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Kommentare zu "Ausgeschaltet"

Es war ein angenehm milder Herbsttag. Kaum ein Windstoß war zu spüren, so dass die Wärme der Sonne ungehindert zum Wohlgefühl der Menschen beitragen konnte.

An diesem Freitagmorgen war Chiyo Taoka bester Laune. Heute war der große Tag endlich gekommen. Heute abend würde sie wie zufällig Takeo über den Weg laufen, der vergebens auf das Mädchen warten würde, mit dem er sich eigentlich verabredet hatte. Das war die ideale Gelegenheit, um den Jungen davon zu überzeugen, dass sie mit Leichtigkeit an diese nichtsnutzige Chizuru heranreichen, sie sogar noch übertreffen konnte. Sobald sie Takeo erst einmal um den Finger gewickelt hatte, würde er seine Klassenkameradin ganz schnell zu den Akten, die sich ganz hinten im Regal befanden, legen. Die einzige Hürde war nur noch, dass sie Takeo zunächst von sich überzeugen musste. Und das konnte ziemlich schwierig werden, wie sie im Schülercafé schon festgestellt hatte. Aber ihr würde schon etwas einfallen. Nicht umsonst hatte sie schließlich bereits Dutzende von Jungs für sich einnehmen können. Da dürfte es doch ein Klacks sein, mit einem lächerlichen Erstklässler fertig zu werden.

Chiyo befand sich auf dem Weg zur Carlton Jouchi Daigaku. Normalerweise hätte sie die Straße weiter geradeaus laufen müssen, um zu ihrem Ziel zu gelangen, doch sie bog plötzlich nach rechts in eine Seitenstraße ein. Nach ein paar Metern folgte sie einer Straße, die nach links abzweigte. Alles das war notwendig, damit ihr Plan funktionierte.

Vor einem roten Haus stand ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren, die ungefähr in Chiyos Alter war und ihr schon von weitem zuwinkte.

„Guten Morgen“, grüßte Chiyo, stellte ihre Schultasche auf den Boden und öffnete sie.

„Hallo. Hast du es dabei?“, erkundigte sich das Mädchen.

Chiyo blickte mit ernstem Gesicht zu ihr empor. „Das ist eine total überflüssige Frage.“ Sie stemmte sich wieder in die Höhe und reichte dem Mädchen eine kleine durchsichtige Tüte, die sie aus ihrer Schultasche genommen hatte.

„Hier. Das ist das Salamibrot. Du weißt ja, wofür es bestimmt ist.“

Das Mädchen verzog angeekelt das Gesicht und nahm die Tüte in die Hand. „Wie kann man nur Salami essen? Wie kann man überhaupt Fleisch essen? Das ist doch total widerlich.“

„Stelle dir mal vor, alle Leute wären Vegetarier. Dann wären tausende Menschen arbeitslos. Viehzüchter, Metzger, Fleischbeschauer im Veterinäramt und noch viel mehr. Und du wärst dann mit dafür verantwortlich. Macht dich das glücklich?“

„Das sind alles nur lahme Ausreden“, antwortete das Mädchen. Dann legte es die Stirn in Falten und fragte Chiyo: „Sag mal, woher weißt du eigentlich, dass das Mädchen, der ich das Brot geben soll, Salami mag? Ich denke, du kannst sie nicht leiden und willst nichts mit ihr zu tun haben?“

Chiyo lächelte hinterhältig. „Weißt du, Mai, man muss seine Feinde kennen, um sie bekämpfen zu können. Je mehr man über sie herausfindet, umso gründlicher kann man gegen sie vorgehen. Und es gibt garantiert weitaus schwerere Brocken, als zu ergründen, was jemand gerne isst und was nicht.“

Mai zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst.“

„Also, du weißt, was du zu tun hast. Ich habe dir gesagt, wo sie vor der ersten großen Pause Unterricht hat. Du musst dort sein, bevor die Pause beginnt und ihr das Brot geben. Weißt du schon, wie du das anstellst?“

„Jep, ich habe gestern lange überlegt und mir ist etwas eingefallen.“

„Sehr gut“, lobte Chiyo. „Und sie kennt dich nicht. Sie weiß nicht, dass wir beide Freundinnen sind. Das muss auch so bleiben.“

„Keine Sorge, kannst dich ganz auf mich verlassen. Das klappt schon alles.“

„Wunderbar, danke. Dann werde ich mich jetzt wieder auf den Weg machen. Es ist besser, wenn wir zwei nicht zusammen an der Schule ankommen. Warte noch ein bisschen, bevor du mir folgst.“

Chiyo schloss ihre Schultasche, hob sie hoch und machte sich auf den Weg. Unterwegs triumphierte sie bereits innerlich. Wenn sich Mai nicht zu dusselig anstellte, dann konnte überhaupt nichts verkehrt laufen und sie würde aus dem Duell als Siegerin hervorgehen. Chizuru würde zwar in die Röhre gucken, aber als Entschädigung dafür würde ihr Tag wenigstens ein ganz besonderes Erlebnis für sie werden.

*****

Es war wirklich unglaublich, wie toll dieser Tag angefangen hatte. Schon direkt nachdem er aufgewacht war, war Takeo eingefallen, dass er heute nach der Schule etwas mit Chizuru unternehmen würde und das hatte maßgeblich zu seiner unglaublich guten Laune beigetragen. Vergnügt vor sich hin summend hatte er seine Schuluniform angezogen und war zum Frühstück gegangen, das den nächsten Höhepunkt des Morgens darstellte. Zum ersten Mal nach dem Umzug hatte er Himbeercornflakes auf dem Frühstückstisch vorgefunden. Nichts aß der Teenager morgens lieber. Auf sein begeistertes Nachfragen erklärten seine Eltern ihm, dass Hiru diese in der Stadt besorgt hatte, er aber nicht dazu aufgefordert worden war. Takeo war durchaus der Meinung, dass diese Aktion eine saftige Gehaltserhöhung rechtfertigte.

Auf der Fahrt zur Schule unterhielt sich der Junge munter mit seinem Chauffeur über Baseball. Wie gewöhnlich parkte der Chauffeur in einer Seitenstraße, da es Takeo weiterhin unangenehm war, wenn seine Mitschüler sahen, wie er mit so einem dicken Schlitten vor der Schule vorfuhr. Nach dem ersten Schultag, an dem ihn seine Mutter direkt vor dem Schultor abgesetzt hatte, hatte Takeo mit dem Fahrer ausgemacht, dass dieser den Wagen in Zukunft einige Meter vor der Schule in einer Nebenstraße anhielt. Takeo lief dann den Rest zu Fuß. Er wusste, dass diese Eigenmächtigkeit seinem Chauffeur den Job kosten konnte, denn laut Vereinbarung seiner Eltern musste der Fahrer bis vor das Schultor fahren. Aber Takeo konnte sehr überzeugend sein und sollten seine Eltern trotzdem einmal davon erfahren, dann würde er mit allen Mitteln dafür sorgen, dass der Chauffeur den Job behielt. Schließlich trug nur er allein die Schuld daran, dass sich ihr Bediensteter über eine Abmachung hinwegsetzte.

Takeo stieg aus dem Wagen, beugte sich noch einmal hinein und sagte: „Nach Schulschluss habe ich noch eine Verabredung. Ich rufe an und sage Bescheid, wann ich abgeholt werden möchte.“

Der Chauffeur nickte, wünschte Takeo einen angenehmen Schultag – worauf dieser erwiderte, dass heute wohl der bisher beste Schultag an dieser Schule werden würde – und fuhr los.

Als der Schüler durch das Eisentor der Carlton Jouchi Daigaku trat und sich auf dem Schulhof umsah, erhielt seine gute Laune einen kleinen Dämpfer. In einigen Metern Entfernung erkannte er den unbekannten Jungen, mit dem er in den letzten Tagen schon mehrfach zu tun gehabt hatte. Momentan unterhielt sich dieser mit einem anderen Schüler, den Takeo nicht kannte. Der Teenager entschloss sich, den Geheimniskrämer diesmal zur Rede zu stellen. Heute würde er nicht so einfach davon kommen.

„Takeo“, hörte er eine Stimme hinter sich, drehte sich um und sah Tanaka, einen seiner Mitschüler, auf sich zu rennen. Keuchend kam dieser vor dem Jungen zum Stehen, schnappte zweimal nach Luft und sagte dann hektisch: „Kannst du mir zehn Dollar wechseln?“

„Ganz bestimmt“, antwortete Takeo, kramte in seiner Hosentasche und zog eine Handvoll Scheine und Münzen hervor. Er zählte zehn Dollar ab, drückte sie Tanaka in die Hand und stopfte den Rest wieder zurück in die Tasche. Froh hielt sein Mitschüler ihm die Banknote entgegen und sauste mit einem „Vielen Dank“ wieder davon, nachdem Takeo den Geldschein entgegen genommen hatte.

Wieder jemanden glücklich gemacht, dachte der Jugendliche, und jetzt kümmere ich mich um meinen speziellen Freund.

Er machte den ersten Schritt und erstarrte. Das durfte doch ganz einfach nicht wahr sein. Der schwarzhaarige Unbekannte war verschwunden. Offensichtlich hatte er sich verdrückt, als Takeo das Geld gewechselt hatte. So ein Mist! Hatte er Takeo erkannt und wollte verhindern, dass dieser mit ihm sprach und sich deshalb so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht? Nun gut, dachte Takeo wütend, dann werde ich mir eben seinen Gesprächspartner vorknöpfen. Denn der andere Junge stand noch seelenruhig dort, wo er auch vor zwei Minuten schon gestanden und sich unterhalten hatte. Ganz offensichtlich kannte er den Kerl, der Takeo partout nicht seinen Namen verraten wollte.

Der Erstklässler lenkte seine Schritte genau auf den Jungen zu, der älter war als er.

„Hallo. Ich bin Takeo“, sagte er, als er vor ihm zum Stehen kam.

Der andere Schüler musterte ihn von oben bis unten. „Ja, das ist nicht zu übersehen“, meinte er dann.

Takeo lächelte matt und kam dann gleich zum Punkt. „Du hast dich gerade eben mit jemandem unterhalten. Kennst du ihn?“

Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust. „Wieso? Suchst du einen Go-Partner?“

„Nein“, schüttelte Takeo den Kopf, „aber der Kerl verfolgt mich und will mir absolut nicht seinen Namen verraten. Und da dachte ich, vielleicht kennst du seinen Namen, wenn er ihn mir schon nicht sagen will.“

„Er verfolgt dich?“, grinste der Junge spöttisch. „Also, wenn ich jemanden verfolgen würde, dann würde ich das heimlich machen. Und wenn du sagst, dass er dir nicht seinen Namen verraten will, dann musst du schon mal mit ihm gesprochen haben. Und dann kann von Heimlichkeit überhaupt keine Rede sein. Hörst du dir eigentlich selber mal zu? Das, was du da von dir gibst, klingt nicht sehr logisch.“

Takeo musste seinem Gegenüber insgeheim Recht geben.

„Er macht es auch gar nicht heimlich, sondern ganz offen. Und ich wollte ihn zur Rede stellen, aber er verrät mir nicht, warum er mich verfolgt.“

„Vielleicht ist es auch genau umgekehrt. Vielleicht folgst du ihm auf Schritt und Tritt und willst aus irgendeinem bestimmten Grund seinen Namen herausfinden.“

Der Junge schob sein Gesicht neben Takeos Wange und flüsterte ihm ins Ohr: „Soll ich ein Date zwischen euch beiden ausmachen?“

Erschrocken fuhr der Teenager zurück, hatte sich aber eine Sekunde später wieder gefangen. Es hatte überhaupt keinen Zweck. Aus seinem Gegenüber würde er kein Wort herausbekommen.

„Weißt du was? Vergiss einfach, dass ich dich angesprochen habe“, sagte Takeo und ging davon.

„Das wird mir nicht schwer fallen“, hörte er den Jungen hinter sich. Für einen kurzen Augenblick verspürte Takeo Wut, doch dann beschloss er, sich von dieser Niederlage nicht den Tag verderben  zu lassen. Der Junge hatte ihm zwar nicht helfen wollen, aber es gab noch andere Mittel, mit denen er den Namen des geheimnisvollen Schülers herausbekommen konnte. Und dafür benötigte er nicht einmal die Hilfe von anderen Besuchern dieser Schule oder von Freunden des großen Unbekannten. Nein, die Methode, die Takeo nun bereit war, einzusetzen, war viel leichter, bequemer und zeitsparender für ihn, als alles, was er bisher unternommen hatte. Und der Junge beschloss, gleich heute abend von dieser Methode Gebrauch zu machen, denn sie befand sich in seiner unmittelbaren Umgebung.

*****

Für Ren gab es keinen Anlass, an diesem Schultag gut gelaunt zu sein. Nachts hatte der Schüler einen gar nicht so lustigen Alptraum gehabt, in dem er sich irgendwo in einer Wüste verirrt hatte. Natürlich war kein Wasser in seinen Vorräten gewesen und zu allem Überfluss war dann noch ein Löwe aufgetaucht, der ihn gejagt hatte. Ren war vollkommen klar, dass es in der Wüste keine Löwen geben konnte, aber sein Traum hatte davon offensichtlich noch nie etwas gehört. Auf jeden Fall war der Junge schweißgebadet aufgewacht, als sich das Raubtier gerade auf ihn stürzen wollte. Es war halb fünf morgens gewesen, aber Ren hatte partout nicht wieder einschlafen können und war dementsprechend übermüdet, als er sein Bett verlassen hatte.

Beim Frühstück hatte er den Kaffeebecher umgeworfen, natürlich in seine Richtung, so dass die Flüssigkeit seine Hose durchnässt hatte und er sich in Windeseile hatte umziehen müssen. Der Schnürsenkel war gerissen, als er sich die Schuhe zubinden wollte und dann hatte er sich noch die Stirn an einer offen stehenden Schranktür gestoßen. An manchen Tagen wäre es wirklich einfach besser, wenn man im Bett liegen bliebe.

Dementsprechend mies drauf war Ren auch auf seinem Weg zur Schule und er machte jeden zur Schnecke, der ihn mit was auch immer nervte.

In der ersten Stunde stand Japanisch bei Maya Ootome auf dem Stundenplan. Es war nicht gerade Rens Lieblingsfach, aber dennoch zu ertragen. Maya war eine strenge Lehrerin, doch sie war gerecht und verteilte Noten nicht mit dem Würfelbecher, wie es andere ihrer Kollegen taten. Wer bei ihr aufpasste, anständig mitarbeitete und in den Klausuren ein ordentliches Ergebnis ablieferte, der konnte auch sicher sein, eine faire Note zu erhalten. Auf der anderen Seite hatten natürlich die Schüler schlechte Karten, die sich im Unterricht regelmäßig zum Deppen machten, sei es durch Unaufmerksamkeit oder schlicht durch Faulheit. Beides ließ Maya in keiner Weise durchgehen. Und sie unterschied sofort Schüler, die wirklich nichts begriffen – denen versuchte sie auch, so gut es ging zu helfen – und Schüler, die einfach zu bequem waren, um sich zu Hause noch einmal hinzusetzen und für Arbeiten zu lernen oder Unterrichtsstoff nachzuarbeiten.

Nach diesem verkorksten Tagesanfang fiel es Ren ziemlich schwer, sich einigermaßen zu konzentrieren. Er hielt seine Hände unter den Tisch und bewegte die Finger, wobei er die Hände nach links und rechts wandern ließ. Sofort merkte der Junge, wie er sich entspannte.

Als er zwölf Jahre alt gewesen war und sich lauthals über einen erneuten Umzug beschwert hatte, hatten seine Eltern ihm ein Friedensangebot gemacht. Ren hatte sich ein Musikinstrument aussuchen dürfen, das er gerne lernen wollte. Es hatte keinerlei Einschränkungen gegeben. Natürlich hatte der Twen sehr lange überlegt, für welches Instrument er sich entscheiden sollte. Zuerst war ihm eine Gitarre in den Sinn gekommen, aber Gitarre spielten schon so viele Leute. Er kannte mindestens ein Dutzend Menschen aus seinem Freundes- und Verwandtenkreis, die Gitarre spielten. Als nächstes hatte er mit einem Schlagzeug geliebäugelt. Doch ein Schlagzeug war mehr zur Begleitung einer Band interessant. Also wurde auch diese Idee wieder verworfen.

Schließlich hatte sich Ren für ein Klavier entschieden. Seine Eltern hatten zuerst heftig geschluckt, als er seine Entscheidung vorgetragen hatte und es hatte sogar Bemühungen gegeben, ihn umzustimmen. Doch je heftiger seine Eltern versuchten, ihn auf ein anderes Instrument zu führen, umso sturer war er geworden. Schließlich hatten sie nachgegeben und ihm einen Musiklehrer gesucht, bei dem er Klavierunterricht erhalten hatte. Doch mit dem Unterricht alleine war es natürlich nicht getan. Ren hatte seine Eltern darauf hingewiesen, dass er regelmäßig üben musste und daher ein eigenes Klavier benötigte. Doch in diesem Fall hatte er bei seinen Eltern auf Granit gebissen. Sie waren nicht bereit gewesen, ihm ein Klavier zu finanzieren, zumal es abzusehen war, dass sie irgendwann wieder umziehen mussten und dann das Klavier unmöglich mitnehmen konnten. Also blieb nur eine Alternative, um sicherzustellen, dass ihr Sohn auch zwischen den Unterrichtsstunden an einem Klavier übte: sie suchten sich jemanden, bei dem sie ein Klavier für zwei Stunden am Tag mieten konnten. Das klappte auch in den Städten, in die sie danach zogen, sehr gut. Unterricht und Übungen waren gesichert.

Und wenn Ren sich, wie heute, im Unterricht langweilte oder es ihm schwer fiel, den Ausführungen der Lehrkraft zu folgen, dann spielte er unter dem Tisch an einem unsichtbaren Klavier ein paar Stücke. Dieses Prozedere half Ren, seine Fingerfertigkeit zu trainieren und sich die Tasten bildlich vorzustellen.

„Ich an Ihrer Stelle würde es einmal im Musikzimmer probieren. Dort steht bestimmt ein geeignetes Instrument, an dem Sie üben können, so dass Sie es nicht in der Luft tun müssen“, riss Ren plötzlich die Stimme seiner Japanischlehrerin aus den Gedanken. Der Junge wurde knallrot und legte augenblicklich die Hände flach auf den Tisch.

„Spielen Sie Klavier, Ren?“, erkundigte sich Maya und der angesprochene Junge nickte.

„Eine gute Fingerübung, aber trotzdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie wenigstens so tun, als würden Sie mir folgen. Kommen Sie doch bitte nach dem Unterricht zu mir nach vorne.“

Maya lächelte, als sie diese Worte aussprach, aber Ren war sich ziemlich sicher, dass Ihre Höflichkeit nur vorgeschoben war. Ihn würde eine saftige Strafarbeit erwarten, das war so sicher wie die Tatsache, dass jeden Morgen die Sonne aufging. Es konnte gar nicht anders sein, so wie der heutige Tag verlief. Offenbar hatte das Schicksal beschlossen, dass niemand anderer es verdient hatte, heute einen Nackenschlag nach dem anderen zu erhalten.

„Versuche sie irgendwie von einer Strafe abzubringen“, riet Toshibo ihm, der neben ihm saß. „Du bist sicher nicht geil darauf, eine Abhandlung darüber zu schreiben, wie man sich im Unterricht zu benehmen hat, oder?“

„Mann, du bist ja richtig scharfsinnig heute“, fauchte Ren ihn leise an. Für den Rest der Stunde erweckte er den Anschein, als wäre er aufmerksam, doch seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das, was ihn nach dem Pausenklingeln erwarten würde. Vielleicht hatte Maya bis zum Ende ihres Unterrichtes auch schon vergessen, dass sich Ren bei ihr melden sollte, aber diese Hoffnung konnte er gleich begraben.

Als das Klingeln die Stunde beendete, blieb Ren auf seinem Platz sitzen, während seine Mitschüler in die Pause stürmten. Maya bestand nicht darauf, dass er zu ihr kam. Sie schlenderte im Gegenteil sogar zu seinem Platz, setzte sich auf einen freien Tisch und blickte ihn an.

„Wie lange spielen Sie schon Klavier?“, erkundigte sie sich.

Ren hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Frage. Dementsprechend verdutzt war er auch, als er seine Antwort stammelte: „Seit … seit einigen … Jahren.“

„Also trauen Sie sich zu, schon ein paar ordentliche Stücke auf dem Klavier zu spielen?“

Der Junge nickte, traute dem Frieden allerdings nicht so recht. Was sollte dieses Interesse an seinem Klavierspiel? Das war bestimmt nur eine Taktik, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Das dicke Ende würde schon noch kommen.

„Sie hätten garantiert nichts dagegen, wenn ich Ihnen keine Strafarbeit verpasse.“

„Im Gegenteil, ich wäre todtraurig darüber“, antwortete der Schüler sarkastisch.

Maya lächelte sanft und sprach weiter. „Sie wissen sicherlich, dass wir Mitte Januar unser Winterfest haben. Wenn Sie mir hier und jetzt zusagen, auf dem Fest für eine Viertelstunde ein paar Stücke am Klavier zu spielen, dann kommen Sie um die Strafarbeit herum.“

Er starrte sie an, als hätte sie ihm vorgeschlagen, eine Partie Strip-Poker zu spielen.

„Das … das ist alles?“

Maya nickte. „Sie dürfen sich aussuchen, was Sie spielen möchten und haben viel Zeit, die Stücke zu üben. Nehmen Sie die Übungszeit als Strafarbeit.“

Ren war vollkommen verblüfft. Mit dieser Entwicklung der Dinge hatte er keinesfalls gerechnet.

„Alternativ schreiben Sie mir bitte zehn Seiten über …“, begann Maya, doch sie wurde von ihrem Gegenüber schnell unterbrochen.

„Nein, nein, natürlich werde ich auf dem Winterfest Klavier spielen. Wenn es sein muss, sogar eine halbe Stunde.“

„Sie meinen, für eine eventuell auftretende zweite Strafarbeit? Vergessen Sie es, noch einmal lasse ich Sie nicht so glimpflich davon kommen“, grinste seine Lehrerin. „Aber ich freue mich, dass Sie sich als Musikant zur Verfügung stellen. Und jetzt sollten Sie in die Pause gehen, bevor ich es mir noch anders überlege.“

„Vielen Dank, mache ich sofort“, antwortete Ren, schnappte sich seine Schultasche und verließ breit grinsend das Klassenzimmer. Offenbar lief heute doch nicht alles schief.

*****

Es war eine ausgesprochene Wohltat, wenn man morgens ein wenig länger schlafen konnte und erst zur dritten Stunde zum Schulunterricht zu erscheinen brauchte. Normalerweise hätte Isamu dies auch ausgenutzt, doch an diesem Tag war es nicht möglich, denn der Japanischlehrer hatte sich dazu entschlossen, die erste Stunde damit zu verbringen, im Lehrerzimmer noch ein paar Klausuren nachzusehen. Also war er wie gewohnt aufgestanden, hatte allerdings eine Viertelstunde länger als gewöhnlich gefrühstückt, so dass er auch eine Viertelstunde nach Unterrichtsbeginn in der Carlton Jouchi Daigaku eintraf. Das hatte den Vorteil, dass die meisten Schüler in ihren Klassenräumen saßen und keine Schar von Jungen und Mädchen sich auf dem Schulhof aufhielt. Daher konnte Isamu unbehelligt sein Ziel ansteuern.

Daheim ließ er sich zu sehr von anderen Dingen ablenken, so dass er die Alternative, in der Schule auch während der Freistunden zu arbeiten, sehr zu schätzen wusste. Niemand würde ihn stören und er konnte sich bis zur ersten großen Pause voll konzentriert den Arbeiten seiner Schüler widmen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete er die Tür. Gerade wollte er anfangen zu singen, doch er beherrschte sich noch rechtzeitig, als er erkannte, dass das Lehrerzimmer keineswegs unbesetzt war. Seine Kollegin Akira saß an dem langen braunen Tisch, der zwischen den Unterrichtsstunden immer voll mit Kollegen besetzt war, und war über einen Stapel Hefte gebeugt. Sie sah auf, als sie die Tür hörte.

„Guten Morgen.“

Isamu erwiderte den Gruß und fragte: „Was machst du denn hier?“

„Ich arbeite.“

„Das sind ja lauter neue Methoden an dieser Schule“, grinste der Lehrer und setzte sich ihr gegenüber.

„Meine Güte“, murmelte Akira, als ihr Kollege gerade die Klausurunterlagen seiner Schüler hervor geholt hatte.

„Was ist?“

„Wenn man zu dumm ist, um zu schummeln, dann soll man es doch bitte gleich lassen.“

Isamu zog die Augenbrauen hoch.

„Yogi hat von Akio abgeschrieben. Ich weiß zwar nicht, wie sie es gemacht hat, denn Akio sitzt zwei Reihen hinter ihr, aber irgend etwas ist den beiden schon eingefallen. Ihre Arbeiten sind Wort für Wort gleich.“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Natürlich hat Yogi versucht, es so aussehen zu lassen, als habe sie nicht betrogen. Und weißt du, wie sie das angestellt hat? Sie hat einfach an den unmöglichsten Stellen Satzzeichen eingefügt. Für so was sollte sie so lange mit einem nassen Lappen geohrfeigt werden, bis sie lacht.“

„Die beste Note in Dilettantismus ist ihr jedenfalls sicher.“

Akira zog einen roten Strich diagonal über zwei von Yogis Heftseiten, schrieb etwas darunter und schob es auf die Seite.

„Na, was für eine freudige Nachricht hast du ihr hinterlassen?“, wollte Isamu wissen.

„Das sie noch kräftig üben muss, wenn sie mich verarschen will.“

„Das hast du geschrieben?“, glotzte der Japanischlehrer sie fassungslos an.

„Na ja, vielleicht habe ich es nicht so harmlos ausgedrückt. Aber das ist ja wohl wirklich die Frechheit hoch zehn.“

„Hoffen wir mal, dass bei meinen Arbeiten nicht solche Intelligenzbestien dabei sind.“

„A propos Intelligenz“, sagte Akira und beugte sich vor, „wie steht es eigentlich mit dir und diesem Mädchen, das scharf auf dich ist?“

Isamu hatte gehofft, diesem unangenehmen Punkt entgehen zu können. Doch seit er das erste Mal mit seiner Kollegin über Kagura gesprochen hatte, kam Akira immer wieder auf dieses Thema zurück. Es war klar, dass sie ihm nur helfen wollte und Isamu hasste sich wegen seiner Inkonsequenz selber.

„Unverändert“, antwortete er. „Sie ist immer noch scharf auf mich. Letztens hat sie Bauchschmerzen vorgetäuscht und ihre Freundin dazu überredet, sie mit ins Krankenzimmer zu bringen, damit sie dort mit mir alleine sein konnte. Stell dir vor, jetzt zieht sie sogar schon andere Schüler mit rein.“

„Das war dann doch die ideale Gelegenheit, um ihr zu sagen, was Sache ist.“

Isamu schaute seine Kollegin nicht an, sondern vertiefte sich in eine Klausur, während er erklärte: „Ich habe ihr gesagt, dass es überhaupt keinen Sinn hat, wenn sie sich um mich bemüht. Ich habe ihr klar gemacht, dass nicht der Hauch einer Chance besteht.“

„Wirklich? Na, dann hoffen wir mal, dass du es ihr so eindringlich übermittelt hast, dass sie es endlich eingesehen hat und keine Anstrengungen mehr in diese Richtung unternimmt.“

Der Lehrer schwieg.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ein freundliches ‚Bitte, bitte, hör auf damit, mich anzuschmachten’ bei diesem Mädchen nichts bringt. Du musst es ihr bestimmt und mit solcher Überzeugung klar machen, dass sie denkt, sie wird bei Wasser und Brot für den Rest ihres Lebens eingekerkert, wenn sie damit nicht aufhört. Ansonsten kommt sie vielleicht auf die Idee, dass du nur Spaß machst und es gar nicht so richtig ernst meinst.“

Akira richtete ihren Blick in seine Augen und fuhr grimmig fort: „Du weißt ganz genau, dass du dich in Teufels Küche bringst. Du kannst deinen Job hier verlieren. Es kann ja sein, dass du nicht gerne hier arbeitest, aber dann wüsste ich Methoden, die Arbeitsstelle zu wechseln, ohne dass Dreck an meinem Ansehen zurück bleibt.“

„Nein, ich bin gerne an dieser Schule“, widersprach Isamu. „Aber ich will das Kagura auch nicht einfach so hinknallen.“

„Meine Güte“, polterte Akira los. „Nimmt sie etwa auf dich Rücksicht? So wie du es mir bisher erzählt hast, tut sie das nicht. Im Gegenteil, sie betrachtet alles als gar nicht so schlimm. Und das muss sie ja auch, wenn du sie mit Samthandschuhen anfasst. Mache ihr ein für allemal klar, dass zwischen euch nicht mehr ist als das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülerin. Und das auch niemals mehr sein wird. Bringe ihr das schonungslos bei, rüttele sie wach. Ansonsten wird das noch ewig so weitergehen und es wird von Tag zu Tag schlimmer werden. Stelle dir mal vor, sie schmachtet dich an und in dem Moment kommt ein anderer Schüler in die Klasse. Dann kannst du dich erst richtig beglückwünschen.“

Isamu wurde blass. An so ein Szenario hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Aber die Situation, vor der Akira ihn warnte, war durchaus denkbar. Es würde kein Tag vergehen, bevor die gesamte Schule Bescheid wüsste. Im besten Fall würde er an eine andere Lehranstalt versetzt werden.

„Gut, ich werde so schnell wie möglich noch einmal mit ihr reden und ihr ausdrücklich den Ernst der Lage klar machen.“

„Wenigstens ist es mir gelungen, dich wachzurütteln. Ihr kriegt beide gewaltige Schwierigkeiten, wenn du das nicht ins rechte Licht rückst.“

Damit war das Thema offenbar für Akira erledigt, denn sie widmete sich weiter den Klassenarbeiten. Isamu tat es ihr gleich. Schweigend saßen sich die beiden gegenüber, doch so still es im Raum auch war, so laut ratterten die Gedanken in Isamus Kopf.

*****

Mai stand mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt in der Nähe von Chizurus Klassenraum. Sie zog an der weißen Schuluniformjacke. Die Dinger waren wirklich sehr bequem und sahen auch nicht schlecht aus. Dennoch war Mai froh, dass an ihrer Schule keine Schuluniformpflicht herrschte. Sie mochte es nicht, wenn man ihr vorschrieb, was sie anzuziehen hatte.

Das Mädchen ging auf eine ganz normale amerikanische Schule und durfte daher auch in ihren Alltagsklamotten dort herumlaufen. Aber eine Privatschule war natürlich etwas viel feineres.

Vor zwei Tagen hatte ihre Freundin Chiyo sie angerufen und ihr ganz aufgeregt am Telefon mitgeteilt, dass sie ihre Hilfe brauche. Die beiden Schülerinnen hatten sich noch am selben Abend getroffen und Chiyo hatte ihr einen Blazer und ein schwarzes Halstuch gegeben. Sie hatte erklärt, dass sie einer Mitschülerin einen Streich spielen wolle. Nähere Einzelheiten waren dann einen Tag später erfolgt.

Chiyo hatte Mai Fotos von einem Mädchen gezeigt, die sie mit ihrem Handy geschossen hatte und Mai gebeten, sich das Mädchen sehr genau anzusehen. Ihr Plan war, dass Mai dieser Unbekannten ein Salamibrot übergeben solle. Das ganze sollte am Freitag ablaufen und Chiyo hatte ihrer Freundin auch die Nummer der Klassenzimmer mitgeteilt, in denen die unbekannte Schülerin am Freitag Unterricht hatte. Gleichzeitig hatte sie ihr eingeschärft, dass dabei absolut nichts schief gehen durfte. Also hatte Mai ein wenig überlegt, wie sie es anstellen konnte, dem Mädchen das Brot unterzujubeln. Und schließlich hatten ihre Überlegungen zum Ziel geführt. Der ganze Plan war allerdings nicht hundertprozentig sicher, denn wenn das Mädchen selber ein Salamibrot mitgenommen hatte, dann würde alles umsonst gewesen sein.

Es war kein Zufall, dass sich Chiyo ausgerechnet Mai als Komplizin für ihren Streich ausgesucht hatte. Niemand kannte sie als Besucherin der Carlton Jouchi Daigaku. Wie sollte man auch, schließlich ging sie ja gar nicht auf diese Schule. Doch durch die Uniform waren die Schüler und Lehrer leicht auf eine falsche Fährte zu lenken.

Die Pausenglocke ertönte und Mai richtete ihren Blick blitzschnell auf die Klassenzimmertür. Jeden Augenblick würde sie aufgehen und Scharen von Schülern würden hinausströmen. Und die ganze Angelegenheit wurde noch dadurch erschwert, dass auch aus anderen Klassen Jugendliche den Gang füllen würden. Sie würde wie ein Luchs aufpassen müssen, um das Mädchen auf den Fotos in der Schar zu entdecken.

Mai stand links von der Klassenzimmertür. Wenn die Schülerin, für die das Brot gedacht war, nun nach rechts gehen würde, nachdem sie die Klasse verlassen hatte, wäre das nur wenig ärgerlich. Denn Mai würde nur wenige Sekunden brauchen, um sie einzuholen, müsste sich dabei aber durch einige Schüler kämpfen. Insgeheim vertraute Mai jedoch auf die Faulheit der Teenager. Sie würden mit großer Wahrscheinlichkeit zur Treppe laufen, die sich in der Nähe befand und um zu dieser zu gelangen mussten sie nun mal die Richtung in den Gang nach links einschlagen.

Die Tür öffnete sich und Mai hielt ihren Blick eisern auf die Mädchen gerichtet, während sie das Brot halb aus der Aluminiumfolie auswickelte. Und dann entdeckte sie ihr Opfer. Schwarze schulterlange glatte Haare, etwa 170 Zentimeter groß – das musste sie sein. Sie sah genauso aus wie auf den Bildern.

Geh nach links, geh nach links, sendete Mai ihr in Gedanken zu und triumphierte innerlich, als die Teenagerin ihr den Gefallen tat. Bald würde sie auf gleicher Höhe mit ihr sein, also wickelte Chiyos Freundin das Brot ganz aus, warf einen Blick darauf und ging vorwärts auf die Meute zu, in der sich ihr Opfer befand. Neben ihr lief ein unglaublich hübscher Junge, doch der interessierte im Moment absolut nicht.

„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, rief Mai laut. „Schon wieder Salami. So ein Dreck!“

Mehrere Leute drehten sich nach ihr um. Mit ärgerlichem Gesichtsausdruck wickelte sie das Brot wieder ein und sah, wie ihr Opfer sich durch andere Schüler hindurch auf sie zu schob.

„Habe ich das gerade richtig gehört?“, sprach das Mädchen sie an. „Du hast Salami auf deinem Brot?“

Bingo, dachte Mai und hätte vor Freude, dass ihr Plan aufzugehen schien, am liebsten laut gejubelt. Doch sie beherrschte sich, biss in gespielter Wut die Zähne zusammen und knirschte: „Ja, habe ich. Als wenn es nichts anderes als dieses Zeug gäbe. Shit!“

Um die beiden Mädchen herum strömten die anderen Schüler der Treppe entgegen und sie gingen zur Wand, wo sie nicht ganz so sehr im Weg standen.

„Würde dir Käse besser gefallen?“

„Viel besser“, antwortete Mai. „Das ist wenigstens genießbar.“

„Dann lasse uns doch tauschen“, schlug das Mädchen vor, stellte ihre Schultasche ab, öffnete sie, kramte darin herum und präsentierte nach wenigen Augenblicken eine Butterbrotdose, die sie öffnete und in der sich tatsächlich ein Brot befand, das mit einer Scheibe Käse belegt war.

„Cool“, strahlte Mai. „Das ist jetzt kein Witz, oder?“

„Nein. Ich mag Salami viel lieber als Käse, also ist uns beiden geholfen.“

„Super!“ Mai reichte dem Mädchen ihr Brot und erhielt im Gegenzug das Brot mit Käse. Sie bedankte sich und erhielt zur Antwort, dass es kein Problem sei. Natürlich dachte sie nicht im Traum daran, das Käsebrot zu essen. Irgendwo auf dem weiteren Weg würde es den Weg in den Abfalleimer finden.

Der wichtigste Teil ihrer Mission hatte funktioniert, doch noch war sie nicht komplett beendet. Mai durfte ihr Opfer während der gesamten Pause nicht aus den Augen verlieren. Und selbst wenn ihr das gelingen sollte, war noch lange nicht sicher, ob sie für Chiyo die erforderliche Information erhalten würde.

Die beiden Mädchen verabschiedeten sich und Mai beschattete ihre spendable Gönnerin aus sicherer Entfernung.

*****

„Was war denn das?“, fragte Takeo, nachdem seine Klassenkameradin zu ihm zurückgekehrt war.

„Nur ein kleines Tauschgeschäft“, lächelte die Gefragte. Gemeinsam mit Takeo ging sie in den Park, wo sich innerhalb von wenigen Minuten die Zwillinge zu ihnen gesellten. Mit Genuss aß Chizuru das Salamibrot, das wirklich gut schmeckte.

„Habt ihr euren gesamten Finderlohn schon verprasst?“, wollte Takeo wissen.

Makoto schüttelte den Kopf. „Nein, wir legen das Geld sinnvoll an.“

„Ihr wollt euch Aktien kaufen?“

„Eigentlich dachten wir eher an einen elektrischen Stuhl für unartige Schüler.“

„Da reicht aber euer Finderlohn nicht ganz.“

„Wir können ja mit einem kleinen Stuhl mit ganz niedriger Voltzahl anfangen.“

„Jetzt mal im Ernst“, sagte Chizuru kauend, „seht ihr denn den kleinen Vierbeiner noch einmal? Ich meine, dürft ihr ihn ab und zu besuchen? Niedlich war er ja schon.“

„Wir werden vielleicht hin und wieder mal vorbei fahren, um zu gucken, wie es unserem Findelhund geht.“

„Auf jeden Fall war es sehr viel besser, dass wir ihn nicht mit zu uns nach Hause genommen haben. Von Hundehaltung hat Tetsuya nämlich überhaupt keine Ahnung“, behauptete Makoto. Und dann entspann sich eine lebhafte Diskussion über richtige Hundehaltung zwischen den beiden sich bis aufs Haar gleichenden Jungen, die die Zuhörer köstlich amüsierte. Immer aberwitziger wurden die Vorschläge, wie man sich richtig um einen Vierbeiner zu kümmern hatte.

Anfangs lachte Chizuru noch mit, doch im Laufe der Unterhaltung wurde sie immer schweigsamer. Innerhalb kürzester Zeit und schubweise hatten sich die Bauchschmerzen bei ihr entwickelt. Zuerst dachte sie noch, dass die Schmerzen noch in der Pause nachlassen würden, aber das stellte sich als Irrtum heraus. Im Gegenteil, die Intensität nahm weiterhin zu. Takeo fiel es als erstem auf.

„Hey, was ist denn mit dir los? Du bist ja kreideweiß!“

„Ich weiß nicht. Ich habe plötzlich Bauchschmerzen. So stehe ich den Rest des Schultages garantiert nicht durch. Takeo, kannst du mich entschuldigen? Ich gehe nach Hause und lege mich hin.“

„Logisch sage ich Bescheid. Soll ich dich begleiten?“

Chizuru schüttelte den Kopf. „Es reicht, wenn einer von uns den Unterricht versäumt.“

Die umstehenden Schüler blickten das Mädchen besorgt an und Makoto sagte: „Erhole dich schnell wieder.“

Die Teenagerin lächelte ihm zu und verzog im nächsten Moment schmerzhaft das Gesicht.

„Ich rufe dich an, ob es dir besser geht und ob wir uns noch treffen können“, meinte Takeo.

„Brauchst du nicht. Natürlich treffen wir uns heute abend wie geplant. Ich lege mich hin, schlafe ein bisschen und dann geht es mir schon besser. Wenn ich nicht kommen kann, dann rufe ich dich rechtzeitig an.“

„Alles klar, dann gute Besserung und bis heute abend.“

Takeos Stimme klang zweifelnd, aber Chizuru nickte nur und ging langsam in Richtung des Schulhofes. Als sie zwischen den hohen Hecken den Weg auf das Eisentor zuschritt, musste sie sich sehr zusammenreißen, um nicht vor Schmerzen loszuschreien. Erst als sie den Gehsteig erreicht hatte, presste sie die Hand auf ihren Bauch und stöhnte laut auf.

Was war nur mit ihr los? Bis vor kurzem ging es ihr doch fabelhaft. Vielleicht war etwas mit der Milch nicht in Ordnung gewesen, die sie heute zum Frühstück getrunken hatte. Das war zwar schon zwei Stunden her, erschien ihr aber als die plausibelste Erklärung. Am Salamibrot konnte es jedenfalls nicht liegen, stellte sie für sich fest. Der Zeitraum zwischen dem Verzehr des Brotes und dem Auftreten der Schmerzen war ihres Erachtens viel zu kurz.

Gekrümmt schleppte sie sich zur Bushaltestelle. Zum Glück fuhr der Bus nach Merrick um diese Zeit noch recht häufig, so dass sie nicht lange  zu warten brauchte. Ein weiterer Pluspunkt war, dass sie ganz bis zu ihrem Heimatort durchfahren konnte. Bis zu ihr nach Hause waren es dann nur noch etwa vier Minuten. Natürlich würde um diese Zeit niemand zu Hause sein, ihre Mutter war ja auf der Arbeit.

Als sie endlich im Bus saß, kam es ihr so vor, als würden die Schmerzen ein wenig leichter werden. Um sie herum plapperten Fahrgäste und hörten irgendwelche pubertierenden Kids die neuesten Songs und Klingeltöne via Handy. Von der ganzen Geräuschkulisse bekam Chizuru noch zusätzlich Kopfschmerzen. Warum konnte sie nicht ausnahmsweise heute der einzige Fahrgast in diesem Bus sein? Sie wollte doch nichts weiter als herrliche angenehme Ruhe, war das denn so schwer zu begreifen. Vielleicht ließe sich das ganze Getöse ja leichter ertragen, wenn sie versuchen würde, ein bisschen zu dösen. Sie schloss die Augen und es gelang ihr tatsächlich ein wenig zu schlafen. Kurz bevor das Fahrzeug die Haltestelle erreicht hatte, an der sie aussteigen musste, wachte sie wieder auf. Es ging ihr zwar immer noch mies, doch die Schmerzen waren im Sitzen nicht ganz so schlimm und die Kopfschmerzen waren sogar komplett verschwunden, was aber wohl auch daran liegen mochte, dass die ganzen Störenfriede mittlerweile ausgestiegen waren. Nun aber musste die Schülerin aufstehen und davor hatte sie wahnsinnige Angst. Doch es half nichts, schließlich konnte sie nicht ewig in diesem Bus bleiben.

Schon als sie an der Tür stand, konnte sie fühlen, wie eine große Welle sich in ihrem Inneren ausbreitete. Tapfer biss Chizuru die Zähne zusammen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Der Bus kam zum Stehen, die Türen öffneten sich und das Mädchen stieg aus, wobei sie beim Betreten jeder Treppenstufe das Gefühl hatte, jemand würde im Inneren ihres Bauches Messer auf die Organe schleudern. Zum Glück waren es nur noch vier Minuten, bis sie zu Hause ankommen würde.

Heute allerdings kam ihr der Weg endlos lang vor. Unterwegs hatte sie das Gefühl, nicht genug Sauerstoff zu bekommen, da ihr die Uniformjacke zu eng erschien. Also öffnete sie die beiden golden aussehenden Knöpfe, doch Linderung verspürte die Schülerin nicht. Sie konnte fühlen, wie die Leute sie anstarrten, aber das war ihr in diesem Moment vollkommen gleichgültig. Sollten diese doch mal solche Krämpfe haben, sie würden bestimmt auch gekrümmt, die Hand auf den Bauch gepresst und keuchend und wimmernd vor Schmerz durch die Gegend laufen.

War es tatsächlich so heiß oder bildete sie sich das nur ein? Sie konnte es kaum erwarten, endlich in ihre Wohnung zu kommen. Dort würde sie sich ins Bett legen und nur noch schlafen. Vielleicht ging es ihr bis heute abend ja tatsächlich wieder gut und sie konnte die Verabredung mit Takeo einhalten. Beim Gedanken an ihn ging es ihr gleich ein wenig besser.

Vor ihrer Haustür angekommen zog sie mit zittrigen Fingern ihren Schlüssel hervor. Prompt rutschte er ihr aus der Hand und landete klirrend auf dem Boden. Chizuru bückte sich und ergriff ihn, und dann glaubte sie wahnsinnig zu werden. Der Schmerz kam mit solch riesiger Wucht, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte. Ihre Finger krampften sich um den Schlüssel, der sich in das Fleisch ihrer Hand drückte, aber davon merkte sie nichts. Für das Mädchen existierte nur die fast unerträgliche Qual in ihrem Bauch. Sie zitterte am gesamten Körper und schlug wimmernd mit der Stirn gegen die Tür, um sich irgendwie abzulenken.

Erst nach einer ganzen Weile registrierte sie die Leute um sich herum, die sie ansprachen, ob sie ihr helfen könnten. Es waren ein Mann und zwei Frauen. Sie nahm den Schlüssel in die andere Hand und hielt ihn empor, was ungefähr genauso anstrengend war wie die Besteigung des Mount Everest. Chizuru nahm all ihre noch vorhandene Kraft zusammen und sagte, dass sie hier zu Hause sei und man ihr bitte die Haustür aufschließen solle. Weitere Hilfe sei nicht vonnöten. Sie werde von ihrer Wohnung aus einen Arzt anrufen.

Die besorgten Passanten fragten sie, ob sie das denn schaffen würde oder ob sie selber Hilfe rufen sollten, aber das letzte, was Chizuru jetzt noch gebrauchen konnte, waren endlose Diskussionen. Mit schwacher Stimme wimmelte sie ihre Helfer ab. Sie wollte nur noch ihre Ruhe haben, wankte ins Haus und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

*****

Warum musste es überhaupt ein Fach wie Geografie geben, das total überflüssig war? Zu welchem Zweck war es wichtig, dass man wusste, in welchen Gebieten von Oregon man welche Pflanzen anbauen konnte? Haruka konnte das alles in keiner Weise nachvollziehen. Sie würde niemals nach Oregon fahren, also konnte ihr dieses Wissen auch gestohlen bleiben.

Ebenso würde sie in ihrem ganzen Leben keine Pflanzen anbauen. Wenn sie welche haben wollte, dann würde sie sich diese beim Blumenhändler oder im Supermarkt besorgen. Andere konnten viel besser Pflanzen anbauen und solange es solche Leute gab, brauchte sie ja nicht in Aktion zu treten.

Von der Beschaffenheit der Böden wurde ihnen gerade etwas erzählt und die Schülerin langweilte sich zu Tode. Vor einem Jahr hatten sie den Weltraum durchgenommen. Das war wenigstens ein interessantes Thema gewesen. Es war spannend und lehrreich. Was heute auf dem Stundenplan stand, dürfte wohl nur Hobbyherbologen interessieren.

Kazuki stupste sie mit dem Ellenbogen an. „Deine Begeisterung sieht man dir regelrecht an“, flüsterte er grinsend.

Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Soll ich dir den nächsten Flug nach Portland buchen? Du scheinst es kaum erwarten zu können, die Böden für die Aussaat der Pflanzen persönlich unter die Lupe zu nehmen.“

Haruka schaute ihn mit zusammengebissenen Zähnen an.

Ihr Lehrer war gerade damit beschäftigt, eine Karte, die das Gebiet von Oregon zeigen sollte, auf den Kartenständer zu hängen. Nach einiger Mühe hatte er es geschafft, entknotete die Schnur, die die Karte zusammenhielt und entrollte sie. Manche Schüler schmunzelten, andere lachten laut auf, was den Unterrichtenden sichtlich irritierte.

Jetzt schien es interessant zu werden. Haruka blickte nach vorn und erkannte sofort, warum ihre Mitschüler so reagierten. Auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Ich würde mal raten, dass am Sears Tower Efeu ziemlich gut wächst“, bemerkte ein Junge laut und nun brach die gesamte Klasse in brüllendes Gelächter aus.

Nun bemerkte auch der Lehrer, was hier nicht stimmte und lächelte dünn. Während er die Karte zusammenrollte, meinte er: „Tja, da seht ihr es. Auch Lehrer können sich irren. Da habe ich mich bei der Karte vergriffen, denn natürlich liegt Chicago nicht in Portland.“

Er verknotete die Schnur wieder und sagte dann: „Das hier ist die Karte 76. Die Karte, die ich euch zeigen wollte, trägt die Nummer 75.“

Suchend blickte er sich in der Klasse um, als erwarte er, hier irgendwo das gewünschte Objekt zu finden. Dann zeigte er mit dem Finger auf Haruka.

„Sind Sie bitte so nett und holen mir die Karte 75 aus dem Kartenraum?“

Haruka blickte sich verwirrt und unsicher um und erhob sich langsam, als man ihr ungeduldig mit der Hand winkte.

„Hier ist der Schlüssel für den Kartenraum.“

Mit diesen Worten wurde ihr ein Schlüssel, der an einem Bund mit unzähligen anderen Schlüsseln hing, in die Hand gedrückt. Na toll, dachte sie sich. Wenn ich die Schlüssel fallen lasse, dann bin ich stundenlang damit beschäftigt, den richtigen zu finden.

In die andere Hand nahm sie die falsche Karte und machte sich auf den Weg zum Kartenraum. Der Raum, in dem die Geografiestunde abgehalten wurde, lag im zweiten Stock der Carlton Jouchi Daigaku. Eine Etage darunter befand sich der Raum, in den sie gehen musste. Sie packte die Karte mit beiden Händen und ging vorsichtig die Treppe hinunter. Das fehlte gerade noch, dass sie hier ins Straucheln kam.

Auf dem Zwischenabsatz standen zwei ältere Jungen in der Ecke und unterhielten sich über Videospiele. Haruka ging grußlos an ihnen vorbei. Sie hatte genug damit zu tun, die Karte zu schleppen. Auf die Idee, zu fragen, ob sie ihr helfen konnten, kamen die beiden Schüler natürlich nicht. Heutzutage war eben jeder mit sich selbst beschäftigt.

Ein paar Sekunden später hatte das Mädchen das erste Stockwerk erreicht und wandte sich nach links. Den Gang musste sie ganz durchqueren, an einigen Klassenzimmertüren vorbei, durch eine weitere Glastür, bis sie neben den Schränken, in denen die Schüler ihre Bücher und Hefte aufbewahrten, ihr Ziel erreicht hatte. Haruka setzte die Karte ab und atmete erst einmal tief durch. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloß, öffnete die rote Tür und trat ein.

Nachdem sie den Lichtschalter betätigt hatte, schluckte sie erst einmal. Unmengen von Karten hingen zusammengerollt an Haken. Hier mussten mehrere hundert von diesen geografischen Materialien aufbewahrt sein. Es würde einige Zeit dauern, die richtige Karte zu finden.

Die Schülerin trat näher an die Karten heran und dann durchschaute sie das System. Die gewünschte Karte hatte sie im Handumdrehen gefunden, denn zu jedem Haken gehörte ein Schild mit einer Nummer und einer kurzen Beschreibung. Am Haken mit der Nummer 76 hing keine Karte und der belegte Haken daneben trug die Aufschrift „Natürliche Bodenbeschaffenheit Oregon“. Das war genau das, was sie suchte.

Sie schnappte sich die falsche Karte und trug sie zum dazu gehörigen Haken. Das Wiedereinhängen bereitete keine große Mühe. Dann ergriff sie die richtige Rolle.

„Können wir dir irgendwie helfen?“

Erschrocken fuhr Haruka herum. Die beiden Jungs, denen sie auf der Treppe begegnet war, standen vor ihr. Sie stieß erleichtert die Luft aus.

„Nein, vielen Dank. Ich komme schon klar“, sagte sie und drehte sich wieder zu den Zeichnungen um.

„Wir möchten dir aber gerne helfen“, sagte einer der beiden Jungen und weckte damit erneut Harukas Aufmerksamkeit. Sie lächelte ihn an und sah, wie der andere Schüler, ohne sie aus den Augen zu lassen, seinen Fuß gegen die Innenseite der Tür schnellen ließ. Die Tür fiel ins Schloss.

Jetzt dämmerte Haruka, was hier gespielt wurde. Zweifellos wollten die Jungs sich die Zeit bis zur nächsten Stunde vertreiben. In dem Mädchen kochte die Angst hoch. Sie spürte, wie eine Hand sie am Arm berührte und schlug sie weg.

„Bitte … lasst mich in Ruhe“, flüsterte sie und bewegte sich langsam rückwärts, wobei sie gegen lange feste Rollen stieß, die in ihren Halterungen hin und her pendelten. Die Schüler folgten ihr, bis sie mit dem Rücken gegen eine Wand stieß.

„Endstation“, grinste einer der beiden.

Haruka wurde an den Schultern gepackt und gegen die Wand gedrückt. Sie schlug mit den Händen, aber das half nichts. Der einzige Ausweg, der ihr einfiel, war zu schreien. Vielleicht hörte sie ja jemand. Zwischen ihr und dem nächsten Klassenzimmer befand sich zwar eine Glastür, aber wenn sie richtig laut schrie, bestand die Möglichkeit, dass ihr ein Lehrer oder Schüler zu Hilfe kam.

Das Mädchen öffnete den Mund und spürte, wie sich eine Hand darauf legte, die ihren Kopf gegen die Wand drückte. Mit aufgerissenen Augen sah sie den Jungen an, der sie am Schreien hinderte.

„Wenn du einen lauten Ton von dir gibst, prügeln wir dich windelweich.“

Sein Freund griff nach einem Knopf, um ihren Blazer zu öffnen. Wild warf Haruka den Kopf hin und her, so sehr ihr das möglich war und schlug nach den Händen. Sie spürte, wie sie in die Wange gekniffen und das Fleisch herumgedreht wurde. Tränen des Schmerzes schossen ihr in die Augen und sofort hörte sie auf, sich zu wehren.

„Ich lasse dich los, allerdings nur, wenn du artig bist“, sagte der Junge, der ihr Gesicht im Griff hatte. Haruka keuchte heftig. Sie wusste, dass sie gegen die beiden keine Chance hatte und leistete keine Gegenwehr mehr. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als die zwei Knöpfe ihrer weißen Uniformjacke geöffnet wurden.

*****

Wie hypnotisiert blickte Haruka auf die Hand eines ihrer Angreifer, die sich unter den Blazer schob. Doch plötzlich wurde der Schüler von ihr weggerissen. Der Schwung war so stark, dass er herumgewirbelt wurde und gegen die hängenden Kartenrollen auf der anderen Seite des Raumes prallte, die wie wild hin und her schwankten und gegen seinen Körper stießen. Eine Rolle erwischte ihn am Hinterkopf und er sackte zu Boden.

Haruka starrte Nobu an wie ein Gespenst, das plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Doch der Junge kümmerte sich überhaupt nicht um sie, sondern widmete sich seinem zweiten Gegner. Nobu duckte sich und der Schlag, der ihn treffen sollte, verfehlte ihn. Harukas Retter ballte die Hand zur Faust, zielte kurz und ließ sie von oben direkt auf die Nase des letzten Angreifers sausen. Es knackte und augenblicklich schoss ein roter Strom aus den Nasenlöchern des Jungen, der aufheulend in die Knie sank und seine Hände auf die schmerzende Stelle legte.

„Alles in Ordnung?“, fragte Nobu das Mädchen durch den Lärm hindurch und diese nickte.

„Raus hier, schnell“, befahl ihr Retter und noch unter Schock stehend griff sich das Mädchen die benötigte Karte und ließ sich dann von Nobu aus dem Raum führen. Draußen angelangt knallte der Junge die Tür zu und drehte den Schlüssel herum.

„So, die sind erst einmal in Sicherheit“, brummte er, nahm ihr die Karte aus der Hand und ging mit Haruka die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Er drehte sich zu ihr um und fragte: „Bist du wirklich okay?“

Der Schock ließ das Mädchen zittern. Sie war unfähig zu weinen. Sie schlang die Arme um ihren Beschützer, presste ihr Gesicht gegen seine Brust und ihr Körper zitterte jetzt nicht nur, er bebte regelrecht. Nobu lehnte die Karte an die Wand, erwiderte die Umarmung und strich ihr beruhigend über den Rücken. Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort.

Schließlich löste Haruka die Umklammerung und blickte unsicher zu Boden.

„Ist schon in Ordnung“, meinte Nobu. „Hauptsache, dir ist nichts schlimmeres passiert. Ich habe von der Treppe die beiden Typen in den Kartenraum schleichen sehen. Und da wollte ich doch mal nachgucken, was sie so treiben. War wohl nicht die schlechteste Idee.“

„Danke“, flüsterte Haruka.

„Komm, ich bringe dich in deinen Klassenraum und dann werde ich mal dem Direktor Bescheid sagen, dass zwei Schüler so dumm waren, sich im Kartenraum einschließen zu lassen.“

Er wartete, bis das Mädchen ihm signalisierte, dass sie jetzt in der Verfassung war, in ihre Klasse zurückzukehren. Vor der Tür nahm Haruka ihm die Karte ab und er sagte: „Wir werden in unseren Unterricht ab jetzt auch Verteidigungstechniken einbauen. Das kann auf keinen Fall schaden.“

Er lehnte sich gegen die Wand und nickte Haruka aufmunternd zu. Diese holte tief Luft und öffnete dann die Tür.

„Na endlich“, meinte ihr Geografielehrer. „Warum hat das denn so lange gedauert?“

Haruka murmelte als Entschuldigung, dass sie noch auf der Toilette gewesen sei. Bei aller Dankbarkeit, die sie Nobu gegenüber empfand, war sie doch froh, dass er nicht mit in die Klasse gekommen war. Sie ging zu ihrem Platz zurück und setzte sich. Kazuki entdeckte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war und fragte sie danach. Doch Haruka wollte nicht darüber reden und vertröstete ihn auf die Pause.

Der Rest der Stunde lief einfach so an ihr vorüber. Sie wollte auch gar nichts vom Stoff wissen, hatte das Gesicht auf ihren Arm gelegt und versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen. Ziemlich irritiert war sie darüber, dass sie nicht in der Lage war, auch nur eine einzige Träne zu vergießen. In sich fühlte sie nur ein großes Loch.

Als die Pause angebrochen war, fragte Kazuki noch einmal nach und Haruka teilte ihm nur mit, dass sie überfallen worden war. Mehr wollte sie dazu nicht sagen, aber immerhin beruhigte sie ihren Klassenkameraden noch mit der Auskunft, dass ihr nichts passiert sei. Sie dachte über Nobu nach. Hoffentlich hatte er nichts von dem gesagt, was im Kartenraum vorgefallen war. Er wollte zum Direktor gehen, was er vermutlich auch getan hatte. Und dann? Was hatte er alles erzählt?

Konnte er überhaupt etwas erzählen? Bestimmt hatte er nicht viel von dem mitbekommen, was die beiden Jungen mit ihr vorgehabt hatten. Wahrscheinlich hatte er die Tür aufgemacht, mit einem Blick die Situation erfasst und sofort gehandelt. Er war nicht der Typ, der erst einmal eine Weile gelauscht hätte.

Nobu hatte sie noch nicht einmal gefragt, ob sie etwas gegen ihre Angreifer unternehmen wolle. Und sie wünschte sich, dass auch er nicht ohne ihr Einverständnis etwas unternahm. Sie wusste, dass sie die Befragungen und Erzählungen, die sie über sich würde ergehen lassen müssen, nicht durchstehen würde. Und ihre beiden Angreifer hatten ja auch schon ihre Strafe erhalten, an die sie bestimmt noch lange denken würden. Bestimmt war ihnen fürs erste die Lust daran vergangen, anderen Mädchen aufzulauern.

Nein, es war vermutlich besser, wenn sie das alles so schnell wie möglich vergaß und als erledigt verbuchte. Außerdem, taugte Nobu als Zeuge? Wie viel von dem ganzen Vorfall hatte er gesehen? Bestimmt würden die beiden Jungen das ganze als harmlose Spielerei abtun und Nobu würde vielleicht noch Ärger bekommen, weil er die beiden verletzt hatte. Das wollte sie auf gar keinen Fall.

Eine Sache sorgte allerdings dafür, dass sie ruhiger wurde. Sie war froh, dass Nobu plante, Selbstverteidigung mit in das Training aufzunehmen. Hoffentlich dauerte es nicht allzu lange, bis sie in der Lage sein würde, sich angemessen gegen eventuell nochmals auftretende Kerle zur Wehr zu setzen. Und sie musste lernen, ihre Mutlosigkeit zu überwinden und sich zu trauen, einem Jungen weh zu tun. Denn was nutzte die beste Verteidigungsstrategie, wenn einem der Mut fehlte, sie auch anzuwenden? Vielleicht konnten Nobu und sie daran noch etwas mehr arbeiten. Das Training mit ihm machte Haruka jedenfalls riesigen Spaß.

Kazuki regte sich sehr über das auf, was ihm Haruka gesagt hatte. Er bat sie eindringlich, die Übungen mit Nobu fortzusetzen, aber das hatte die Schülerin sowieso vor. Ihr Mitschüler echauffierte sich, dass solche Typen Nobus gesamte Arbeit zerstören könnten. Auch Haruka war sich darüber im klaren, aber in solch eine Situation hoffte sie, so bald nicht wieder zu geraten. Und wenn doch, dann konnte sie eventuell schon ein paar von Nobus Tricks anwenden.

*****

Kazumi betrat den Park und sah sich suchend um. Sie hätte wetten können, dass sich Chiyo hier irgendwo befand. Wahrscheinlich steckte sie mit ihren Möchtegern-Freundinnen zusammen und verbrachte die Pause damit, über andere Schüler zu lästern. Sie war so berechenbar und einfallslos, dachte sich Kazumi. Sie hatte Chiyo ganz direkt mitgeteilt, dass sie sie nicht mehr aus den Augen lassen würde. Und dennoch machte Chiyo in ihrem Lebensablauf genauso weiter wie bisher. Jeder andere Mensch mit ein bisschen Grips würde versuchen, seine Gewohnheiten umzustellen, um einem Beschatter das Leben zu erschweren.

Allerdings war Chiyo nirgendwo zu entdecken. Vielleicht stand sie zwischen ein paar Bäumen, die die Sicht auf sie nicht so leicht möglich machten. Kazumi schlenderte im Park umher und konnte nur hoffen, dass Chiyo nicht gerade wieder ein neues Opfer in der Mangel hatte. Bei ihr konnte man nie wissen. An einem Tag war sie noch hinter einem bestimmten Jungen her, doch vierundzwanzig Stunden später konnte das alles wieder ganz anders aussehen. Sie wechselte ihre Opfer manchmal so rasch, dass man den Überblick verlor.

Kazumi hatte selber miterlebt, wie gemein Chiyo mit Jungs umspringen konnte. Damals hatte sie Chiyo noch gar nicht gekannt, aber ein Klassenkamerad hatte ihr gebeichtet, dass er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Sie hatte sich für ihn gefreut und ihn dazu gebracht, dass er ihr Chiyo vorstellte. Sehr schnell hatte sich für Kazumi herausgestellt, dass die Schülerin nur mit ihm spielte und seine Liebe in keiner Weise erwiderte. Im Gegenteil, wenn ihr Verehrer nicht in der Nähe war und Chiyo mit Freundinnen beisammen stand, machte sie sich über ihn lustig und erzählte die peinlichsten Sachen über ihn, die sie sich freilich nur ausgedacht hatte. Kazumi hatte sie einmal zur Rede stellen wollen, war aber nur eiskalt abgeblitzt.

Und dann kam der Tag, an dem Chiyo Kazumis Mitschüler eröffnet hatte, dass sie nicht an ihm interessiert war. Für den Jungen war eine Welt zusammengebrochen und er hatte nicht verstehen können, warum sie ihn auf diese Art und Weise abserviert hatte. Tagelang hatte er sich mit Vorwürfen gequält und die Schuld bei sich gesucht. Er hatte nur dagesessen und sich gefragt, was er falsch gemacht hatte. Bis er es einfach nicht mehr ertragen konnte und Chiyo direkt danach gefragt hatte. Und sie hatte ihm geantwortet, dass er gar nichts falsch gemacht hatte, sondern dass er die Schuld bei seinen Eltern suchen sollte. Das hatte ihm endgültig den Rest gegeben. Er war in Depressionen verfallen und hatte schließlich sogar die Carlton Jouchi Daigaku verlassen müssen.

Die Kaltschnäuzigkeit von Chiyo hatte auch Kazumi geschockt. Sie hatte nichts mehr mit diesem Vamp zu tun haben wollen, doch immer wieder wurde sie an dieses Miststück erinnert, denn die Zahl der Jungs, mit denen sie spielte, nahm zu und irgendwo schnappte man immer etwas von Erzählungen auf. Chiyo war gefährlicher als ein tollwütiges Tier und es war mehr als überfällig, dass man ihr auf die Finger sah. Und wenn sich kein anderer dazu bereit erklärte, dann musste sie es eben tun.

Endlich hatte Kazumi die verhasste Schülerin entdeckt. Mit einer Traube von fünf Mädchen um sich herum lungerte sie an einem Baum herum, an den sich zwei Mitglieder ihres Anhängselclubs gelehnt hatten.

Kazumi ging unschuldig in die Luft blickend zur Gruppe hinüber, verschränkte die Arme vor der Brust und blieb in einiger Entfernung stehen, um die Meute ausgiebig zu beobachten. Natürlich blieb das von Chiyo nicht unbemerkt. Sie stieß zwei neben ihr stehende Mädchen an und deutete mit dem Finger zu Kazumi herüber. Dann trat sie drei Schritte vor und fragte herausfordernd: „Wer hat dir gesagt, du sollst da hocken? Verschwinde!“

„Du kannst zum Glück nicht bestimmen, wo ich mich aufhalte.“

„Du kannst zum Glück nicht bestimmen, wo ich mich aufhalte“, äffte sie Kazumi nach. „So langsam verliere ich die Geduld.“

„Mit dir habe ich schon lange keine Geduld mehr. Ich habe dir gesagt, dass ich dich im Auge behalten werde, um deinen Feldzug gegen Jungs zu stoppen. Und das war ein Versprechen, wie du sicherlich schon gemerkt hast. Du kannst froh sein, wenn ich dich noch unbeobachtet aufs Klo gehen lasse.“

„Und du solltest diese Überwachung schleunigst beenden. Ansonsten werde ich etwas gegen dich unternehmen, dass dir ein für allemal die Lust daran nimmt, mir auf Schritt und Tritt zu folgen.“

„Das liegt ja ganz bei dir. Du alleine hast es in der Hand, ob ich damit aufhöre. Du musst dich nur von deinem fragwürdigen Lebenswandel verabschieden. Sobald du damit aufhörst, dir alles zu angeln, was besser aussieht als der Glöckner von Notre Dame und zwei Beine hat, werde ich deine Observation beenden. So einfach ist das.“

„Du irrst dich, Klugscheißer. Ich lasse mir doch von einem dahergelaufenen Moralapostel nicht vorschreiben, was ich zu tun und was ich zu lassen habe. So weit kommt es noch. Du kannst nicht über mein Leben bestimmen. Und wenn ich mich nur an verheiratete Männer ranschmeiße, daran wirst du nichts ändern können.“

„Du bist wirklich das skrupelloseste Flittchen, das ich je gesehen habe.“

„Du brauchst mir keine Schmeicheleien an den Kopf zu werfen. Dadurch kann ich dich auch nicht besser leiden. Deine ganze kindische Art gucke ich mir noch genau eine Woche lang an. Wenn du dann nicht damit aufhörst, dann kannst du sehen, was mit Leuten passiert, die mir allzu sehr auf die Nerven gehen.“

Die Schulglocke zeigte an, dass die Pause beendet war. Kazumi rührte sich nicht, worauf Chiyo sie fragte: „Na, was ist? Willst du nicht in deine Klasse? Ich habe jetzt eine Freistunde. Du kannst natürlich gerne an mir kleben wie eine Klette. Aber auf deine Entschuldigung für die versäumte Stunde bin ich jetzt schon gespannt.“

Die Mädchen, die bei Chiyo standen, verabschiedeten sich und als sie gegangen waren, zischte Kazumi: „Glaube bloß nicht, dass ich mich so leicht einschüchtern lasse.“

„Viel Weisheit in deiner nächsten Stunde“, wünschte Chio ihr, als sie sich zähneknirschend auf den Weg zum Schulgebäude machte. Diese Kuh war es einfach nicht wert, dass man wegen ihr eine Strafarbeit fürs verspätete Erscheinen im Unterricht riskierte.

Aufgeben würde Kazumi aber auf gar keinen Fall. Auch die eben ausgesprochene Drohung konnte sie nicht beeindrucken. Was sollte Chiyo schon gegen sie unternehmen? Sie hatte keine Schlägertypen um sich, sondern gab sich immer nur mit Mädchen ab, die genauso wenig in der Birne hatten wie Chiyo selbst. Und die konnten ihr, Kazumi, nicht einmal im Traum gefährlich werden.

Alles, was diese von sich selbst beeindruckte Tussi von sich gab, war nichts weiter als heiße Luft und reines Wunschdenken. Sie hoffte vielleicht so viel Macht zu haben, um über andere zu bestimmen, aber die hatte sie nicht. Sogar ein in vier Stücke zerteilter Regenwurm verfügte über mehr Macht als Chiyo. Von ihr hatte Kazumi keine Schwierigkeiten zu erwarten, davon war sie fest überzeugt.

*****

Leise vor sich hin summend lehnte Chiyo an einem großen Baum im Park. Der große Koloss verlor langsam seine Blätter und bereitete sich auf den bevorstehenden Winter vor. Bis dahin waren es zwar noch gut zwei Monate, aber die herbstliche Kühle war jetzt schon gelegentlich zu spüren. In diesem Jahr würde es ziemlich früh kalt werden, so vermuteten es jedenfalls die Meteorologen. Hoffentlich behielten sie Unrecht. Chiyo war kein Freund von Schnee und Kälte. Sie liebte den Sommer über alles, wenn man sich die Sonne auf den Körper scheinen lassen konnte und vielleicht sogar noch schön braun wurde. Dann lagen einem die Jungs noch begieriger zu Füßen, als sie es ohnehin schon taten.

Natürlich hätte sie es auch einfacher haben können, zu einer vorübergehend dunkleren Hautfarbe zu kommen. Aber sie hasste Solarien. Der Gedanke, in so einem Ding gefangen zu sein und nicht selbst bestimmen zu können, machte sie krank. Als mögliche Alternative zur Sonnenbank gab es dann noch diese Selbstbräunungssprays. Allerdings rochen ihr diese zu intensiv. Und wenn ein anderer Junge diesen Geruch ebenfalls in die Nase bekam, hätte sie zugeben müssen, dass ihre Bräune von einem Spray stammte. Diese Blöße wollte sie sich auf keinen Fall geben. Entweder wurde sie auf natürliche Art und Weise braun oder gar nicht.

Im Moment war sie allerdings mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie hatte sich hier im Park mit ihrer Freundin Mai verabredet. Sie musste ganz einfach wissen, ob ihr Plan funktioniert hatte. Dass sie jetzt eine Freistunde hatte, wie sie Kazumi vorhin weisgemacht hatte, entsprach absolut nicht der Wahrheit. Aber es gab manchmal Dinge, die waren wichtiger als der Schulunterricht. Und auch wenn sie später eine Strafarbeit aufgebrummt bekommen sollte, so hatte sie doch sehr viele freiwillige Kandidaten, an die sie diese unangenehme Bürde delegieren konnte. Sie selber würde keinen Finger für etwas rühren, was über die Hausaufgaben hinaus ging.

Kazumi! Chiyos Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an, als ihr das Mädchen in den Sinn kam. Sie nervte und zwar gewaltig. Und es war klar, dass man eher sofort als später etwas gegen sie unternehmen musste. Vielleicht wäre es gar kein so schlechter Einfall, ein wenig über sie zu recherchieren. Vielleicht fand sich in ihrer Vergangenheit etwas, was sie schon längst vergessen hatte. Und wenn dem so war, dann lagerte diese Schandtat vielleicht noch irgendwo in den unendlichen Weiten des Internets. Denn das Internet vergaß nichts. Einen Versuch war es jedenfalls wert. Chiyo würde sich vielleicht noch einmal darüber ärgern, wenn sie nicht beizeiten etwas gegen ihre Verfolgerin unternahm.

Die dunkelhaarige Schülerin blickte auf ihre Armbanduhr. Wo Mai nur blieb? Der Unterricht hatte vor sieben Minuten angefangen und sie hatte sich noch immer nicht blicken lassen. Chiyo konnte nur hoffen, dass ihr Plan funktioniert hatte. Aber bei Mai machte sie sich da keine allzu großen Gedanken. Was ihre Freundin in Angriff nahm, das klappte fast immer.

Mai und Chiyo hatten sich vor anderthalb Jahren vor einem Kino kennen gelernt. In der Überzeugung, dass der Filmsaal überfüllt sein würde, hatte Chiyo sich zwei Karten vorbestellt, denn sie wollte mit einem Jungen in die Vorstellung. Doch ihre Verabredung war nicht erschienen. Und als Mai an die Kinokasse stürzte, waren sämtliche Karten verkauft worden. Nicht ein einziger Platz war mehr frei. Zu diesem Zeitpunkt hatte Chiyo bereits eine Viertelstunde auf den Jungen gewartet. Auch an sein Handy ging er nicht. Also hatte sie Mai die zweite Karte verkauft und war mit ihr zusammen in die Vorstellung gegangen. Nach dem Film hatten sie noch etwas zusammen getrunken und ihre flüchtige Bekanntschaft hatte sich vertieft, bis daraus im Laufe von Monaten eine gute Freundschaft wurde.

Chiyo konnte mit jedem Problem zu Mai kommen. Sie war ausgesprochen hilfsbereit und liebte es, anderen Leuten heimlich eins auszuwischen. Und wenn Chiyo sie um einen Gefallen bat, dann konnte man in achtzig Prozent aller Fälle sicher sein, dass jemand am Ende der Dumme war. Für Sachen dieser Art war Mai immer zu haben. Natürlich forderte die Japanerin auch Gegenleistungen, die Chiyo aber gerne bereit war zu erbringen. War doch klar, dass eine Hand die andere wusch.

Endlich ließ sich Mai blicken. Sie stapfte auf ihre Freundin zu, die Hände in den Taschen der Schuluniformjacke vergraben. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus und spätestens jetzt wusste Chiyo, dass alles glatt gelaufen war.

„Hallo. Na, wie war es?“

„Das nächste Mal möchte ich eine schwierigere Aufgabe.“

Chiyo lachte. „Hat sie das Brot genommen?“

„Klar, ich musste mich gar nicht groß anstrengen. Sie hat es mir praktisch aus der Hand gerissen.“

„Super! Und wo ist sie jetzt?“

„Sie hat die Schule verlassen. Und sie sah nicht so aus, als ginge es ihr gut.“

„Ach, tatsächlich? Warum denn das? Das kann ich mir ja nun gar nicht erklären.“ Chiyo lachte laut.

„Erzähl schon“, verlangte Mai, „was hast du mit ihr angestellt?“

„Ich bin da völlig unschuldig. Ich kann dir nur sagen, dass sie für die nächsten Stunden ein bisschen Bauchschmerzen haben wird. Aber bis morgen ist das wieder vorbei.“

„Da hat sie sich ja einen blöden Zeitpunkt ausgesucht, um krank zu werden. So kurz vor dem Wochenende.“

„Stimmt. Hat sie noch etwas über ihre Verabredung gesagt?“

„Ja, zu dem Jungen hat sie gemeint, dass sie sich heute abend auf jeden Fall mit ihm treffen will. Dafür ging es ihr wohl noch gut genug.“

„Yes!“, rief Chiyo, ballte die Hand zur Faust und stieß den Ellenbogen nach unten. „Perfekt!“

„Scheint ja alles so zu funktionieren, wie du es haben wolltest“, stellte Mai fest.

„Worauf du dich verlassen kannst. Ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass es so glatt läuft. Aber umso besser. Dafür hast du bei mir einen riesengroßen Gefallen gut.“

„Ich komme darauf zurück. Aber jetzt verkrümele ich mich erst einmal, bevor noch jemand kommt und uns zusammen sieht. Das muss ja nicht sein. Was ist mit dem Halstuch und der Jacke?“

„Die hole ich mir morgen irgendwann bei dir ab.“

„Alles klar. Dann habe noch einen schönen restlichen Tag.“

„Oh, das werde ich“, grinste Chiyo. „Verlasse dich drauf.“

Zufrieden blickte sie ihrer Freundin hinterher und machte sich eine Minute später auf den Weg in das Innere der Schule. Sie war allerbester Stimmung und hätte am liebsten die ganze Welt umarmt. Alles war genauso gekommen, wie sie es erwartet hatte. Die arme Chizuru fiel für den heutigen Abend wohl aus. Dafür würde Takeo jedoch einen Ersatz bekommen, der viel mehr wert war. Chiyo konnte es kaum mehr abwarten. Doch so schwer es ihr fiel, sie würde sich noch ein paar Stunden gedulden müssen. Und heute würde sie es geschickter anstellen als beim letzten Mal. Diese erneute Chance durfte sie nicht in den Sand setzen.  

*****

Chizuru war überrascht, dass es ihr noch gelungen war, in ihre Wohnung zu kommen. Während Schmerzwellen durch ihren Bauch tobten, hatte sie sich am Geländer der Treppe die Stufen hinauf gezogen. Zum Glück wohnte sie im Erdgeschoss. Den Fahrstuhl zu besteigen oder sich noch weitere Treppen empor zu schleppen, hätte sie wohl nicht mehr geschafft.

Kaum hatte sie die Wohnungstür geöffnet, spürte sie, wie ihr der Inhalt ihres Magens in die Kehle stieg. Sie hatte die Tür zugeschmettert und es gerade noch ins Badezimmer geschafft, bevor sie sich in die Toilette erbrach. Und nun kniete sie dort. Die Schmerzen schienen sich durch das Würgen verschlimmert zu haben. Automatisch betätigte das Mädchen die Spülung, presste die Hand auf ihren Bauch und schrie.

Himmel, hörten diese Qualen denn überhaupt nicht wieder auf? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben so etwas durchgemacht zu haben. Es fühlte sich an, als würden zwei Parteien in ihrem Inneren mit ihrem Magen ein Tauziehen veranstalten. Zudem schien es ihr, als wären sämtliche Heizkörper in der Wohnung auf das Maximum eingestellt. Ihr war fürchterlich heiß. Der Schweiß rann über ihren Oberkörper und als sie die Hand von ihrem Bauch nahm, um den Blazer auszuziehen, blieb die Bluse an ihrer Haut kleben.

Die Jacke über ihre Schultern zu streifen, war regelrechte Schwerstarbeit. Kaum hatte sie es geschafft, musste sie erneut würgen. Es befand sich nicht mehr viel in ihrem Magen, so dass  nach einigen Sekunden nur noch Galle zum Vorschein kam.

Die Schülerin wusste, dass sie dringend Hilfe holen musste. Das allerdings würde sie in ihrem jetzigen Zustand kaum schaffen. Sie hatte ihre letzten Kraftreserven verbraucht und war nur noch in der Lage, wimmernd ihre Stirn gegen die Oberseite des Beckens zu drücken. Die Kühle des Porzellans verschaffte keine Linderung.

Was war nur los mit ihr? Lange würde sie das nicht mehr aushalten. Es half nichts, sie musste sich zusammenreißen und mit ihrem Handy Hilfe herbei rufen. Und das Handy befand sich in ihrer Jackentasche.

Sie richtete sich auf und bereute es in der gleichen Sekunde. Es kam ihr vor, als habe ihr jemand ein glühendes Eisen in den Bauch gestoßen. Chizuru riss entsetzt die Augen auf und schnappte nach Luft. Von einem Moment auf den anderen wurde alles schwarz. Das Mädchen kippte zur Seite und blieb reglos auf dem Boden des Badezimmers liegen.

*****

Voller Vorfreude auf sein bevorstehendes Treffen mit Chizuru saß Takeo mit seinen Eltern im Esszimmer und genoss das Abendbrot. Es gab eine leckere Gemüsesuppe, im ersten Moment leicht sauer schmeckte. Doch in der Nachwirkung entwickelte sich ein angenehm scharfes Aroma.

Sein Handy hatte keinen Mucks von sich gegeben. Deshalb hoffte der Junge, dass sich Chizuru wieder erholt hatte. Vielleicht hatte sie sich ins Bett gelegt und wirklich tief und fest geschlafen, so dass sie jetzt wieder fit war. Sie hatte in der Pause ziemlich schlimm ausgesehen. Nach der Schule hatte Takeo überlegt, ob er sie nicht einfach anrufen solle. Aber dann hatte er sich dagegen entschieden. Wenn sie tatsächlich schlief, wollte er sie auf keinen Fall aufwecken.

Als habe seine Mutter geahnt, womit er gedanklich beschäftigt war, fragte sie ihn: „Hast du heute abend noch etwas vor?“

„Ja, ich treffe mich noch mit jemandem.“

„Freut mich, dass du so schnell Anschluss gefunden hast“, meinte sein Vater.

„Ja, die meisten sind ziemlich nett. Aber es gibt auch Nervensägen.“

„Die gibt es überall“, erwiderte Aya Minami.

„Aber zum Glück sind sie den ganzen Tag auf der Arbeit, was?“, grinste Kou seine Frau an, die nur schwach zurück lächelte.  

„Wie sieht es denn bei dir aus?“, erkundigte sie sich.

Kou verzog das Gesicht, doch es war nicht zu erkennen, ob er es aus lauter Qual tat oder weil er damit ein Lächeln andeuten wollte. Er antwortete: „Wir haben irre viel zu tun. Die ganze Maschinerie zur Einführung unseres neuen Spielzeugs ist ja gerade angelaufen. Nach allem, was wir bis jetzt sagen können, scheint das der absolute Renner zu werden. Wir planen gerade die optimalen Fahrtrouten durch, mit denen wir die Großhändler anfahren können. Das kommt einer logistischen Meisterleistung gleich.“

Takeo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Eigentlich war es immer wieder das gleiche. Wenn ein neues Produkt von Tanoshii Enterprises auf den Markt kam, dann waren jedes Mal aufs Neue die altbekannten Probleme zu bewältigen. Das Transportproblem war eines davon. Der Junge verstand überhaupt nicht, warum man dieses Problem nicht löste und für die Zukunft nach der ausgearbeiteten Lösung agierte. Doch das war eines der großen Geheimnisse, in die er wohl erst eingeweiht werden würde, wenn es darum ging, dass er als Nachfolger in den Arbeitsablauf integriert wurde, was erst in ein paar Jahren geschehen würde. Vorher sollte er in aller Ruhe seine Schule zu Ende bringen, in diesem Punkt waren sich seine Eltern einig.

Der Minami-Sprössling erinnerte sich noch sehr gut daran, wie es gewesen war, als sein Vater ihn vor ein paar Jahren zum ersten Mal in ein Werk mitgenommen hatte. Mit leuchtenden Augen hatte er vor dem Sortiment von Spielsachen gestanden. Hätte er sich damals für ein Produkt entscheiden müssen, dann stünde er wohl noch heute in dem Betrieb, unfähig eine Wahl zu treffen.

Die ganzen langen Gänge, die vielen Türen, die riesigen Hallen, alles das hatte ihn regelrecht umgehauen und das größte Rätsel war gewesen, wie sein Vater sich in diesem Labyrinth zurechtfinden konnte. Am meisten beeindruckt hatten ihn jedoch die überdimensionale Maschinerie und Laufbänder, die zur Herstellung benötigt wurden. Sie hatten ihm nicht nur Respekt, sondern auch eine gehörige Portion Angst eingeflößt. Er hatte die ganzen Maschinen aus sicherem Abstand betrachtet, denn es schien ihm, dass sie seinen Arm erfassen und ihn einfach aufessen könnten, wenn er sich zu nah an sie heranwagte.

Auch die Lautstärke war enorm gewesen. Sein Vater hatte ihm zwar Ohrenstöpsel und einen zusätzlichen Gehörschutz gegeben, doch immer noch war eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse zu vernehmen gewesen. Er hatte nicht verstanden, wie die herumlaufenden Menschen bei diesem Lärm arbeiten konnten, ohne den Verstand zu verlieren.

An eine Maschine erinnerte er sich besonders gut. Sie war damals nicht in Betrieb gewesen. Irgend etwas an ihr war kaputt und ein ganzer Tross von Technikern war herumgewuselt und hatte sie repariert. Sie hatte wie ein krankes Tier ausgesehen, dass man betäubt hatte und das nun wieder gesund gemacht wurde. Eine Abdeckung war geöffnet worden und Takeo hatte in das Innere blicken können. Eine riesige Zunge war zu sehen gewesen, die sich jedoch nicht gerührt hatte und an der zwei Männer mit Schraubenziehern zugange waren. Dieses Innenleben war überhaupt nicht zu sehen, wenn die Maschine ihre Arbeit verrichtete, hatte sein Vater ihm damals erklärt, denn die Hauptarbeit leistete die Zunge, die durch die Abdeckung vor neugierigen Blicken geschützt war. Takeo hatte seinen Vater gefragt, wie lange  es dauern würde, bis das Ding wieder einsatzbereit sei. Er hatte sich jeden Tag nach der „Zunge“, wie er sie seitdem immer genannt hatte, erkundigt und zwei Tage nach seinem Besuch in der Fabrik hatte er erfahren, dass die Maschine wieder gesund sei und fauchend und zischend vor Wut, dass jemand ihr intimes Inneres ohne ihr Einverständnis betrachtet hatte, ihre Arbeit tat.

Schon viele Jahre bevor er sich anschauen durfte, wo sein Dad beschäftigt war, war Spielzeug für ihn ein Thema gewesen. Als Takeo vier oder fünf Jahre alt gewesen war, hatte man ihm einen Plüschpinguin mitgebracht. Der Junge war unglaublich beeindruckt gewesen, als er erfahren hatte, dass die Firma seines Vaters diese Tiere selbst herstellte – und neben diesen Tieren noch jede Menge anderer Spielsachen. Er hatte seinen Vater heftig beneidet und ihn sich vorgestellt, wie er mehrere Stunden am Tag in seinem Büro saß und mit verschiedenen technischen Geräten und Marionetten spielte. Was sein Vater tat, war für Takeo ein Traumjob gewesen und er war geradezu versessen darauf, endlich auch mit der Arbeit anfangen zu dürfen.

Mittlerweile war Takeo älter geworden und hatte seine Vorstellung von damals längst abgelegt. Er wusste, was für eine unglaubliche Arbeit sein Vater leisten musste und dass er nicht den ganzen Tag damit beschäftigt war, Spielsachen auszuprobieren. Als Inhaber und Direktor der Firma Tanoshii Enterprises hatte er eine riesengroße Verantwortung. Er musste zu jeder Zeit über Neuerungen der Konkurrenz auf dem Laufenden sein und die Konkurrenz war enorm groß. Und es war auch nicht mehr so einfach, die Konsumenten zufriedenzustellen. Spielwaren wurden nun einmal hauptsächlich für Kinder und Jugendliche produziert und deren Ansprüche waren in den letzten Jahren enorm gestiegen. Da musste man permanent auf Zack sein, um keinen Trend und keine Aktualität zu versäumen.

Durch diese rationale Betrachtungsweise hatte natürlich auch der Wunsch nachgelassen, so schnell wie möglich in der Firma den Dienst aufnehmen zu dürfen. Der Teenager wusste jetzt bereits, dass er unglaublich viel würde lernen müssen. Dagegen war das, was die Schule ihm beibrachte, ein Kinderspiel. Er würde garantiert Jahre brauchen, um so firm zu werden wie sein Vater.

Und es gab noch einen weiteren Unterschied. Im Gegensatz zu Kou konnte sich sein Sohn ins gemachte Nest setzen. Sein Dad hatte schon für ihn vorgearbeitet. Takeo würde über ein prall gefülltes Bankkonto verfügen, über Aktien, Immobilien und Firmenanteile. All das hatte man für ihn bereits erwirtschaftet. So hart er auch später würde arbeiten müssen, es würde nichts sein im Vergleich zu dem, was sein Vater geleistet hatte, denn dieser hatte praktisch aus dem Nichts angefangen. Er war mit leeren Händen schon sehr früh gestartet und hatte diesen gewaltigen Konzern aus eigener Kraft aufgebaut. Alle Niederlassungen mit allem, was zu ihnen gehörte, waren von ihm geplant und in Szene gesetzt worden. Es war Takeo unmöglich, sich vorzustellen, welche Arbeit hinter dem ganzen Aufbau dieses Imperiums steckte und oft fragte er sich, wie sein Vater noch so fit sein konnte.

Der Junge wurde aus seinen Gedanken gerissen, als seine Mutter von ihrer Arbeit zu erzählen begann. Die Geschichte, an der sie gerade für eine große Teenagerzeitschrift arbeitete, kam nicht so recht voran. Aya wollte, dass die beiden Hauptcharaktere sich ineinander verliebten, aber alles, was sie sich an Plänen dafür ausgedacht hatte, kam ihr entweder zu kitschig oder zu unrealistisch vor. Sie erzählte ihrer Familie von der Story und gemeinsam dachten sie über eine Lösung des Problems nach.

Das war etwas, was Takeo liebte: wenn alle beisammen saßen und sich den Kopf darüber zerbrachen, wie es mit einer Geschichte weitergehen könnte, mit der seine Mutter gerade beschäftigt war. Unzählige Stunden hatten sie gemeinsam damit verbracht, sich die unglaublichsten Fortsetzungen auszudenken, begleitet von lautem Gelächter und betretenem Schweigen, wenn es um eine weniger lustige Story gegangen war. Die Familienzugehörigkeit war eines der Dinge, die Takeo am meisten schätzte.

Als die Familie ihr Abendessen beendet hatte und Hitomi, eine ihrer Angestellten, den Tisch abräumen wollte, sagte Kou zu ihr: „Hitomi, sind Sie bitte so freundlich und bringen mir das Päckchen, das auf dem Blumentisch neben der Treppe steht?“

„Sofort, Mister Minami“, antwortete sie gehorsam und eilte aus dem Raum.

„Hast du uns etwa schon wieder Geschenke mitgebracht?“, fragte Aya gespielt drohend.

„Nein, nur einem von euch.“

„Und wem?“, wollte Takeo wissen.

„Das müssen wir erst noch auszählen“, grinste sein Dad.

Hitomi kam mit einem kleinen in braunes Packpapier eingewickelten Päckchen wieder und überreichte es ihrem Arbeitgeber, der sich höflich bedankte. Mit einem verschmitzten Lächeln sagte er seinen Abzählreim auf, wobei mit jeder Silbe sein Zeigefinger zwischen Takeo und Aya hin und her wanderte.

„Ich weiß, du bist sehr drauf erpicht, doch dies Geschenk ist nicht für dich.“

Beim Wort „dich“ zeigte der ausgestreckte Finger auf seine Frau.

„Glaubst du, dass Takeo etwas mit einem Diamantring anfangen kann?“, fragte Aya.

„Klar“, grinste der Junge, „ich habe doch schon mal Sachen auf Ebay versteigert.“

Seine Mutter sah ihn entsetzt an, was von seinem Dad mit einem lauten Lachen quittiert wurde.

„Es ist kein Diamantring, keine Sorge. Aber es ist für dich“, sagte er, während er seinem Sohn das Geschenk entgegen hielt. Dieser nahm es entgegen und schüttelte es vorsichtig. Fragend sah er seinen Vater an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.

Vorsichtig öffnete Takeo das festgeklebte Papier und entfernte es. Zum Vorschein kam eine Figur, genauer gesagt die Hauptfigur aus dem Film, der in einigen Monaten in die Kinos kommen sollte und wegen der die Maschinen von Tanoshii Enterprises gerade hieß liefen. Es war ein Junge und er hieß Saburo. Er trug ein blaues Hemd und eine schwarze Hose, saß auf einem Stein und hatte den Kopf in eine Hand gestützt. Das dunkle Haar fiel ihm über das linke Auge.

„Gefällt sie dir? Es ist die allererste produzierte Figur, die schon bald sehr viel wert sein dürfte. Du bist der erste, der diese Figur bekommt. Am Montag kommt sie in die Läden. Und die Produktion der ersten zehn Figuren wurde von mir persönlich überwacht.“

Takeo war überwältigt. Saburo sah toll aus. Der Makotosohn stellte die Figur auf den Tisch, stand vom Stuhl auf, umarmte seinen Vater und bedankte sich bei ihm. Nachdem sich beide aus der Umarmung gelöst hatten, griff sein Vater in die Innentasche seines Sakkos und holte einen roten Briefumschlag heraus.

„Das gehört auch noch dazu“, erklärte er und gab Takeo den Umschlag. „Es ist ein Zertifikat, dass dein Saburo auch tatsächlich der Prototyp und der Startschuss dieser Reihe ist.“

Takeo wusste nicht, was er angemessenes zu diesem kostbaren Geschenk sagen sollte. Er bedankte sich noch einmal und zeigte die kleine Anfertigung seiner Mutter, die sich Saburo von allen Seiten anschaute, dann auf ihren Mann blickte und meinte: „Er hat ein bisschen Ähnlichkeit mit dir.“

Kou schüttelte grinsend den Kopf: „Nein, ich sah bestimmt nie so aus wie Saburo.“

„Wer redet von Saburo?“, fragte Aya und gab ihrem Sohn die Figur zurück. „Ich meine doch den Stein.“

Mit gespielter Empörung piekste Kou ihr den Finger in die Seite. Dann beugte er sich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf den Mund.

„Hattest du nicht noch eine Verabredung?“, fragte die Japanerin ihren Sohn lächelnd.

„Ich bin schon weg.“ Glücklich schnappte sich Takeo sein neues Spielzeug und den Umschlag und sauste zur Tür.

„Aber um spätestens zehn Uhr wieder hier“, erinnerte ihn seine Mutter.

*****

Unentschlossen stand Takeo vor seinem geöffneten Kleiderschrank und ließ seinen Blick zwischen Pullovern, Sweatshirts und Oberhemden schweifen. Er nahm ein hellbraunes Poloshirt aus dem Schrank, betrachtete es zweifelnd und legte es dann wieder zurück. Schließlich entschied er sich für ein kariertes Hemd, das alle Grüntöne in sich vereinte. Zufrieden darüber, doch noch zu einem Entschluss gekommen zu sein, zog er es an, knöpfte es zu und steckte es in seine Jeans.

Ein Klopfen ertönte, dass seine Augen auf die Tur richtete.

„Herein“, rief er und der Majordomus Hiru betrat das Zimmer. Genau zur richtigen Zeit, dachte der Teenager.

Als er vor einer halben Stunde das Esszimmer verlassen und durch den Gang auf die Treppe zugegangen war, war ihm Hiru entgegengekommen. Takeo hatte die Gelegenheit sofort erfasst und seinen Freund gebeten, später in sein Zimmer zu kommen. Dann hatte der Junge geduscht und sich für die Verabredung fertig gemacht. Und nun gab es nur noch eine Sache zu erledigen, bevor er sich auf den Weg machte.

„Du wolltest mich sprechen, Takeo.“

„Stimmt. Ich möchte Sie bitten, für mich etwas zu erledigen. Wenn ich Ihnen ein Foto von jemandem zeige, von dem ich nur das Bild und keine weiteren Angaben habe, können Sie dann herausfinden, um wen es sich auf dem Foto handelt?“

Hiru zog eine Augenbraue hoch. „Planst du etwa einen terroristischen Akt?“

Der Junge lachte. „Nein, ganz sicher nicht.“ Dann wurde er wieder ernst und erklärte dem Bediensteten, um was es sich handelte.

„Es gibt auf der Carlton Jouchi Daigaku einen Schüler, der sehr an mir interessiert ist. Er beobachtet mich. Allerdings macht er das auf ganz komische Weise. Normalerweise inspiziert man jemanden heimlich, bei ihm ist aber genau das Gegenteil der Fall. Er macht es völlig offen und es macht ihm auch nichts aus, dass ich davon Wind kriege. Deswegen habe ich ihn auch schon mal zur Rede gestellt. Aber er rückt nicht mit seinem Namen raus und auch über Dritte habe ich seinen Namen nicht in Erfahrung bringen können. Er labert irgend etwas von einem Schlüssel, der er sei. Vielleicht ist er plemplem, vielleicht will er sich auch nur wichtig machen. Jedenfalls bin ich es leid, ständig in der Rolle des hilflosen Opfers zu sein. Ich will wissen, wer er ist.“

Hiru nickte. „Klar, kein Problem. Wenn du ein Foto von ihm hast und weißt, dass er auf deine Schule geht, dann reicht mir das schon an Informationen. Wann ich Ergebnisse habe, kann ich dir allerdings nicht sagen.“

„Das ist vollkommen in Ordnung. Hauptsache, es wird endlich mal etwas unternommen.“

„Gut, dann mache ich das. Hast du ein Foto von deiner Klette?“

„Nein, habe ich noch nicht“, lächelte Takeo verlegen. „Aber ich werde am Montag oder Dienstag ein paar Fotos von ihm machen und sie Ihnen dann zeigen.“

Hiru nickte. „Freut mich, wenn ich dir behilflich sein kann. Hast du dich über die Figur gefreut, die dein Vater dir geschenkt hat?“

Takeo nickte und deutete auf seine Vitrine. „Und wie ich mich freue. Da steht Saburo. Sie wissen nicht zufällig irgendwelche Einzelheiten über den Film, oder?“

Der Majordomus grinste ihn an. „Wenn dir dein Dad nichts verrät, glaubst du dann allen Ernstes, dass er mir mehr erzählen würde?“

„Eigentlich nicht. Aber einen Versuch war es doch wert.“

„War aber ein ziemlich schwacher Versuch. Samuel wird dich übrigens heute fahren. Wohin soll es denn gehen?“

„Ich bin vor dem Buchladen verabredet.“

„Gut, dann fährt Samuel dich dorthin und holt dich um viertel vor zehn dort auch wieder ab.“

„Geht klar. Danke, Hiru.“

Der Mann verließ das Zimmer und ließ einen glücklichen Teenager zurück. Der heutige Tag war wirklich toll, obwohl er so schlecht angefangen hatte. Dem Schreck über Chizurus Gesundheit war ein tolles Geschenk gefolgt. Und nun würde er auch bald wissen, wer dieser komische Knilch war, der ihn fortwährend observierte.

Takeo schnappte sich seine schwarze Lederjacke, legte sie sich über den Arm und spazierte auf den Gang hinaus. Ein toller Abend lag vor ihm und er hatte vor, ihn in vollen Zügen zu genießen.

*****

„Guck mal, da könnten wir doch einen Teil unseres Finderlohnes anlegen.“

Tetsuya packte seinen Bruder am Arm und deutete zum Trödelladen auf der anderen Straßenseite. Die Zwillinge gingen zum Laden hinüber und inspizierten die Waren, die sie durch das Schaufenster lockten, sie mitzunehmen. Ein altes Bild war zu sehen. Es zeigte zwei Frauen, die im Regen durch einen Park gingen. Eine der beiden hatte einen Regenschirm aufgespannt, um vor der Nässe geschützt zu sein. Neben dem Bild standen zwei graue Bücher, in denen es um den Anbau von Tee ging. Altes Porzellan und Besteck war genauso vertreten wie Post- und alte Landkarten.

„Was sollen wir denn da drin? Das ist doch bloß alter Plunder. So was brauchen wir doch nicht“, beschwerte sich Makoto.

„Hey, sag nichts gegen alten Plunder“, meinte Tetsuya. „Dich behalte ich ja schließlich auch.“

„Du bist heute wieder so witzig, so schnell kann man gar nicht dagegen an lachen.“

Der einige Sekunden ältere Zwilling grinste seinen Bruder an, dann öffnete er die Tür zum Laden und bedeutete Makoto mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Seufzend gab dieser nach.

Im Inneren des Geschäftes kam es den Zwillingen jedoch so vor, als beträten sie eine andere Weilt in einer anderen Zeit.  Der Laden war ziemlich dämmrig, trotzdem konnte man alles gut erkennen. Es roch nach alten Gegenständen, doch der Geruch war nicht unangenehm oder durchdringend, sondern gerade so dezent, dass man das Gefühl bekam, er gehöre hierher.

Hohe Regale beherbergten die verschiedensten Dinge. Drei schwere Holztruhen waren in dem kleinen Laden verteilt. Bücher, Schallplatten, Möbel, Schmuck und viele andere Sachen erweckten den Anschein, als kämen sie aus einer längst vergessenen Welt. Eine Welt, in der sie nichts mehr zu suchen hatten und jetzt stumm, aber begierig darauf warteten, etwas von einer neuen Welt zu erfahren, in die sie bereit waren hineinzugleiten.

Die beiden Jungen hielten den Atem an. Sie wagten kaum zu atmen, geschweige denn laut zu sprechen, als läge dieser Ort in tiefem Schlaf, aus dem sie ihn auf keinen Fall wecken wollten.  Vorsichtig setzten die Zwillinge einen Fuß vor den anderen und bewegten sich durch den Raum. Flach atmend inspizierten sie die ganzen Gegenstände.

Makoto öffnete eine der Truhen und rechnete schon damit, dass sich der Deckel mit Knarren und Quietschen öffnen würde, aber das tat er nicht. Völlig geräuschlos bewegte er sich in seinem Scharnier und bekundete dadurch den Respekt den anderen Dingen gegenüber, die sich in diesem Laden befanden. Im Inneren der Truhe befand sich Kleidung, die ebenfalls aus einer anderen Epoche zu stammen schien. Kleider, Hemden, Hosen und Anzüge, die allesamt wohl schon bessere Zeiten erlebt hatten, aber noch in gutem Zustand waren. Allerdings war das nichts für Makoto, der die Truhe wieder schloss, nachdem er einen Blick hinein geworfen hatte.

Tetsuya war währenddessen bei Büchern angelangt. Eine hohe Regalwand enthielt Druckwerke unterschiedlichsten Alters und aus mehreren Ländern. Es gab Bücher in japanisch, deutsch und noch anderen Sprachen, die Tetsuya nicht eindeutig bestimmen konnte. Die Seiten der Bücher waren teilweise bereits vergilbt, doch keines litt unter Papierzerfall, obwohl ein paar Exemplare zwei Jahrhunderte alt waren. Ehrfürchtig griff Tetsuya nach einem Buch und behandelte es wie ein rohes Ei, als er darin herumblätterte. Das Werk war in Schriftzeichen geschrieben, die Tetsuya nicht kannte, aber offenbar handelte es sich um eine Art Reiseführer. Zahlreiche Karten und Bilder von Männern und Frauen in typischer Tracht waren zwischen den Seiten abgebildet. Tetsuya stellte das Buch wieder zurück und fragte sich, wer so viel Geld hatte, um sich diese Kostbarkeiten leisten zu können. Denn obwohl das hier ein Trödelladen war, konnte der Schüler sich nicht denken, dass die Bücher lediglich für ein paar Dollar ihren Besitzer wechselten.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Tetsuya blickte erschrocken auf und wandte den Kopf in die Richtung, aus der er die leise Stimme vernommen hatte. Hinter einem Tresen stand ein Mann mit einem weißen Vollbart. Er musste um die sechzig Jahre alt sein und trug eine Art Hausmeisterkittel. Freundlich lächelte er seinen Kunden an.

„Nein, danke“, antwortete Tetsuya höflich, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte. „Ich schaue mich nur ein bisschen um. Es ist wirklich beeindruckend.“

„Suchen Sie sich nur das aus, was Ihnen gefällt. Und lassen Sie sich Zeit. Dies ist der ideale Ort, um sich Zeit für seinen Einkauf zu lassen. Viele Kunden sagen mir, dass sie das Gefühl hätten, hier sei die Zeit stehen geblieben.“

Der Verkäufer vertiefte sich in ein Buch und ließ seinen Kunden mit dem Inventar allein.

Die beiden Jungen verbrachten viel Zeit in dem Trödelladen und schließlich trafen sie bei den Lampen wieder zusammen.

„Guck mal, sieht die nicht toll aus?“ Tetsuya griff nach einer kleinen Tischlampe. Ihr Fuß war aius Messing mit allerlei Verzierungen. Es waren keine Bilder, sondern nur einfache Wellenlinien, die dem ganzen aber den Gedanken einflößten, dass es sich bei diesem Stück um etwas Besonderes handelte. Der Schirm der Lampe bestand aus Glas und erst jetzt fiel den Zwillingen etwas auf, das ihnen vorher entgangen war. Obwohl ausnahmslos alle Gegenstände in diesem Laden ziemlich alt sein mussten, waren sie nicht verstaubt. Offenbar achtete der Besitzer sehr darauf, dass es hier sehr sauber war und dass die Möbel, Lampen, Bilder und alles andere regelmäßig saubergemacht wurde.

„Ja, sie sieht schon gut aus“, pflichtete Makoto seinem Bruder flüsternd bei. „Aber sie passt überhaupt nicht zu unserer Einrichtung. Und wo willst du sie überhaupt hinstellen?“

Tetsuya winkte ab und Makoto kannte diese Geste nur zu genau. Es war schon eine beschlossene Sache. Sie würden diese Lampe mitnehmen und Tetsuya musste schon von einem Bus überfahren werden, um ihn daran zu hindern, das Ding nicht zu kaufen. Es störte ihn auch nicht, dass der Gegenstand nicht zu ihrer Einrichtung passte. Er würde schon einen Platz finden, an dem er die Lampe aufstellen konnte.

„Hier gehe ich ab jetzt öfter hin, ob du mitkommst oder nicht“, verkündete Tetsuya mit leiser Stimme und ging mit der Lampe an den Tresen.

Der alte Mann verlangte vierzig Dollar für das edle Stück. Makoto zuckte zusammen, doch sein Bruder war der Meinung, dass die Lampe ihr Geld wert war. Ohne zu überlegen zückte er seine Geldbörse und legte dem Verkäufer das Geld auf die hölzerne Oberfläche des Tresens.  Die beiden Jungen verabschiedeten sich und traten wieder hinaus in die Gegenwart. Vom grellen Tageslicht geblendet, kniffen sie die Augen zusammen, bis die Pupillen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann traten sie den Weg nach Hause an.

„Hast du schon eine Ahnung, wo du sie hinstellst?“, wollte Makoto wissen.

„Nein, aber ich finde schon einen Platz für sie. Und wenn ich dafür ein paar Dinge aus der Wohnung entfernen muss. Diese Lampe wird irgendwo bei uns aufgestellt, soviel ist sicher.“

*****

Jetzt wurde es aber allmählich Zeit, dass Chizuru sich blicken ließ. Sie hatte noch zwei Minuten bis zur verabredeten Zeit und normalerweise war sie eher zu früh als zu spät an einem Treffpunkt. Takeo begann, sich Sorgen zu machen. Vielleicht waren die Bauchschmerzen doch schlimmer gewesen, als sie zugeben wollte? Oder schlief seine Klassenkameradin etwa noch?

Der Schüler beschloss sie anzurufen. Er zückte sein Handy und tippte ihre Nummer ein. In der ersten Nachhilfestunde hatten sie ihre Telefonnummern ausgetauscht, für den Fall, dass der eine dem anderen wegen Terminschwierigkeiten absagen musste oder falls Takeo bei einer Aufgabe einmal nicht weiter wusste.

Der Junge ließ es zehnmal klingeln, bevor er wieder auflegte. Hatte Chizuru ihr Handy ausgeschaltet? Aber dann hätte sich ihr Anrufbeantworter melden müssen.

Während Takeo noch grübelte, sah er, wie ihn ein fremdes Mädchen ansteuerte. Hoffentlich will sie nicht zu mir, dachte er sich. Noch mehr Stalker kann ich absolut nicht gebrauchen.

Doch Takeos Gebete wurden nicht erhört. Sie blieb vor ihm stehen und lächelte ihn an.

„Hi!“

„Hallo“, erwiderte Takeo mit einer Stimme, die deutlich machte, dass er überhaupt keine Lust verspürte, sich mit ihr zu unterhalten. Das hinderte das Mädchen jedoch nicht daran, wenigstens zu versuchen, ein Gespräch mit ihm in Gang zu bringen.

„Sag mal, du bist doch der neue Schüler von der Carlton Jouchi Daigaku, oder?“

Takeo glaubte es nicht. Was wollten sie alle von ihm? Hatte er ein Schild auf der Stirn, auf dem stand, wo er zur Schule ging? Langsam hatte er wirklich die Nase voll.

„Sagt mal, habt ihr einen Wettbewerb gegründet? Wer innerhalb von dreißig Tagen den meisten Menschen auf die Nerven geht, der hat gewonnen? Habe ich da irgendeine Ausschreibungsfrist verpasst? Kann man in eurem Verein Mitglied werden?“

„Du bist irgendwie nicht gut drauf, was? Es spricht sich halt herum, wenn jemand mitten im Schuljahr an die Schule kommt. Sag mal, du hast doch auch bei verschiedenen Lehrern Unterricht. Ich will eigentlich nur wissen, ob eines deiner Fächer von einem Mister Akabashi gelehrt wird.“

„Nein, den kenne ich nicht. Aber vielleicht wird er irgendwann mal bei mir Unterricht erteilen. Ich sage dir dann Bescheid.“

„Nicht mehr nötig, das hat sich dann schon erledigt. Danke für die Auskunft.“

Und damit war sie auch schon wieder verschwunden.

Takeo schüttelte den Kopf. Was war nur mit den Leuten an seiner Schule los? Der Junge vermutete stark, dass ein Großteil von ihnen Drogen konsumierte. Anders konnte man nicht so nervtötend werden. Es sei denn, es kam nicht von Drogen, sondern von etwas anderem. Er musste unbedingt im Kalender nachsehen, ob heute nicht Vollmond war.

*****

Chiyos Herz machte einen Hüpfer, als sie Takeo erkannte, der vor dem Buchladen wartete. Seit einer halben Stunde hielt sie sich bereits in diesem Geschäft auf und ging vor Langeweile fast ein. Wie konnten die Leute ihre Zeit nur mit so stumpfsinnigen Dingen wie Lesen vergeuden? Sie war durch die Regale gegangen, hatte an allen Stellen geschaut, ob es nicht irgendwo ein Buch gab, das sie interessierte.

Die Abteilung der Schul- und Lehrbücher hatte sie so schnell wie möglich hinter sich gelassen. Jede andere Sparte dürfte weitaus interessanter sein. Doch diese Meinung hatte sie sehr schnell wieder geändert, als sie in den Hobbybereich kam. Gott, es gab tatsächlich Bücher über Stricken und Gartenarbeit. Das durfte doch nicht wahr sein! Die Leute, die strickten, hielten sich doch alle im Altersheim auf. Und dort landete man ja wohl nicht ohne Grund. Es war doch allgemein bekannt, dass bei alten Leuten die Sehkraft auch nicht mehr die allerbeste war. Wozu, um alles in der Welt, wurden für diese Menschen Bücher gedruckt, wenn sie sie sowieso nicht lesen konnten?

Als Chiyo das erste Buch zum Thema Nähen entdeckt hatte, hatte sie wirklich an der Intelligenz der Menschen gezweifelt. Welcher Schwachkopf nähte heutzutage noch seine Klamotten selbst? Es gab an jeder Straßenecke Bekleidungsgeschäfte, die alles schon fix und fertig anboten. Und deren Sachen sahen viel besser aus als das, was man selber so zusammenschusterte. Nur Leute, die unter Geschmacksverirrung litten, fertigten sich ihre Kleidung selbst an.

Die Belletristikabteilung war da schon eher Chiyos Fall. Doch über die Bücher des Genres Science Fiction hatte sie nur die Nase gerümpft. Um diese Lektüre zu verstehen, musste man ja erst einmal in den Bereichen Physik und Astronomie studiert haben. Die ganzen Fachbegriffe der Raketen und UFOs verstand ja wirklich kein Mensch. Also fiel auch dieser Bereich aus.

Krimis sagten Chiyo am meisten zu. Doch so spannend sich die Klappentexte auch anhörten, jeder einzelne Band hatte einen entscheidenden Nachteil: er war einfach zu dick. Sie hatte überhaupt keine Lust, sich durch mehrere hundet Seiten zu quälen. Wie schafften das nur andere Leute, ohne einzuschlafen?

Kinderbücher kamen ganz und gar nicht in Frage. Sie war kein Kind mehr, sondern bereits erwachsen. Niemand würde sie dazu bringen, Bücher zu lesen, die in einer Ausdrucksform geschrieben waren, in der andere Menschen mit Schwachsinnigen redeten.

Auch an den Hörbüchern hatte Chiyo etwas auszusetzen. Sie wusste, dass sie nicht die Geduld aufbringen würde, einige Stunden irgendeinem faselnden Idioten zuzuhören. Und wenn sie die Bilder der Vorleser sah, verging ihr sowieso alles. Das waren gewiss nur den Text herunterleiernde Typen, die sich keine Mühe machten, alles spannend und anregend zu präsentieren, sondern froh waren, wenn sie ihren Job so schnell wie möglich erledigen konnten.

Kurz und gut: so breit das Angebot an Büchern auch war, für Chiyo war nichts lesbares dabei.

Natürlich konnte das Mädchen sich nicht in aller Ruhe bei den Büchern umsehen, da sie alle paar Minuten zum Eingang lief, um dort aus dem Fenster zu sehen. Um keinen Preis der Welt durfte sie Takeo verpassen. Schließlich hatte sie einiges dafür getan, sich an diesem Abend mit ihm treffen zu können.

Und dann hatte sie schließlich Takeo entdeckt. Er stand vor dem Buchladen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Die Lederjacke, die er trug, war wirklich schön. Chiyo musste sich zusammenreißen, um nicht sofort aus dem Laden zu stürmen. Er konnte noch nicht lange hier sein, und es wäre allzu auffällig gewesen, wenn sie sich so schnell gezeigt hätte. Außerdem war die verabredete Zeit noch nicht erreicht, so dass der Junge garantiert noch einige Minuten warten würde. Allerdings würde ihn Chiyo in dieser Zeit keine einzige Sekunde aus den Augen lassen.

Als der Teenager sein Handy aus der Tasche zog und anfing zu telefonieren, konnte Chiyo sich sofort denken, wen er anrufen würde. Und wenn es ihm gelang, Chizuru zu erreichen, dann würde sie ihm mitteilen, dass die Verabredung geplatzt war. Chiyo blieb nichts anderes übrig, als sofort zu handeln.

Noch während sie sich umdrehte, um zur Tür zu laufen, platzte einer Kundin dort eine Tüte und mehrere Bücher purzelten zu Boden und versperrten den Eingang. Was für eine ungeschickte Kuh, dachte sich die Schülerin. Der Eingang war blockiert und sie würde Takeo vielleicht nicht rechtzeitig genug erreichen, um ihm vom Gehen abzuhalten.

Doch noch einmal hatte sie Glück. Ein anderes Mädchen kam auf den Jungen zugelaufen und verwickelte ihn in ein Gespräch. Chizurus Gegenspielerin trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Es fehlte ihr gerade noch, dass Takeo mit dem soeben aufgetauchten Girl verschwand. Hoffentlich scherte sich dieses Miststück bald weg und zwar alleine.

Verschwinde, verschwinde endlich, sendete Chiyo ihr in Gedanken zu und ein paar Augenblicke später leistete sie der Aufforderung Folge und ging weiter die Straße hinunter.

Jetzt oder nie, dachte sich Chiyo. Mittlerweile war der Eingangsbereich wieder frei und Takeo hoffte immer noch darauf, dass seine Verabredung erscheinen würde. Aber darauf kannst du lange warten, grinste Chiyo im stillen. Wenn ich etwas mache, dann mache ich es gründlich. Vor morgen brauchst du nicht mehr mit deiner kleinen Freundin zu rechnen.

Anstandshalber nahm sie sich ein kleines Taschenbuch aus einem Regal, bezahlte es und verließ den Laden.

„Takeo!“, rief sie aus, als sie die Steinstufen hinunter stieg. „Das ist aber eine Überraschung!“

Und dann noch so eine unangenehme, dachte sich der Schüler, als er erkannte, wer ihn da so freudig begrüßte. So toll der Abend bis jetzt gelaufen war, nun drohte er ein vollkommenes Desaster zu werden. Chiyo war wirklich die allerletzte Person, die er jetzt sehen wollte.

„Hallo“, sagte er aus Höflichkeit.

„Guck mal, das habe ich mir gerade hier gekauft.“ Mit strahlendem Gesicht hielt sie ihm das Buch vor die Nase.

„Bunbury“, las Takeo, um dann hinzuzufügen: „Anspruchsvolle Kost.“

„Nun ja“, lachte Chiyo, „man kann ja nicht immer nur die seichten Bücher verschlingen.“

Dem Teenager kam der Gedanke, dass seine Gesprächspartnerin ohnehin anstelle von Büchern lieber Jungen verschlang. Und die Dauer dieser Beziehungen war wohl ähnlich lang wie das Lesen eines Buches.

„Wartest du hier auf jemanden?“

„Allerdings. Aber ich glaube, ich wurde versetzt. Hat wohl keinen Sinn, noch länger hier zu bleiben.“

Takeo drehte sich um. Er verspürte nicht das Bedürfnis, weiter hier zu stehen und sich von Chiyo nerven zu lassen. Mittlerweile war er davon überzeugt, dass Chizuru sich nicht mehr blicken lassen würde. Wenn sie sich verspäten würde, dann hätte sie ihn sicher angerufen. Dass er sie nicht ans Telefon bekam, lag sicher daran, dass sie noch in ihrem Bett lag und schlief. Takeo gönnte es ihr. So schlecht, wie es ihr gegangen war, war es das wichtigste, dass sie schnell wieder gesund wurde. Das war auf alle Fälle wichtiger als jede Verabredung.

Chiyo griff nach seinem Arm und sagte: „Warte doch mal. Ich finde es überhaupt nicht toll, dass man dich versetzt hat. Wenn du magst, dann können wir doch zusammen etwas unternehmen.“

„Warum sollte ich mit dir etwas unternehmen wollen?“, wollte Takeo wissen.

„Unsere letzte Verabredung hast du ja ziemlich abrupt beendet. Ohne dass ich die Möglichkeit hatte, Stellung zu den ganzen Dingen zu nehmen. Gib mir eine Chance, dir zu zeigen, dass ich gar nicht so schrecklich bin, wie andere immer sagen.“

Warum konnte sie ihn nicht einfach seiner Wege gehen lassen? Anscheinend merkte sie überhaupt nicht, dass er keinerlei Interesse daran hatte, den Abend mit ihr zu verbringen. Wie sollte sie auch, sie interessiert sich ja hauptsächlich für sich selbst, rief sich der Junge ins Gedächtnis. Das war auch etwas, was viele von den Schülern, die ihn vor Chiyo gewarnt hatten, ausdrücklich zur Sprache brachten.

Er holte tief Luft, lächelte sie an und antwortete im freundlichsten Ton, zu dem er in der Lage war: „Das brauchst du mir gar nicht zu zeigen. Ich habe mir schon meine Meinung über dich gebildet. Und die hat nichts damit zu tun, was andere mir erzählt haben. Ich habe einen Eindruck von dir im Schülercafé bekommen. Und wie heißt es so schön: Der erste Eindruck ist immer der richtige.“

„Es heißt aber auch, dass jeder eine zweite Chance verdient, oder?“

„Na gut. Angenommen, ich würde mit dir den Abend verbringen wollen. Dem ist nicht so, aber angenommen. Was schlägst du denn vor, das wir unternehmen sollen? In dieser Gegend ist abends nicht mehr soviel los.“

„Wir könnten in den nächsten größeren Ort fahren und dort in einer Bar etwas trinken oder so.“

„Aber wir wissen auch, wie es endet, wenn wir irgendwo etwas trinken gehen.“

„Das muss aber ja nicht jedes Mal passieren“, gurrte Chiyo und strich ihm über den Arm. „Deine Lederjacke gefällt mir richtig gut.“

Takeo ging überhaupt nicht auf diese Anmache ein, sondern sagte: „Dazu müssten wir erst einmal in den nächsten größeren Ort kommen. Und dann auch wieder zurück. Und ich muss um zehn wieder zu Hause sein.“

„Was?“, meinte Chiyo und ihr Erstaunen war nicht gespielt. „So früh schon? Das klingt echt, als hättest du die spießigsten Eltern der Welt.“

Bleibe ganz ruhig, ermahnte sich Takeo. Du bist anständig erzogen worden, also lasse dich von ihr nicht provozieren. Innerlich jedoch kochte er. Was fiel ihr eigentlich ein, sich so ein Urteil zu erlauben?

„Du bist ziemlich selbstgerecht. Wie kommst du eigentlich dazu, so über jemanden zu reden, den du überhaupt nicht kennst? Du weißt nicht das geringste über meine Eltern. Und selbst wenn du etwas über sie wüsstest, so gibt dir das noch lange nicht das Recht, über sie herzuziehen. Sieht so aus, als hättest du deine zweite Chance noch gründlicher und schneller verkackt als die erste.“

„Es ist total rückschrittlich, von jemandem zu verlangen, dass er um zehn Uhr bereits zu Hause sein muss“, versuchte Chiyo zu retten, was nicht mehr zu retten war.

„Mag sein, aber das erwartet man von mir und ich habe gelernt, auf meine Eltern zu hören. Du musst das natürlich nicht mehr tun. Aber vielleicht solltest du dir mal mehr Respekt deinen Mitmenschen gegenüber angewöhnen.“

Chiyo sah ihn an, als hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben. Sie wusste überhaupt nicht, was sie erwidern sollte.

„Du wirst den Abend schon ohne mich herumkriegen“, teilte Takeo ihr mit. „Wir sehen uns hoffentlich nicht in der Schule.“

Damit ging er davon, ohne sich noch einmal umzublicken. Chiyo stand völlig perplex da und schaute ihm mit offenem Mund hinterher. So hatte noch nie jemand mit ihr geredet. Noch lange dachte sie darüber nach, was sie eigentlich falsch machte, dass Takeo nichts von ihr wissen wollte.



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