommen war. Vor dem späteren Treffen mit Nobu hatte sie überhaupt keine Angst. Der heutige Tag war einfach großartig. Er wäre nicht einmal ein Viertel so toll gewesen, wenn ihr Freund sie nicht überredet hätte, an dem Ritual teilzunehmen. Ihre Entscheidung über ihren Schatten zu springen hatte alles andere nach sich gezogen. Schon lange hatte sie nicht mehr so unbeschwerte Stunden erlebt. Sie wünschte sich, dass Kazuki hier wäre, um dieses Glück mit ihr zu teilen. Die Zeit verging viel zu schnell und ehe sie sich versah, musste sie auch schon den Weg zum Parkplatz des Einkaufszentrums antreten, wenn sie nicht zu spät kommen wollte. Erwartungsvoll betrat sie die Stelle, an der sie sich immer mit Nobu traf, aber der Junge war nicht da. Nur zwei andere Jugendliche standen einige Meter von ihr entfernt. Haruka tröstete sich damit, dass noch ein paar Minuten bis zur festgesetzten Zeit fehlten und ihr Mentor sicher gleich eintreffen würde. Sie wanderte ein bisschen auf dem Parkplatz herum, wobei sie sich immer in sicherer Entfernung der beiden noch anwesenden Besucher hielt, und schaute ab und zu zur Einfahrt, durch die man den Parkplatz betreten musste. Um das Einkaufszentrum herum laufen wollte sie nicht, denn das Gebäude war sowieso leer. Durch die Fenster war außer einer riesigen kahlen Fläche und einer Rolltreppe nichts zu sehen. Noch nicht einmal die leeren Regale hatte man im Inneren stehen lassen. Außerdem hätte sie Nobu nicht sehen können, wenn er erschienen wäre. Unruhig registrierte sie, wie die beiden Teenager auf sie zu kamen. Was wollten die von ihr? Sie überlegte, ob sie weglaufen sollte, doch die Abwägung des Für und Wider kostete sie so viel Zeit, dass es für eine Flucht bereits zu spät war, als die Jungs vor ihr standen. „Entschuldigung“, sagte einer der beiden und wedelte mit einer Zigarette, die er zwischen seinen Fingern hielt. „Hast du vielleicht Feuer?“ Der Jugendliche, der sie angesprochen hatte, trug eine weiße Lederjacke, die glitzerte, wenn sie ins Licht gelangte. Sein Freund hatte einen Cowboyhut auf dem Kopf und war mit einem roten Hemd und einem blauen Jeansanzug bekleidet. Haruka schüttelte den Kopf. „Wenn man zu doof zum Rauchen ist, sollte man es besser gleich ganz lassen“, meinte der Hutträger. „Hey, man kann doch wohl mal sein Feuerzeug vergessen.“ „Klar, wozu braucht man als Raucher auch Feuer? Ist doch auch ganz normal, wenn Polizisten ihre Dienstwaffe vergessen“, sagte sein Freund sarkastisch. Grummelnd steckte der nikotinsüchtige Junge die Zigarette in die Tasche seiner Lederjacke. „Wartest du auch auf jemanden?“ Haruka nickte und schaute entschlossen durch die Lücke der kleinen Mauer, die das Gelände umfasste, auf die Straße. Aber die offensichtliche Ignorierung störte den Teenager im Jeansanzug überhaupt nicht. „Wir auch. Wir wollen uns hier mit einer Freundin treffen. Wer weiß, wo die wieder steckt.“ Die beiden Jungs redeten unaufhörlich auf Haruka ein. Vielleicht wollten sie nur die Wartezeit mit einem Gespräch ausfüllen. Doch Haruka fühlte sich durch das Gequassel der beiden einfach nur genervt. Mittlerweile war Nobu bereits eine Viertelstunde überfällig und das Mädchen zückte ihr Handy, um ihn anzurufen. Nachdem es einige Male geklingelt hatte und sich die Mailbox einschaltete, legte Haruka wieder auf. Und immer noch redeten die beiden wie ein Wasserfall auf sie ein. Sie wusste nicht, wie die Jungs reagieren würden, wenn sie ihnen klar machte, dass sie ihre Quatscherei nicht ertragen konnte. Eventuell weckte sie dadurch den Zorn der beiden. Also beschloss sie, einfach gar nichts zu sagen, hin und wieder zu nicken und zu lächeln, auf ihr gestellte Fragen möglichst knappe Antworten zu geben und darauf zu warten, dass Nobu endlich auftauchte. Bis heute hatte er sich bei einem Treffen noch nie verspätet. Vielleicht war ihm unterwegs etwas passiert, er war von einem Hund gebissen worden oder hatte sich sonstwie verletzt und kam gar nicht, sondern war unterwegs ins Krankenhaus. Aber dann hätte er sie doch sicherlich angerufen. Ihre Handynummer hatte er und er würde sie garantiert nicht ohne Nachricht warten lassen. Nach weiteren zehn Minuten tauchte er endlich auf. Haruka sah ihn schon aus einiger Entfernung auf den Parkplatz zukommen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Es sah nicht so aus, als wenn er irgendwelche Verletzungen erlitten hatte. Bestimmt würde sie gleich den Grund für sein verspätetes Erscheinen erhalten. Nobu steuerte sofort auf sie zu und begrüßte sie: „Hallo, ich hoffe, dir ist die Wartezeit nicht zu lang geworden.“ „Nein, ist schon in Ordnung“, wiegelte sie ab. „Ich glaube, wir haben sie ganz schön genervt. Wir haben ohne Unterlass geredet, um sie bei Laune zu halten“, meinte der Junge mit der Lederjacke. „Stimmt das?“, fragte Nobu. „Gingen dir die beiden auf die Nerven?“ Haruka blickte zu Boden. „Ist schon in Ordnung“, meinte der Hutträger. „Du kannst ruhig die Wahrheit sagen. Immerhin hast du es ja ihm zu verdanken, dass du uns beide am Hals hattest.“ Und er deutete mit seinem Zeigefinger auf Nobu. Haruka schaute erst ihn an und dann zu ihrem Mentor. Sie war leicht verwirrt. „Ihr kennt ihn?“ „Klar“, sagte Nobu. „Diese ganze Aktion war doch kein Zufall. Ich bin absichtlich zu spät gekommen, damit dir die beiden Nasen hier die Ohren abkauen können.“ Langsam wurde Haruka sauer. „Jetzt sag schon. Wir nehmen es dir auch ganz bestimmt nicht übel. Du warst von uns angepisst, stimmt’s?“ „Leicht zu ertragen wart ihr wirklich nicht“, gab Haruka zu. Dann wandte sie sich an Nobu und sagte in wütendem Ton: „Und warum lässt du mich hier eine halbe Stunde stehen?“ „Damit du in genau diese Situation gerätst. Warum hast du nichts zu den beiden Labertaschen gesagt? Das hat sie doch nicht, oder?“ Die beiden Jugendlichen, denen die letzte Frage galt, schüttelten die Köpfe. „Das hat was mit Höflichkeit zu tun“, brummte Haruka. „Oh, du hättest ihnen auch höflich zu verstehen geben können, dass du deine Ruhe haben möchtest. Du hättest ihnen erzählen können, dass du Kopfschmerzen hast oder sonst was.“ Das Mädchen hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben. „Ähm, braucht ihr uns hier noch?“, erkundigte sich der Raucher. „Nein, ihr könnt euch wieder verziehen. Danke für eure Hilfe.“ Die beiden nickten und der Junge im Jeansanzug meinte zu Haruka: „Entschuldige, hoffentlich haben wir dir nicht den Tag versaut.“ Dann trollten sich beide vom Parkplatz. „Du hättest einfach weggehen können“, fing Nobu an und wich erschrocken zwei Schritte zurück, als sie anfing, ihn anzuschreien. Mittlerweile kochte sie und es war ihr total egal, was er von ihrem Wutausbruch hielt. „Ich dachte, dir wäre was passiert! Ich habe versucht, dich auf deinem Handy anzurufen, aber du bist nicht dran gegangen! Statt dessen lässt du mich eine halbe Stunde warten, nur weil es in deinen Plan passt, den du für mich vorgesehen hast!“ Nobu antwortete in ruhigem Tonfall: „Warum bist du nicht einfach gegangen? Warum lässt du es mit dir machen, dass man dich eine halbe Stunde warten lässt? Ist dir diese Zeit nicht wichtig? Dann zeigst du damit, dass du dir selbst nicht wichtig bist. Bei Verabredungen sollte man höchstens zehn Minuten warten und dann gehen. Wer dich so lange warten lässt, der zeigt dir, dass du ihm egal bist.“ Seine Ruhe machte sie noch wütender. „Fein, dann wird es dir auch nichts ausmachen, wenn ich jetzt gehe! Die zu absolvierende Übung habe ich ja schon hinter mir!“ Haruka drehte sich um und marschierte in Richtung Straße. Nach fünf Schritten hörte sie, wie er hinter ihr her rief: „Ich verlange nichts von dir.“ Sie wusste nicht, was er meinte, stoppte ihren Schritt, drehte sich um und blitzte ihn an. „Was?“ „Ich verlange nichts von dir. Keine Gegenleistung für das, was ich für dich tue. Glaubst du, ich wüsste mit meiner Zeit nichts besseres anzufangen, als alles hier zu organisieren und hierher zu kommen? Du hast schon einiges an Selbstvertrauen hinzugewonnen. Aber es fällt dir eben noch schwer, dies auch umzusetzen. Darauf werden wir uns in Zukunft stärker konzentrieren.“ „Ich weiß gar nicht, ob ich mich darauf konzentrieren will, wenn du mich weiterhin so verarschst.“ „Du kannst jederzeit aufhören. Ich halte dich nicht.“ „Warum machst du das eigentlich alles? Und dann noch, wie du sagst, ohne Gegenleistung? Was hast du davon?“ Nobu schaute sie an und seine Gesichtszüge veränderten sich. Von einer Sekunde auf die andere sah er sehr traurig aus. „Vielleicht werde ich es dir irgendwann erzählen, aber nicht jetzt. Geh nach Hause. Und es würde mich wirklich freuen, wenn du jetzt nicht aufgibst.“ Er drehte sich um und schlenderte langsam zum Einkaufszentrum hinüber. Auch Haruka setzte ihren Weg fort. Der Tag hatte so schön angefangen und jetzt war er durch diese blödsinnige Aktion getrübt worden. Sie war immer noch wütend, aber ihr Zorn ebbte langsam ab. In ihrer momentanen Laune war sie wirklich drauf und dran, alles hinzuwerfen. In der Schule würde sie noch einmal mit Nobu reden und erst dann würde klar werden, ob sie mit dem Training fortfahren würde. Wäre Haruka ihrem Mentor gefolgt, so hätte sie sehen können, wie er um das Einkaufszentrum herum ging, sich mit dem Rücken gegen ein Fenster lehnte und anfing zu weinen. Ein regelrechter Weinkrampf schüttelte ihn, er ließ seinen Körper zu Boden rutschen, schlug die Hände vors Gesicht und Tränenströme rasten seine Wangen hinunter. Erst nach einigen Minuten beruhigte er sich wieder, zog die Beine an und vergrub das Gesicht zwischen den Knien. *****
Der braunhaarige Mann im blauen Toyota war gefahren wie der Henker und hoffte, dass er nicht zu spät kommen würde. Einige rote Ampeln waren von ihm unterwegs überfahren worden, aber er hatte absolut keine Zeit, um darauf zu warten, dass die Lichtzeichenanlage auf grün wechselte. Mehrere Autos hatte er überholt und das wütende Hupen der Autofahrer auf sich gezogen, die aus der Gegenrichtung kamen, aber die sollten sich nicht so anstellen. Es kam nur auf den Standpunkt an, dann ließ sich alles rechtfertigen. Wenn das Kind von einem von ihnen entführt worden wäre und die Entführer ihnen ein bestimmtes Zeitlimit gesetzt hätten, um an einer bestimmten Stelle zu sein, anderenfalls würde ihr Kind umgebracht werden, dann wären sie vermutlich genauso gerast, hätten rote Ampeln passiert und es wäre ihnen absolut egal gewesen, ob sie andere Autofahrer mit ihrem Verhalten verärgert hätten. Sicher, die Situation, in der sich der Fahrer des Toyota befand, kam keiner Kindesentführung gleich, aber auch für ihn ging es um sehr viel. Er durfte einfach nicht zu spät kommen. Hoffentlich musste er nicht erst lange nach einem Parkplatz suchen, denn auch für so einen Quatsch hatte er keine Zeit. Notfalls würde er den Wagen eben im Halteverbot oder vor einer Ein- oder Ausfahrt abstellen. Sollte er doch abgeschleppt werden, es war ihm egal. Die Strafe dafür würde er locker bezahlen und auch dass mit der Auslösung des Autos eine weitere hohe Summe auf ihn zukam, berührte ihn nur am Rand. Für ihn war nur wichtig, so schnell wie möglich am Ziel zu sein. Eine Dummheit war schon begangen worden, aber man konnte den Schaden vielleicht noch abmildern. Der Mann war sich seiner Sache zu sicher gewesen und hatte vor fünf Tagen den Schreck seines Lebens bekommen. Er hatte alles unternommen, um die alte Ordnung wiederherzustellen, aber viel tun konnte er nicht. Im Grunde konnte er nur auf einen Glücksfall hoffen. Und dieses Glück war genau jetzt eingetreten. Er trat noch ein bisschen stärker aufs Gas und riskierte es, wegen enormer Geschwindigkeitsüberschreitung von der Polizei angehalten zu werden, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Doch auch in diesem Punkt war das Glück mit ihm, denn weit und breit tauchte keine Streife auf, die ihn zur Ordnung hätte rufen können. Auch geblitzt wurde er nicht. Und was die Parkplatzsuche anging, so lief auch hier alles glatt. Fast genau gegenüber von seinem Ziel war eine große Parklücke, in die er den Toyota mühsam steuern konnte. Er brauchte noch nicht einmal seinen Stand zu korrigieren. Dies schien sein Tag zu sein, doch das würde sich erst herausstellen, wenn die wichtigste Voraussetzung erfüllt war. Rasch ging er zum Trödelladen hinüber und öffnete die Tür. Schummriges Dämmerlicht empfing ihn. Hinter dem Tresen stand der alte Verkäufer und davor hielten sich zwei Jungen auf, die eine dunkle Schuluniform trugen und offenbar gerade einen Einkauf getätigt hatten. Innerlich atmete der Mann erleichtert auf. Er war also doch noch rechtzeitig gekommen, aber wohl gerade eben so. Wäre er eine halbe Minute später hier erschienen, so wäre seine rasante Fahrt für die Katz gewesen. Insofern war es doch gut, dass er auf die Tube gedrückt hatte. „Auf Wiedersehen“, verabschiedete sich der Händler von den Jungen. „Und wenn ihr wieder etwas braucht, dann kommt einfach vorbei. Ich kriege täglich neue Ware. Vielleicht ist ja etwas für euch dabei.“ „Dann komme ich aber ohne meinen Bruder. Das ist sicherer“, sagte einer der Schüler. Dann verließen sie den Laden. Der Mann mit dem braunen Haar beugte sich zum Händler vor und fragte: „Waren Sie das?“ Der Händler nickte. „Sind Sie absolut sicher?“ „Ohne jeden Zweifel. Ich hatte richtig Mühe, sie so abzulenken, dass sie die ganze Zeit im Laden geblieben sind. Sie sind wirklich in letzter Sekunde erschienen.“ „Ist schon gut. Vielen Dank.“ Der Mann legte dem Händler zwei Banknoten zu je fünfzig Dollar auf den Tresen, dann verließ auch er den Laden wieder. Der Rest war nur noch reine Routinearbeit. Er sah in ein paar Metern Entfernung die beiden Jungen vor sich und folgte ihnen. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die Hälfte der Arbeit war so gut wie erledigt. Zum Glück konnte man den Schaden, der entstanden war, wieder beheben. Und das war das wichtigste. Kommentare zu "Das Ritual" |