Ein Hundstag |
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Nach einem ordentlichen Frühstück machten sich die Zwillinge Makoto und Tetsuya Sakurai auf den Weg zur Carlton Jouchi Daigaku. Dieser Morgen war angenehm ruhig verlaufen, was absolut nicht an der Tagesordnung war. Normalerweise geschah bei den beiden Jungen morgens immer alles in großer Hektik, weil ihre schönen warmen Betten so bequem waren, dass sie zu spät aufstanden und dann in Zeitdruck gerieten. Doch heute war es anders gewesen. Sie hatten in aller Ruhe ihre Schuluniformen angezogen und anschließend noch gefrühstückt, was an den anderen Morgen immer reichlich eng wurde. Und jetzt reichte die Zeit sogar noch, um gemütlich zur Schule zu schlendern und trotzdem noch rechtzeitig zur ersten Unterrichtsstunde zu erscheinen. Die Zwillinge entschlossen sich, die Abkürzung durch den Park, der in der Nähe ihrer Wohnung lag, zu nehmen. Sie wohnten alleine in einer Art Zweier-WG, Eltern hatten sie keine mehr. Diese waren vor zwei Jahren, kurz nachdem Makoto und Tetsuya in ihrer neuen Schule aufgenommen worden waren, beim Bergsteigen tödlich verunglückt. Ein Fels hatte sich unter den Füßen ihres Vaters gelockert, so dass dieser den Halt verloren und seine Frau mit in den Tod gerissen hatte. Es hatte eine lange Zeit gedauert, bis die beiden Jungen anfingen, den Tod ihrer Eltern zu verarbeiten. Weil sie so niedergeschlagen waren und nicht in der Lage waren, dem Schulunterricht aufmerksam zu folgen, hatten sie sogar das erste Schuljahr wiederholen müssen. Schließlich waren sie in eine leer stehende Wohnung gezogen und hatten sich dort eingerichtet. Die Wohnung war eine Viertelstunde zu Fuß von der Schule entfernt, daher gingen die beiden Jungen jeden Morgen per pedes zu ihrer Lehranstalt. Das Zusammenleben in der Wohnung klappte recht gut. Es gab wenige Probleme, was die Zusammenarbeit im Haushalt anging. Dank eines ausgefeilten Putz- und Haushaltsplans wusste jeder, was er wann beizutragen hatte, damit die Wohnung nicht im größten Chaos unterging. In den letzten Tagen hatte sich das Wetter abgekühlt, aber wenigstens regnete es nicht. Zu dieser frühen Morgenstunde war im Park noch nicht viel los. Vereinzelt trabten ein paar Jogger an den Zwillingen vorbei und ab und zu begegnete ihnen ein Radfahrer oder Fußgänger. Makoto hörte als erster das leise Fiepen, blieb stehen und legte den Kopf schief. Im ersten Moment hatte Tetsuya gar nicht mitbekommen, dass sein Bruder Halt gemacht hatte und war noch ein paar Meter weiter gelaufen. Als er dann endlich erkannte, dass der eine Minute jüngere Zwilling nicht mehr neben ihm lief, war er wieder zurück marschiert. „Bist du auf einen Kaugummi getreten, oder warum stehst du hier so rum?“ Makoto schüttelte heftig den Kopf, um Tetsuya zu verstehen zu geben, leise zu sein. Nun lauschte auch der zweite Junge und hörte ebenfalls das Fiepen. „Das kommt dort vorne aus dem Busch“, sagte Tetsuya und war schon unterwegs. Er lief über die Wiese, ging vor den grünen Zweigen in die Hocke und bog sie auseinander. Die Zwillinge konnten kaum glauben, was sie sahen. Im Busch saß zitternd vor Angst ein kleiner Schäferhund. Er musste noch sehr jung sein und schaute seine beiden Entdecker mit einer Mischung aus Neugier und Furcht an, wobei die Furcht einen größeren Anteil hatte. „Hey, was machst du denn da drin?“, fragte Tetsuya, doch das Tier zog sich nur ein kleines Stück zurück. Der Junge ließ seinen Rucksack vom Rücken gleiten, öffnete ihn und wühlte darin herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er wickelte sein Pausenbrot aus, klappte es auf und nahm die Salamischeibe herunter. Dann riss er sie in der Mitte auseinander und hielt die eine Hälfte dem Hund hin. „Hast du Hunger?“, fragte er freundlich. Der Hund streckte seine Nase ein wenig vor und schnupperte, rührte sich aber ansonsten nicht. Inzwischen war auch Makoto beim Busch angekommen und hatte den Vierbeiner entdeckt. „Meine Güte, er zittert ja vor Schreck“, bemerkte Makoto. „So ging es mir auch, als ich dich das erste Mal gesehen habe“, antwortete sein Bruder, zerteilte eine Hälfte der Wurstscheibe noch einmal und warf sie vor die Pfoten des Hundes. Jetzt erfolgte die gewünschte Reaktion. Das Tier schnupperte an der Wurst und vertilgte sie. Das zweite Viertel hielt Tetsuya dem Vierbeiner am ausgestreckten Arm entgegen und ließ es sanft baumeln. „Magst du noch mehr?“ Jetzt wurde der Hund mutiger. Er reckte seinen Kopf vor und schnappte dem Jungen das Stück aus der Hand. „Wie der wohl hierher kommt?“, fragte sich Makoto. „Entweder jemand hat ihn hier abgesetzt oder er ist von selber in den Busch gekrochen.“ Tetsuya streckte seine leere Hand noch ein wenig weiter vor und wedelte mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger vor der Nase des Vierbeiners herum. Dieser kroch ein bisschen näher, beschnupperte die Finger und schleckte sie ab. Tetsuya zog sie langsam zurück. Das Tier blieb, wo es war. Der Zwillingsjunge teilte den Rest der Salami wieder in zwei Hälften und abermals fraß der Hund eine davon, als Tetsuya sie ihm entgegen hielt. Als das Tier dann wieder an den Fingern schnüffelte, wurde der Schüler mutiger und streichelte vorsichtig den Kopf des Hundes. Nun war der Rest der Salamischeibe an der Reihe und noch während der Hund mit Fressen beschäftigt war, hob ihn Tetsuya hoch, zog das Tier aus dem Busch und drückte es sanft an sich. „Du bist ein total lieber Hund“, stellte er leise fest und der Vierbeiner versuchte, an seine Finger zu gelangen. „Ist er verletzt?“, fragte Makoto. „Sieht nicht so aus.“ „Was hat er denn da drin gemacht?“ „Das hast du doch gesehen“, antwortete Tetsuya ironisch. „Er ist Riesenrad gefahren.“ Makoto ging auf die dumme Bemerkung gar nicht ein. „Ist es überhaupt ein ‚er’?“ Sein Bruder hob den Hund ein wenig höher und sah nach. „Negativ. Eindeutig ein Mädchen“, stellte er fest. Der Hund ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und schleckte über Tetsuyas Nase, was der Schüler mit einem Lachen quittierte. „Guck mal, er hat ein Schild um den Hals.“ Makoto griff nach dem eingeschweißten Zettel, auf der sich ein Name und eine Adresse befanden. „Wahrscheinlich sein Zuhause. Dort können wir ihn hinbringen.“ „Später“, brummte Tetsuya. „Zuerst nehmen wir ihn mit zur Schule.“ „Was ist denn das jetzt wieder für eine Schnapsidee? Wir kriegen riesigen Ärger. Tiere sind im Unterricht streng verboten.“ „Ach Bruderherz“, seufzte Tetsuya. „Hast du denn nicht mehr Verstand als von hier bis da? Überlege doch mal ein bisschen. Was haben wir in der ersten Stunde?“ „Biologie bei unserer Lieblingslehrerin.“ „Siehst du. Und wenn auch alle anderen Lehrer vielleicht nichts sagen werden, sie wird es garantiert tun.“ „Da kannst du aber sicher sein. Sie wird uns hochkant aus dem Unterricht werfen und uns sagen, dass wir den Hund loswerden sollen.“ „Genau. Und das verschafft uns die Gelegenheit auf einen freien Schultag. Wenn wir den Hund jetzt zu seinem Besitzer bringen, haben wir nur eine oder zwei Schulstunden verloren. Gehen wir aber zuerst zur Schule …“ Tetsuya beendete den Satz nicht, aber das war auch gar nicht nötig. Man sah seinem Bruder an, wie ihm eine Laterne aufging. „Eine gute Idee“, grinste er. „Dann machen wir uns doch mal auf und bringen unser Anschauungsobjekt in den Biologieunterricht. Das lockert die Stunde gleich ein wenig auf.“ „Vor allem für uns“, stellte Makoto fest und die Zwillinge setzten ihren Weg zur Schule fort, wobei die Jungen abwechselnd den Hund streichelten und mit ihm redeten. *****
„Glaubst du, sie hat aufgegeben“, fragte Chizuru ihren Klassenkameraden. Takeo lachte verächtlich. „Eher wird der Teufel zum Papst gewählt. Sie gibt nicht auf. Jedenfalls nicht, solange sie noch atmen kann.“ „Aber warum reagiert sie dann nicht?“ „Das ist bestimmt alles Berechnung.“ Der Teenager hatte seine rechte Hand in die Tasche seiner Schuluniformjacke gesteckt und drehte den Tannenzapfen, der sich in der Tasche befand, hin und her. Eine Woche war vergangen, seit Takeo mit Chiyo in das Café gegangen war. Die verplemperte Zeit tat dem Teenager immer noch leid. Doch Chiyo hatte sich seit jenem Nachmittag nicht wieder bei Takeo gemeldet. Sie hatte keinerlei Versuche unternommen, um mit ihm zu sprechen, hatte auch keine Freundinnen vorgeschickt. Es war so, als habe sie den Jungen nie gesehen. Auch wenn sie in der Nähe war, beispielsweise in den Pausen, hatte sie ihn keines Blickes gewürdigt. Chizuru dachte, dass sie es eingesehen hatte und Takeo nun in Ruhe ließ, aber der Schüler wusste es besser. Chiyo war nicht der Typ, der bei einem Misserfolg klein bei gab. Sie führte sicher etwas im Schilde und Takeo hätte sehr gerne gewusst, was das sein konnte. „Bist du mit Geographie klar gekommen?“, erkundigte sich Chizuru. Im ersten Moment war Takeo über den plötzlichen Themenwechsel verblüfft, aber dann nickte er. „Und wie sieht es mit diesem mysteriösen Jungen aus? Hast du von dem mal wieder etwas gehört?“ „Nein, seit der Geschichte mit dem Schulbuch nicht mehr. Auch diese komischen Anrufe sind nicht mehr vorgekommen.“ Der Schüler hatte seiner Klassenkameradin von dem ersten anonymen Anruf, bei dem der Anrufer ohne ein Wort zu sagen einfach aufgelegt hatte und auch von dem zweiten Anruf, den seine Mutter angenommen hatte, erzählt. Natürlich hatte Chizuru auch zu den Telefonaten eine Meinung gehabt. Sie war wie Takeo der Meinung, dass es sich hierbei um Spaßanrufe gehandelt haben musste. Allerdings konnte sie nicht erklären, woher der oder die Anrufer die Telefonnummer der Minamis gehabt hatten. Sie war nämlich geheim und auch in keinem Telefonverzeichnis oder bei der Auskunft oder über andere Quellen, wie zum Beispiel das Internet, zu erfahren. Diese Telefonnummer tauchte einfach nirgendwo auf. Auch über den unbekannten Jungen, der auf die gleiche Schule ging wie die beiden Teenager, hatte sich Chizuru Gedanken gemacht. Sie hatte gemutmaßt, dass es vielleicht ein Geheimagent sein könnte, der die Aufgabe hatte, etwas über Takeo herauszufinden. „Dann muss er aber ein ziemlicher Stümper sein, so dusselig, wie er sich bisher angestellt hat. Von geheim war jedenfalls nichts zu bemerken“, hatte ihr Schulfreund bemerkt und Chizuru musste ihm Recht geben. Zwar kannte sie den Unbekannten bisher nur aus Erzählungen, aber aus diesen ging hervor, dass er keineswegs im Geheimen operierte. Wie Takeo sagte, hatte er den Jungen ebenfalls seit einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das war aber auch nicht weiter verwunderlich, denn auf die Carlton Jouchi Daigaku gingen so viele Schüler, dass es gut möglich war, jemanden mehrere Tage nicht zu entdecken. „Die letzte Stunde fällt heute aus. Wollen wir in der noch ein wenig weiter in Physik arbeiten?“ Abermals nickte Takeo. Chizuru war ihm eine sehr große Hilfe. Sie hatte ihn mit den gesamten Materialien versorgt, die sie während des Monats, in dem er noch nicht an der Schule war, erhalten hatte. Der Inhalt, der schwieriger zu verstehen war, wurde von ihr erklärt. Außerdem brachte sie ihrem Klassenkameraden die Lösungsschritte der komplizierteren Übungen aus einzelnen Fächern bei. Ohne ihre Unterstützung hätte Takeo auf dem Schlauch gestanden. Jetzt war er schon ganz gut informiert und hatte einiges aufarbeiten können. In manchen Sachen fehlte ihm noch die Praxis, aber Chizuru war sich sicher, dass er bis Anfang November alles aufgeholt hatte. Takeo begriff schnell und konnte auch komplizierte Zusammenhänge relativ zügig nachvollziehen. Soviel die Teenagerin ihm auch erklärt hatte, über eine Sache war sie noch nicht mit der Sprache herausgerückt. Der Junge wollte unbedingt wissen, wie sie es schaffte, sich gleichzeitig mit anderen Dingen zu beschäftigen – zum Beispiel, sich mit ihm zu unterhalten oder Fischjagd mit ihm zu spielen – und gleichzeitig dem zu folgen, was gelehrt wurde. Takeo fand es ungeheuer faszinierend, dass sie in neunzig Prozent der Fälle, wenn sie etwas gefragt wurde, die Antwort wusste oder eine Meinung zu etwas hatte, obwohl sie nur kurz zuvor mit ihren Gedanken ganz woanders war. Und der Junge schwor sich, dass er irgendwann hinter dieses Geheimnis kommen würde. *****
Als die Sakurai-Brüder im Park der Schule ankamen und Tetsuya den Hund hervor zog, waren sie in kürzester Zeit von mehreren Schülern umringt. Alle wollten den jungen Schäferhund sehen, doch dieser schmiegte sich zitternd ganz dicht an Tetsuyas Brust. „Leute, macht doch nicht so ein Aufhebens. Das arme Tier hat Angst vor euch, seht ihr das denn nicht? Drängelt euch doch nicht so dicht um den Hund.“ „Ist der nicht total niedlich?“, fragte ein Mädchen, das den Kopf zu ihrer Freundin gedreht hatte. „Vielen Dank. Und wie gefällt dir der Hund?“, sagte Makoto grinsend. Von hinten schob sich Chiyo durch die Reihen der Schaulustigen. Sie entdeckte die Zwillinge und den Hund, stemmte die Hände in die Hüften und blitzte Tetsuya herausfordernd an. „Ihr kennt die Schulordnung, oder?“ „Klar“, antwortete Tetsuya gelassen, „aber kennst du auch die Hundeordnung? Die besagt, dass kleinen Mädchen die Arme abgebissen werden, wenn sie versuchen, sich aufzuspielen.“ „Das gibt jede Menge Ärger, wenn der Direktor erfährt, dass ihr einen Hund mit in die Schule gebracht habt.“ „Da irrst du dich leider. Der Direktor hat uns nämlich selber gebeten, einen Hund mitzubringen.“ „Das glaubst du doch selbst nicht.“ „Doch, ehrlich“, stand Makoto seinem Bruder bei. „Er hat uns persönlich gesagt, dass wir ein Tier mitbringen sollen, das Millionen mehr Hirnzellen hat als du.“ „Erst wollten wir ja eine Ameise mitbringen, aber wir haben keine gefunden“, sagte Tetsuya frech. „Ich sorge eigenhändig dafür, dass ihr von der Schule fliegt. Dann bin ich euch endlich los.“ „Guck mal“, sagte Tetsuya zu dem Vierbeiner und deutete mit dem Zeigefinger auf Chiyo, „die Tante da ist ganz böse. Glaubst du, du schaffst es, ihr die Hand abzubeißen?“ Neugierig reckte der Schäferhund den Kopf in Richtung der Schülerin, die sofort einen Schritt zurückwich. Das Tier zog den Kopf wieder zurück. „Nein, willst du sie nicht beißen?“, fragte Makoto. „Ist vielleicht auch besser, sonst kotzt du nachher noch.“ „Guck mal, Chiyo, der ist doch total süß“, schwärmte ein Mädchen, das neben Chiyo stand. „Halt die Klappe“, fauchte sie. „Wir haben sogar schon eine Gemeinsamkeit zwischen diesem niedlichen Hund und dir festgestellt“, teilte Makoto seiner Feindin mit. „Und die wäre?“ „Wenn er nass ist, stinkt er genauso wie du.“ „Hey, der hat ja ein Schild um den Hals“, sagte ein Junge, der den Zettel mit der Adresse entdeckt hatte. Chiyo machte ein Gesicht, als wenn Weihnachten vorverlegt worden wäre und sie gerade das tollste Geschenk auf der gesamten Welt bekommen hätte. „Ihr habt ihn geklaut. Ihr habt den Hund geklaut. Das ist ja wunderbar. Sieht so aus, als würde ich euch schneller vom Hals haben als erwartet.“ „Warst du wegen deiner Paranoia schon mal in Behandlung?“ „Ich gehe dann schon mal zum Direktor. In der Zwischenzeit könnt ihr euch ja hier noch ein letztes Mal umsehen.“ Und mit diesen Worten machte Chiyo auf dem Absatz kehrt und stolzierte zum Schulgebäude. Die Schüler rings um die Zwillinge herum waren starr vor Schreck. Sie trauten Chiyo wirklich zu, dass sie Tetsuya und Makoto verriet. Auch die beiden Jungen konnten sich vorstellen, dass Chiyo ihr Vorhaben durchziehen würde. Aber bisher hatten sie sich noch aus jeder Schwierigkeit irgendwie herauswinden können. Also waren sie auch in diesem Fall optimistisch. „Was macht ihr denn jetzt?“, wollte ein Junge wissen. „Jetzt gehen wir erst einmal aufs Klo und sehen zu, dass unser neuer Freund hier etwas zu trinken bekommt. Er hat bestimmt Durst.“ Die Zwillinge entfernten sich vom Park und gingen in die Toilette, wobei sie sehr genau darauf achteten, dass niemand sie entdeckte. Dort angekommen, füllten die Schüler ihre zusammengelegten Handflächen mit Wasser, das der Hund dankbar trank. Anschließend machten die beiden Jungen sich zu ihrem Klassenraum auf, der, wie sie hofften, nicht abgeschlossen war. Und erneut hatten sie Glück. Die Tür ging ohne Probleme auf. Es waren noch ein paar Minuten bis zum Unterrichtsbeginn und fünf Schüler befanden sich bereits in der Klasse. Die Jungen setzten sich auf ihre Plätze und bemühten sich, den Hund verborgen zu halten. Makoto hoffte, dass ihnen dies auch die gesamte nächste Unterrichtsstunde hindurch gelingen würde. Denn ihre Biologielehrerin würde unter Garantie fuchsteufelswild werden, wenn sie mitbekam, dass sich ein Hund in ihrem Unterricht befand. *****
In ihrem Klassenraum warteten Haruka und Kazuki darauf, dass die erste Stunde startete. Von ihrem Lehrer war noch nichts zu sehen, aber er musste jeden Moment erscheinen. „Ich habe übrigens eine Überraschung für dich“, verkündete Haruka. Ihr Mitschüler sah sie gespannt an. „Was denn?“ „Da musst du dich bis zur Pause gedulden.“ Kazuki mochte es überhaupt nicht, auf die Folter gespannt zu werden. Er bettelte und machte Haruka den Vorschlag, dass er versuchen könne, die Überraschung zu erraten, aber das Mädchen ließ sich auf nichts ein. Auf sein beharrliches Nachfragen schwieg sie nur. Kazuki sah ein, dass es keinen Zweck hatte und wechselte das Thema. „Bald findet doch das Ritual für die neuen Schüler statt. Wirst du mitmachen?“ „Nein, ich glaube nicht. Das ist nichts für mich Im letzten Jahr habe ich mich auch rausgehalten.“ Kazuki erinnerte sich an das letzte Jahr. Es war ihr gemeinsames zweites Jahr gewesen und zum ersten Mal durfte er ebenfalls mit durch die Aula flitzen und den Erstklässlern den gebührenden Empfang bereiten. Das war wahnsinnig lustig gewesen, auch wenn er natürlich nicht verschont geblieben war. Aber das hatte ihm überhaupt nichts ausgemacht. Der Anblick der Erstklässler am Ende des Rituals war zum Schreien komisch gewesen. Er erinnerte sich an sein erstes Schuljahr, in dem er Haruka noch nicht gekannt hatte. In ihrer schüchternen Art hatte sie natürlich mehrere „Täter“ auf sich gezogen, die sich einen Spaß daraus gemacht hatten, immer nur auf sie loszugehen. Das war Kazuki nur kurz aufgefallen, denn er hatte genug damit zu tun gehabt, seinen Häschern zu entwischen, die ihm unermüdlich hinterher stürmten. Und kaum hatte er einen von ihnen abgeschüttelt, stand schon der nächste bereit. Es waren einfach zu viele. Er hatte nicht allen von ihnen ausweichen können und letzten Endes hatte er genau so ausgesehen, wie der Rest der Teenies, die das erste Jahr diese Schule besuchten. Und dann war sein Blick auf Haruka gefallen, die von allen am schlimmsten ausgesehen hatte. Er war zu ihr hinüber gegangen und hatte einfach drauf los geplappert. Sie hatte fast gar nichts gesagt, sondern lediglich nur ab und zu genickt oder ein zustimmendes oder ablehnendes Brummen von sich gegeben. Dann hatte der Junge Anschluss an eine Gruppe aus seiner Klasse gefunden und Haruka vollkommen vergessen. Bis vor einem halben Jahr war der Twen mit dieser Gruppe zusammen gewesen, aber Meinungsverschiedenheiten und Zerwürfnisse hatten ihn schließlich dazu gebracht, sich von der Gruppe abzuwenden. Als er dann eines Tages Haruka entdeckte, wie sie vollkommen alleine auf dem Schulhof stand, war er zu ihr gegangen und hatte sich mit ihr unterhalten. Die ersten Male wurde nur ein Selbstgespräch daraus, aber der Junge hatte nicht locker gelassen und immer wieder den Kontakt zu seiner Mitschülerin gesucht. Und irgendwann war sie ganz langsam aufgetaut und hatte ein paar Worte mehr mit ihm gewechselt. Jetzt redete sie zwar immer noch nicht viel, aber verglichen mit damals war das, was sie jetzt sagte, ein Wasserfall aus Worten. Das war aber nur so lange der Fall, wie die beiden alleine waren. Sobald sich jemand neues zu ihnen gesellte, verfiel Haruka wieder in ihre alte Schüchternheit zurück. Aber das würde sich hoffentlich bald durch ihre Zusammenarbeit mit Nobu ändern. Schon drei Mal hatte sich das Mädchen mit ihrem Lehrmeister getroffen. Kazuki war bisher immer dabei gewesen. Bisher war nichts Spektakuläres geschehen, in den Augen von Haruka jedenfalls. Obwohl die Schülerin beim letzten Treffen etwas getan hatte, was sie selbst wohl am meisten erschreckt hatte. Hatten sie sich noch beim ersten Mal Esswaren und Gegenstände um die Ohren gebrüllt, so ging es bei der nächsten abendlichen Übung auf dem einsamen Parkplatz einfach nur um das Schreien. Keine Worte, sondern einfach nur Schreilaute. Und gestern hatte Harukas Aufgabe darin bestanden, Nobu anzuschreien. Es hatte überhaupt keinen Grund dafür gegeben, aber der Schüler wollte es trotzdem. Wie üblich hatte sich Haruka anfangs geziert, dann aber war sie mutiger geworden und hatte losgelegt. Sie aus der Reserve zu locken wäre ohne eine kleine Nachhilfe von Nobu eventuell nicht geglückt. Er hatte ihr geraten, dass sie sich vorstellen solle, er habe aus purer Langeweile mit einem Schraubenzieher über die Oberfläche ihrer Lieblings-CDs gekratzt. Das Resultat dieser Übung war nicht schlecht gewesen. Sie hatte Nobu nach allen Regeln der Kunst zusammengeschrien. Und als Haruka einmal losgelegt hatte, hatte sie nicht wieder aufhören können. Es war so gewesen, als wolle sie die ganzen Schreiereien nachholen, die sie die ganzen Jahre zuvor versäumt hatte. Am Ende war sie vollständig ausgepowert gewesen. Kazuki hatte sie nach Hause begleitet, wo sie sofort auf ihr Bett gefallen und eingeschlafen war. „Geht es dir wirklich wieder besser?“, fragte der Junge noch einmal nach. Er hatte sie schon auf dem Schulhof gefragt, wo sie ihm versichert hatte, dass alles in Ordnung sei. „Ja, wirklich“, meinte sie. „Ich habe neun Stunden geschlafen. Da wird man wieder fit.“ „Diese Übung gestern war aber auch zu krass. Aber du warst wirklich klasse.“ „Dadurch, dass ich immer in der Gegend herumschreie, erlange ich aber bestimmt nicht mehr Selbstvertrauen“, meinte Haruka. „Nobu hat ja gesagt, dass es mit dem Gebrülle erst einmal vorbei ist. Beim nächsten Mal macht ihr eine andere Übung.“ Haruka blickte nachdenklich ins Leere. „Hast du was?“, erkundigte sich ihr Klassenkamerad. „Würde … würde es dir etwas ausmachen, wenn du das nächste Mal nicht dabei bleibst?“ Der Junge starrte sie an. „Ich meine, du darfst mich gerne zum Parkplatz begleiten“, sagte die Schülerin hastig. „Aber die Übungen möchte ich in Zukunft mit Nobu alleine machen. Ist das in Ordnung?“ „Klar. Hast du denn keine Angst mehr?“ „Nicht mehr so stark wie beim ersten Mal“, antwortete Haruka. „Sieht doch fast so aus, als zeigen die Übungen den ersten Erfolg, hm?“, strahlte Kazuki. „Das ist toll.“ „Du bist nicht böse?“ „Nein, natürlich nicht. Ich finde es toll, wenn du dich jetzt schon mehr traust.“ Sie lächelte ihn dankbar an, als die Lehrkraft den Klassenraum betrat und der Unterricht begann. *****
Nichtsahnend begann Maya Ootome mit ihrem Biologieunterricht. Eine Zeitlang war Tetsuya in seinem Bemühen, das Versteck des Hundes nicht zu verraten, ziemlich erfolgreich. Doch es war klar, dass das Tier auf Dauer nicht unentdeckt bleiben würde. Der Vierbeiner machte sich immer häufiger bemerkbar, sei es durch Jaulen, sei es dadurch, dass er seine Nase hinausstreckte, um zu sehen, was dort, wo er sich befand, eigentlich los war. Die Biologielehrerin jedenfalls schaute immer häufiger in die Richtung der Zwillinge. Schließlich platzte ihr der Kragen. Sie ging wütend zu den Zwillingen hinüber. „Was treiben Sie da schon wieder? Was haben Sie unter Ihrer Jacke, Tetsuya?“ Der Junge öffnete das Kleidungsstück und holte den Hund hervor, was Maya nach Luft schnappen ließ. „Das … also, ich bin ja viel von euch gewohnt, aber das übertrifft wirklich alles bisher dagewesene.“ „Oh, vielen Dank“, antwortete Makoto höflich. „Was macht dieser Hund in meinem Unterricht?“, tobte die Lehrerin und der Welpe kauerte sich schutzsuchend in Tetsuyas Arm. „Eigentlich sollte er als Anschauungsmaterial dienen, aber bisher war noch nicht die Gelegenheit, um …“ „Anschauungsmaterial?“ "Schauen Sie mal“, sagte Tetsuya beschwichtigend. „Wir haben doch gerade Biologie und da dachten wir, wir könnten doch auch mal über Hunde … also … Sie wissen schon …“ „Ich weiß nur, dass ich in diesem Klassenzimmer keine Tiere sehen will“, donnerte Maya. „Heißt das, wir wechseln jetzt den Klassenraum?“, fragte Makoto unschuldig. „Halten Sie den Mund! Sie bringen den Hund jetzt sofort wieder dorthin, wo Sie ihn her haben. Ist das klar?“ Seufzend erhoben sich die beiden Jungen und gingen mit dem Hund zur Tür. „Ach, und für Ihr liebes Mitbringsel in den Unterricht bekommt jeder von Ihnen zur Belohnung ein E. Sie dürfen sich freuen. Und jetzt raus.“ Tetsuya sah die Lehrerin an. „Wir sind Ihre Lieblingsschüler, stimmt’s?“ Mit bösem Gesichtsausdruck stand Maya mitten im Zimmer und die Zwillinge verließen den Raum. „Toller Plan, wirklich“, beschwerte sich Makoto. „Jetzt haben wir ein E am Hals. Kam das auch in deinen Überlegungen vor?“ „Wieso regst du dich denn so auf?“, wollte Tetsuya wissen. „Wir haben doch erreicht, was wir wollten. Und das mit der schlechten Note ist natürlich ein wenig doof gelaufen. Aber Opfer bringen müssen wir alle. Dafür haben wir den Rest des Tages frei. Das ist doch auch etwas wert.“ „Super. Ein Schuljahr wiederholen gegen einen Tag frei. Toller Tausch.“ „Wenn du nicht aufhörst zu meckern, gehe ich in den Kindergarten und tausche dich um“, sagte Tetsuya. Makoto seufzte tief. „Dann können wir ja jetzt den Hund seinem Besitzer zurückbringen.“ „Nur keine Eile. Spielen wir doch erst noch ein wenig mit ihm. Ich denke, ich gehe mit unserer Flohkiste noch ein bisschen in den Park und wir üben apportieren.“ Makoto fasste es nicht. „Du willst allen Ernstes noch in den Park? Damit uns vielleicht noch mal ein Lehrer erwischt? Irgendwie hast du zuviel Zeit, wenn du so wild auf Strafarbeiten bist, oder?“ „Halt mal kurz“, meinte Tetsuya und drückte seinem verblüfften Zwillingsbruder den Schäferhund in die Arme. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. „Bruderherz, du bist viel zu verkrampft. Du musst lockerer werden. Das Leben ist wie ein Tunnel. Wenn du negative Sachen hinein rufst, kommen negative Sachen heraus.“ „Den Spruch habe ich noch nie gehört. Den hast du dir doch gerade ausgedacht.“ Tetsuya nahm ihm wieder den Hund ab und ging in Richtung Park davon, während er unentwegt „Wollen wir Makoto apportieren üben?“ auf den Hund einredete, der heftig mit dem Schwanz wedelte und offenbar mit dem Vorschlag einverstanden war. *****
Als Takeo und Chizuru aus ihrem Klassenraum in die Pause gingen, kam ihnen Kazumi entgegen. Die drei Schüler beschlossen, die freie Zeit im Park zu verbringen. „Wie war dein Treffen mit Chiyo?“, erkundigte sich Kazumi. „Ziemlich kurz und ziemlich ernüchternd. Vor allen Dingen für sie.“ Takeo erzählte kurz, was am Montag im Schülercafé vorgefallen war. Als er am Ende angelangt war, lachte Kazumi herzhaft. „Zu schade, dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte“, bedauerte er. „Und zu schade, dass ich nicht dabei sein konnte, als sich ihre Verblüffung gelegt hat. Sie muss wahnsinnig wütend gewesen sein.“ „Hoffentlich. Und hoffentlich hat sie sich genau gemerkt, was ich ihr gesagt habe. Das meine ich nämlich todernst. Sie soll sich jemand anderen suchen, dem sie auf die Nerven gehen kann. Ich habe jedenfalls absolut keine Lust, mich mit ihr abzugeben. Und wie sie das sieht, ist mir total egal.“ Takeo spürte, wie er schon wieder schlechte Laune bekam. Er mochte nicht an Chiyo denken, geschweige denn über sie reden. Als das Trio den Park erreichte, sah es die Zwillinge auf einer Bank sitzen und ging zu ihnen. „Was sitzt ihr denn hier rum? Habt ihr kein Zuhause?“, erkundigte sich Kazumi. Die beiden Jungen erzählten ihnen, was vorgefallen war. „Warum tut ihr das?“, wollte Chizuru wissen. „Ihr wisst ganz genau, dass solche Sachen Konsequenzen nach sich ziehen, die für euch alles andere als toll sind. Also, warum macht ihr so etwas? Und zwar immer und immer wieder? Langsam müsstet ihr doch mal gelernt haben, wie ihr euch verhalten solltet, um keinen Ärger zu bekommen.“ „Ach“, winkte Tetsuya ab, „das wissen wir doch längst. Aber wie langweilig ist solch ein Leben? Du machst dir gar keine Vorstellung, wie öde das auf Dauer wird. Nein, wir lieben es, Action in unser Leben zu bringen. Das macht alles ein kleines bisschen spannender. Was hast du davon, wenn du weißt, dass du ein geradliniges Leben führst. Das Ungewisse, die Herausforderung, das ist es, was den richtigen Nervenkitzel ausmacht.“ „Mein Leben gefällt mir auch ohne diesen Nervenkitzel ganz gut“, sagte Chizuru. „Das ist vollkommen in Ordnung. Niemand zwingt dich, so zu leben.“ „Und was macht ihr jetzt mit dem Hund?“, wollte Takeo wissen. „Mit nach Hause nehmen“, sagte Tetsuya. „Seinem Besitzer zurückbringen“, meinte Makoto gleichzeitig. Die Zwillinge blickten sich an. Dann sagte Tetsuya: „Wir nehmen ihn erst mit nach Hause und dann liefern wir ihn an der Adresse ab. Schließlich haben wir den Kleinen erst vor zwei Stunden gefunden, da können wir uns nicht so einfach wieder von ihm trennen. Wisst ihr, wie einem in zwei Stunden so ein Flohalbum ans Herz wachsen kann?“ „Ihr könnt ihm ja Kunststücke beibringen?“, schlug Kazumi vor. „Sind wir gerade bei. Wir lehren ihn gerade, Makoto zu apportieren, das klappt aber noch nicht so richtig.“ Die Zwillinge standen auf. „So, wir werden uns jetzt um unseren neuen vierbeinigen Freund kümmern. Wir sehen uns dann morgen.“ Langsam entfernten sich die beiden Jungen. Kazumi sah ihnen nach, als eine Gruppe von Mädchen in sein Blickfeld geriet. Es handelte sich um Chiyo, die mit ihren Freundinnen ein paar Meter entfernt von ihnen stand und offenbar keine Notiz von den drei Schülern zu nehmen schien. Takeo und Chizuru hatten Chiyo allem Anschein nach noch nicht gesehen. „Sag mal“, richtete Kazumi das Wort an Takeo, „wie hat Chiyo eigentlich auf deine Abfuhr reagiert? Ich meine, nach dem Wochenende?“ „Gar nicht, ich habe nichts weiter von ihr gehört. Selbst als ich mich in ihrer Nähe aufgehalten habe, und das ist mehr als einmal der Fall gewesen, hat sie mich einfach links liegen lassen. Könnten wir jetzt vielleicht das Thema wechseln? Ich bin es langsam leid, über Chiyo zu reden. Ich will nichts von ihr und damit ist der Fall erledigt.“ „Richtig“, nickte Kazumi. „Für dich vielleicht. Für sie aber ganz bestimmt nicht. Auch wenn sie so tut, ihren Plan, sich an dich heran zu machen, wird sie ganz bestimmt nicht aufgeben.“ Die ältere Schülerin deutete mit dem Finger auf Chiyo. „Du solltest jetzt noch stärker auf sie aufpassen. Denn sie wird nun ganz bestimmt stärkere Geschütze auffahren. Das wird sie so lange tun, bis sie bekommen hat, was sie will.“ „Nur wird sie das niemals bekommen. Und das tut mir auch in keiner Weise leid. Komm, Chizuru, lass uns gehen.“ Takeo packte seine Klassenkameradin am Arm und zog sie mit sich. Der Junge musste einfach weg aus diesem Gespräch, weg von Chiyo und von allen nervigen Unterhaltungen. War es für die anderen so schwer zu begreifen, dass er einfach nur seine Ruhe haben wollte? Genau diese Momente waren es, in denen sich der Teenager nach seiner alten Schule in Houston zurück sehnte. In der texanischen Stadt wurde es respektiert, wenn jemand alleine gelassen werden wollte. Und falls es doch jemand absolut nicht begreifen wollte, dann wurde ein klein wenig mit den Fäusten nachgeholfen, bis er es endlich kapiert hatte. Die Fronten waren dann geklärt. Überhaupt hatte es an Takeos alter Schule nicht halb so viele nervende Leute gegeben wie hier. Er begann fast schon zu bereuen, hierher gezogen zu sein. Aber eine Wahl hatte er natürlich niemals gehabt. Er hatte sich fügen müssen. Seine Eltern hatten den Umzug beschlossen, weil sein Dad hier gebraucht wurde. Und hier fing dann alles wieder von vorne an. Er musste sich neue Freunde suchen, die natürlich etwas über ihn wissen wollten. Und bei den Dingen, in denen er keine näheren oder überhaupt keine Antworten geben wollte, wurde natürlich nachgebohrt. Das war ganz normal, ging ihm aber fürchterlich auf die Nerven. Er mochte Chizuru und fand sie sehr sympathisch und es war auch wahnsinnig nett von ihr, dass sie ihm half, den Stoff, den er verpasst hatte, aufzuarbeiten, aber ihre penetranten Nachfragen machten ihn fast wahnsinnig. Er war ja bereit, ihr alles über sich zu erzählen, aber wann er das tun wollte, bestimmte immer noch er selber. Und dann diese ständigen Warnungen vor diesem und vor jenem. Er war kein kleines Kind mehr. Es reichte, wenn man einmal eine Warnung aussprach. Man musste es nicht immer wieder und wieder tun, als würde man ihn für blöd halten. Außerdem war da auch noch dieser merkwürdige Junge, der auf großes Geheimnis machte. Takeo nahm sich vor, ihm beim nächsten Mal, wenn er ihn sah, zu sagen, dass er entweder Klartext reden oder ihn nicht mehr belästigen solle. Notfalls konnte er ja immer noch die Polizei einschalten. Wenn die sich den Kerl vorknöpfte, dann verging ihm garantiert die Lust daran, anderen Schülern hinterherzulaufen. Diese Schule war ein einziger Fehlgriff gewesen. Sie mochte noch so gut und noch so teuer und noch so elitär sein, im Grunde war es doch nur eine von vielen und sie alle waren auf die eine oder andere Art und Weise gleich. Takeo hoffte nur, dass es mit der Zeit besser werden würde. *****
Es war tatsächlich Chiyo gewesen, die Kazumi entdeckt hatte. Sie stand mit einigen Freundinnen ein paar Meter von Takeo, Chizuru und Kazumi entfernt und redete mit ihnen. Selbstverständlich ging es dabei nicht um ihre disaströse Verabredung vom Freitag. Wie das ganze gelaufen war, ging niemanden etwas an, außer ihrer besten Freundin. Und die wusste es ja bereits. Man hatte sich in einem Knäuel zusammengefunden, redete über Gott und die Welt und lachte miteinander. Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Das änderte sich allerdings, als Chiyo genau in die Richtung blickte, in der sich die Zwillinge mit den beiden Erstklässlern aufhielten. Von diesem Zeitpunkt an zuckten die Augen der Schülerin immer wieder hinüber zu dem Quintett. Und dann sah sie, wie die beiden größten Nervensägen an dieser Schule mit ihrem Köter den Park verließen. Chiyo hatte die beiden Sakurais nicht angeschwärzt. Sie wollte ihnen einfach nur Angst machten und alleine die Vorstellung, dass die beiden wussten, dass das Mädchen durchaus so handeln würde, wie sie es gesagt hatte, war für sie die reinste Genugtuung. Es geschah den beiden Jungen durchaus Recht, wenn ihnen jemand mal einen Denkzettel verpasste. Jetzt standen nur noch Takeo, dieses kleine Dummchen und Kazumi beieinander. Chiyos Blick schweifte immer wieder zu dem Trio hinüber. Und als sie sah, wie der ältere Schüler mit dem Finger auf sie zeigte, liefen die Gedanken in ihrem Hirn Sturm. Ganz offensichtlich wurde über sie gesprochen. Und garantiert hatte Kazumi das Thema angefangen, denn er hatte Takeo ja auch auf sie aufmerksam gemacht. Vielleicht war es auch nicht das erste Mal, dass er mit ihrem neuen Schwarm über sie redete. Bestimmt hatte Kazumi schon vorher über sie getratscht. Die Erkenntnis kam wie ein Blitzschlag. Jetzt war Chiyo mit einem Mal absolut klar, warum Takeo sich so merkwürdig im Café benommen hatte. Er musste irgendwann vorher mit Kazumi gesprochen haben und dieser hatte ihn vor ihr gewarnt und ihn gegen sie aufgehetzt. Eine andere Erklärung gab es überhaupt nicht. Dieses kleine dreckige Luder. Was hatte sie ihm erzählt? Chiyo war fest entschlossen, das herauszufinden und zwar nicht später, sondern auf der Stelle. Los, verschwindet endlich, flehte Chiyo in Gedanken die beiden Erstklässler an. Sie wollte Takeo absolut nicht in der Nähe haben, wenn sie und Kazumi aufeinander trafen. Das würde nur ein schlechtes Licht auf sie werfen und es war mehr als wichtig, dass sich Takeos Meinung über sie änderte. Und das würde sie früher oder später, davon war Chiyo fest überzeugt. Es schien so, als hätten Takeo und das andere Mädchen ihre Gedanken gehört, denn ein paar Augenblicke später gingen auch sie aus der Grünanlage. Jetzt war die Bahn frei und Chiyo ergriff ihre Gelegenheit sofort. Ohne sich weiter um die Gruppe zu kümmern, ging sie zu Kazumi hinüber, die sich gerade ebenfalls zum Gehen abgewendet hatte und stieß ihr die Hände in den Rücken, so dass sie ein paar Schritte nach vorn stolperte. „Du niederträchtige Schlange, was hast du Takeo über mich erzählt?“ Kazumi drehte sich nach der Angreiferin um. Als sie bemerkte, dass es sich um Chiyo handelte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und lächelte ihr Gegenüber freundlich an. „Nur die Wahrheit. Etwas anderes kann ich über dich doch gar nicht erzählen, oder?“ „Du miese Schlampe hast ihn gegen mich aufgehetzt.“ „Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: das machst du alles selbst. Du selber bringst die Leute gegen dich auf. Schon alleine durch deine Ausdrucksweise. Wer will denn schon mit jemandem etwas zu tun haben, dessen Wortschatz zu zwei Dritteln aus Schimpfwörtern besteht?“ „Du hältst dich in Zukunft von Takeo fern, ist das klar?“ Kazumi lachte schallend. „Du willst mir doch nicht vorschreiben, mit wem ich mich unterhalte und mit wem nicht.“ „Doch, ganz genau das werde ich. Wenn du Takeo noch einmal näher als 50 Meter kommst, dann kannst du was erleben.“ Kazumi trat dicht an Chiyo heran und zischte ihr zu: „Gut, dann werde ich eben die Personen wechseln. Statt mich um Takeo zu kümmern, kümmere ich mich um dich. Ich werde dich im Auge behalten und zwar rund um die Uhr. Du wirst nicht einmal mehr in Ruhe essen können. Sei dir sicher, dass ich immer in deiner Nähe sein werde, vollkommen egal, was du auch tust. Und so stelle ich sicher, dass du niemals an Takeo herankommen wirst. Wenn er was besseres haben will als dich, braucht er sich nur eine Minute vor seine Haustür zu stellen.“ „Ich warne dich. Misch dich bloß nicht in meine Angelegenheiten, sonst geht es dir schlecht. Was ich mit wem mache, hat dich einen Scheiß zu interessieren. Ich kann auch deutlicher werden, wenn du das möchtest. Und ich brauche noch nicht einmal selber deutlicher zu werden. Wenn du anfängst, mir in irgendeiner Form noch mehr auf die Nerven zu gehen als jetzt schon, dann wirst du das für den Rest deines Lebens bereuen. Du wirst dir wünschen, mich nie kennen gelernt zu haben.“ „Keine Sorge, das wünsche ich mir schon seit mehreren Monaten.“ „Du willst Krieg? Sehr gerne, ich bin dabei. Mache dich aber darauf gefasst, dass du das Schlachtfeld nur verlassen wirst, indem man dich wegträgt.“ „Mach dich nicht noch lächerlicher, als du ohnehin schon bist. Wer dauernd daneben feuert, kann gar nicht gewinnen.“ „Du wirst schon merken, wie es mit meinen Schießkünsten aussieht. Da trifft jede Kugel genau ins Schwarze.“ Chiyo drehte sich um und ging zu den anderen Mädchen zurück. Kazumi bluffte nur, davon war sie fest überzeugt. Sie würde ihre Zeit nicht damit verplempern, Chiyo hinterherzulaufen, nur um zu verhindern, dass sie andere Jungs unglücklich machte. Kazumi konnte sie nicht rund um die Uhr überwachen. Chiyo überlegte, welche Möglichkeiten Kazumi dennoch offen standen. Sie konnte sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhalten und dadurch gewährleisten, dass sie, Chiyo, nervös wurde und früher oder später tatsächlich glauben würde, von irgendwo würde Kazumi sie beobachten. Es durfte auf gar keinen Fall so weit kommen. Sie musste etwas unternehmen, um Kazumi entweder abzulenken oder für längere Zeit außer Gefecht zu setzen. Noch hatte Chiyo keinen Plan, aber ihr würde schon etwas einfallen. „Großkotzige Kuh“, brummte Kazumi ihrer Gegnerin hinterher. Sollte Chiyo ruhig glauben, sie hätte gegen sie auch nur die geringste Chance. Kazumi würde ihr das Gegenteil beweisen. Beim Kampf vor einigen Tagen hatte sie zwar den kürzeren gezogen, aber das hieß ja nichts. Kazumi würde ihr schon zeigen, wozu sie fähig war. Es war ihr zwar nicht möglich, permanent auf Chiyos Schritte aufzupassen, aber sie konnte sich immerhin so lange in ihrer Nähe aufhalten, um sie aus der Fassung zu bringen. Vielleicht hörte sie dann endlich auf, alle Jungs wie Dreck zu behandeln. Kazumi würde ihr schon beibringen, wie anständiges Benehmen anderen Menschen gegenüber aussah, ob Chiyo nun wollte oder nicht. *****
Das Café der Carlton Jouchi Daigaku befand sich im zweiten Stock, direkt neben dem Lehrerzimmer. In den Pausen war es immer gut gefüllt und Haruka und Kazuki hatten Glück, dass sie noch einen freien Tisch ergattern konnten. Während Kazuki den Tisch bewachte, kümmerte sich Haruka um die Getränke. In den ersten Tagen hatte Kazuki gewollt, dass seine Mitschülerin am Tisch sitzen blieb, während er die Getränke holte, aber diese hatte sich stets geweigert. Der Junge hatte sich lange Zeit gefragt, aus welchem Grund, dann aber die Antwort bekommen. Haruka hatte ihm irgendwann mit hochrotem Kopf erzählt, dass sie früher von ein paar Jungen vom Tisch verjagt worden war. Sie hätte ihre Sitzplätze im Falle einer Konfrontation nicht verteidigt, daher war die Rollenverteilung von da an klar festgelegt. In den Glastresen fand sich eine reichhaltige Auswahl von verschiedenen Kuchen und belegten Brötchen. Auch frisches Obst wurde angeboten. Wer Appetit auf warme Kleinigkeiten wie Pizza, Pommes oder Bratwurst hatte, wurde hier ebenfalls fündig. Und natürlich durften die diversen warmen und kalten Getränke nicht fehlen. Nur eine Etage höher auf der anderen Seite der Treppe lag der Speisesaal, was recht günstig war. Denn viele Schüler kamen nach dem Mittagessen noch in die Caféteria, um ein Kaffeegetränk oder andere Sachen zu sich zu nehmen. Außerdem wurde die Snackbar von Schülern verwendet, um Hausaufgaben zu erledigen, oftmals noch vor der entsprechenden Unterrichtsstunde. Die Schülerin nahm sich zwei Gläser und füllte sie mit Orangensaft, dann ging sie zur Kasse und bezahlte die Getränke. „Und warum wolltest du mir nichts zu essen mitbringen?“, erkundigte sich Kazuki, als sie wieder am Tisch saß. „Weil du schon etwas zu essen hast.“ Der Junge sah sie überrascht an. „Das wüsste ich aber.“ „Nein, in diesem Fall kannst du es nicht wissen.“ Haruka kramte in ihrer Schultasche und holte eine Plastikdose sowie eine Gabel heraus. Beides schob sie ihrem Klassenkameraden entgegen. „Ich hatte dir versprochen, für dich zu kochen, erinnerst du dich. Das ist das Ergebnis. Ich hoffe, es schmeckt dir.“ Gespannt stach der Junge die Gabel in die weiße feste Reismasse, die mit Fleischstücken und grünem Gemüse durchsetzt war. Und als er die erste Gabel in den Mund geschoben hatte, war augenblicklich die Begeisterung da. Der Mix schmeckte fantastisch. Gewürze waren nur sehr sparsam verwendet worden, dennoch war das Ergebnis nicht zu fad. „Das schmeckt super“, strahlte er, woraufhin Harukas Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate annahm. Die Schülerin hatte schon als kleines Kind ihrer Mutter beim Kochen zugesehen. Haruka hatte sich immer automatisch in der Küche eingefunden, wenn die Zeit der Essenszubereitung gekommen war. Sie liebte es, die vorbereitenden Aufgaben wie Zwiebeln und Gemüse schneiden, zu übernehmen. Anschließend schaute sie beim Kochvorgang zu und bekam die Feinheiten der Küche genau erklärt. Schon da durfte sie in Töpfen herumrühren, was ihr unglaublichen Spaß machte. Später dann durfte sie ihre Mutter bei schwierigeren Arbeiten unterstützen. Sie durfte Saucen selbst zubereiten, Fleisch marinieren oder ähnliche Dinge übernehmen. Haruka wurden die verschiedenen Arten der Zubereitung erklärt. Seitdem liebte sie das Kochen. Es machte ihr überhaupt nichts aus, sich auch noch spätabends an den Herd zu stellen, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten. Außerdem erfüllte diese Tätigkeit für Haruka noch eine andere Funktion; während des Kochens konnte sie sich entspannen und alles um sich herum vergessen. Irgendwann war die Zeit gekommen, in der sie auch in die Kunst des Backens eingeweiht wurde. Mit Hilfe ihrer Mutter bereitete sie Kekse und Kuchen zu und sie war sehr stolz, als ihr erstes selbstgebackenes Brot vor ihr lag. Mutig wagte sich Haruka an Torten und auch dabei unterstützte ihre Mutter sie. Gemeinsam werkelten sie in der Küche, lachten viel und es war überhaupt nicht schlimm, wenn Haruka einmal einen Fehler machte. Und nun durfte Kazuki an ihren Kocherfolgen teilhaben. Allerdings wäre es Haruka nicht im Traum eingefallen, für ihn etwas zu kochen, wenn er nicht schon im Vorfeld ihre Backkünste so ausgiebig gelobt hätte. Hätte er sie einfach so gebeten, einmal etwas von ihr selbst zubereitetes mitzubringen, dann hätte sie vermutlich gedacht, er wolle sie auf den Arm nehmen. „Das ist überhaupt kein Grund, um rot zu werden“, sagte Kazuki. „Ich sage nur die Wahrheit. Es schmeckt wirklich überaus gut.“ Er steckte sich noch eine Gabel voll in den Mund und kaute angestrengt. In diesem Gericht steckte ein Gewürz, das die anderen Komponenten des Essens geschmacklich nicht überdeckte, sondern hervorhob. Reis, Karotten, die anderen Gemüsesorten und das Fleisch entfalteten, wenn sie aufeinander trafen, eine wahre Geschmacksexplosion. „Ich kann leider gar nicht kochen“, teilte Kazuki seiner stumm dastehenden Klassenkameradin mit. „Allerdings habe ich mich auch nie besonders dafür interessiert. Meine Mum kocht ja für uns. Also brauche ich das eigentlich nicht zu tun. Aber wenn ich mir dein Gericht so angucke, dann finde ich es gerade unheimlich traurig, dass ich so etwas nicht zustande bringe.“ Das Mädchen lächelte ihn scheu an. „Du kannst das viel besser als ich. Na ja, dazu gehört auch nicht viel, denn ich kann es ja überhaupt nicht. War es schwierig, das zu lernen? Ich meine, du kannst ja nicht einfach die Zutaten zusammenkippen, ein paar Mal umrühren und dann kommt da diese Köstlichkeit heraus. Das ist bestimmt sehr viel komplizierter, oder?“ Haruka sah ihn an und las in seinem Gesicht echtes Interesse. Es war nicht so, dass Kazuki aus Höflichkeit fragte, sondern weil er es wirklich wissen wollte. „So einfach ist das tatsächlich nicht“, gab Haruka zu. „Du musst eben auf den richtigen Garpunkt der Zutaten achten.“ „Aber wie findest du den? Stehst du mit der Stoppuhr daneben?“ Haruka lachte. „Nein, das habe ich einfach im Gefühl. Ich weiß automatisch, wann das Essen fertig ist und serviert werden kann. Das lernt man mit der Zeit.“ Der Junge war wirklich fasziniert und erstaunt. Er versuchte zu begreifen, wie Haruka wissen konnte, wann das Essen fertig war, kam aber zu keinem Ergebnis. Diese Welt, von der er nichts verstand, hatte für ihn etwas geheimnisvolles. „Wenn du möchtest, kann ich dir gerne ein bisschen Kochen beibringen“, meldete sich die Schülerin leise, als wolle sie, dass man sie nicht wahrnahm. „Sehr gerne“, antwortete Kazuki begeistert. Am liebsten hätte er sofort losgelegt. „Magst du irgendwann mal mit zu mir kommen und wir kochen dann etwas gemeinsam?“ Er nickte. Insgeheim hatte er sich schon lange danach gesehnt, mit Haruka gemeinsam etwas zu unternehmen. Aber er kannte ihre Schüchternheit und hatte Angst, dass sie ablehnen würde, wenn er einen Vorschlag gemacht hätte. Daher wollte er warten, bis sie von sich aus eine Unternehmung zur Sprache brachte, was sie nun ja auch getan hatte. Und mit ihr zu kochen, gefiel ihm viel besser als ein Kinobesuch oder ein Aufenthalt in einer Bar, wo die Musik so laut war, dass man sich unmöglich unterhalten konnte. „Gut, wir sollten das machen, wenn meine Eltern nicht zu Hause sind. Dann haben wir auch Zeit für die ganzen Vorbereitungen. Ich sage dir dann noch Bescheid, wann wir ungestört kochen können.“ Kazuki nickte noch einmal und hoffte, dass er recht bald in die geheimnisvolle Welt der Essenszubereitung eingeweiht werden würde. *****
Kagura war in dieser Japanischstunde sehr schlecht gelaunt. Ihr Lehrer und Schwarm Isamu erzählte gerade etwas über Tiere. Immer, wenn er eine Frage stellte und Kagura sich meldete, ignorierte er sie. Selbst wenn sie die einzige war, die den Finger in die Luft streckte, wartete der Lehrer so lange, bis sich noch mindestens ein anderer Schüler meldete. Geschah dieses nicht, so gab er selber die Antwort und beachtete Kagura überhaupt nicht. Genau genommen beachtete Isamu sie ebenfalls nicht, wenn er keine Frage stellte. Er behandelte das Mädchen wie Luft, als wäre sie in dem Klassenraum gar nicht existent. Das gefiel Kagura überhaupt nicht. Je öfter sie sich meldete und je öfter sie keine Gelegenheit bekam, eine Frage zu beantworten, umso wütender wurde das Mädchen. Es konnte sich nicht erklären, was es schlimmes getan hatte, dass sie derart ignoriert wurde. Es kam ihr vor, als sie Isamu böse auf sie und sie wollte gerne den Grund dafür erfahren. Bestimmt handelte es sich nur um ein Missverständnis, das schnell aus dem Weg geräumt werden konnte. „Warum nimmt er dich denn nicht dran?“, fragte ihre Freundin Azu. „Frag mich was leichteres“, zischte Kagura zurück. Isamu rief Ichigo auf, die schlechteste Schülerin der Klasse, und Kagura klappte die Kinnlade nach unten. Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Ihr Lehrer zog diese Flasche ihrer Meldung vor? Das Mädchen fragte sich, was in ihn gefahren war. „Vielleicht hast du ihn zu sehr bedrängt“, mutmaßte Azu wispernd. „Was soll das denn heißen?“ „Na, du bleibst nach den Stunden bei ihm noch in der Klasse, du wartest irgendwo auf ihn, wo du sicher sein kannst, dass er genau dort vorbei kommt, du tust alles, um so oft wie möglich in seiner Nähe zu sein. Das geht ihm vielleicht auf den Keks und deshalb behandelt er dich jetzt so.“ „Du spinnst doch“, brummte Kagura. Aber in ihrem Inneren dachte sie über die Worte Azus nach. Konnte es sein, dass sie Recht hatte? Natürlich wollte Kagura so oft wie nur möglich in der Nähe ihres Japanischlehrers sein. Sicher, er hatte ihr schon einige Male gesagt, dass er an ihr nicht halb so interessiert war wie sie an ihm. Aber es war doch logisch, dass er das sagte. Immerhin war er ihr Lehrer und es würde einigen Ärger geben, wenn ihre Liebe herauskam. Für sie beide würde es ein Spießrutenlaufen werden. Isamus Kollegen würden ihn bedrängen, die Beziehung zu beenden. Kaguras Eltern würden sie eventuell sogar auf eine andere Schule schicken, um zu vermeiden, dass sich die beiden begegneten. Ihre Freunde und Klassenkameraden würden ganz sicher mit Unverständnis reagieren und sich vielleicht sogar von ihr abwenden. Aus all diesen Gründen musste ihre Liebe ein Geheimnis bleiben. Deshalb gab Isamu auch nicht zu, dass er ebenfalls etwas für sie empfand, sondern verleugnete es sogar vor sich selbst. Aber das geschah alles aus Selbstschutz, davon war Kagura fest überzeugt. Nun allerdings beschlichen sie Zweifel, die zwar nur sehr leise im Hintergrund zu hören aber dennoch vorhanden waren. Was war, wenn Azu tatsächlich mit ihren Worten richtig lag? Kagura wusste, dass sie am Boden zerstört sein würde, wenn sich herausstellte, dass Isamu wirklich nichts von ihr wollte. Darüber würde sie sehr lange Zeit nicht hinwegkommen. Sie musste mit ihm sprechen und herausbekommen, warum er sie im Unterricht ignorierte. Und dieses Gespräch musste sehr bald stattfinden, denn die Ungewissheit quälte sie. Sie beugte sich zu ihrer besten Freundin hinüber und flüsterte: „Ich muss so schnell wie möglich mit ihm reden. Und du könntest mir dabei helfen.“ „Wie?“ „Er rennt bestimmt wieder sofort aus dem Raum, nachdem die Stunde beendet ist. Deshalb müssen wir uns etwas ausdenken, was ihn davon abhält. Er muss irgendwie abgelenkt werden. Fällt dir ein, wie wir das machen können?“ Azu legte die Stirn in Falten und überlegte. Kagura war ihre Freundin und natürlich wollte sie ihr helfen. Auf der anderen Seite sah ein Blinder mit Krückstock, dass sie in ihren Lehrer verliebt war, dieser jedoch ihre Gefühle nicht erwiderte. Aber das wollte Kagura nicht wahr haben. Azu befand sich in einem Zwiespalt. Sie wollte nicht, dass ihre Freundin unglücklich oder traurig werden würde. Doch genau das würde früher oder später auf jeden Fall geschehen. Azu und Kagura waren seit der zweiten Klasse befreundet. Während der ersten zwei Semester, an der sie neu auf der Carlton Jouchi Daigaku waren, hatten sie keine Notiz voneinander genommen. Dann war der Platz neben Azu frei geworden und Kagura hatte sich wie selbstverständlich auf ihn gesetzt, da die Klasse einen neuen festen Raum zugewiesen bekommen hatte. Die beiden Mädchen waren miteinander ins Gespräch gekommen und hatten sehr bald auch die Pausenzeiten gemeinsam verbracht. Sie hatten festgestellt, dass sie beide den gleichen Modegeschmack hatten, die gleichen Speisen verabscheuten oder liebten und auch die Planungen ihres zukünftigen Lebens bezüglich Heirat oder Reisen waren sehr ähnlich. Und dann war vor gut anderthalb Monaten Isamu Akabashi in ihre Klasse gekommen. Ihr alter Japanischlehrer war in den Ruhestand gegangen und Kagura war sofort Feuer und Flamme für seinen Nachfolger gewesen. Sie strengte sich seitdem noch mehr an, um gute Noten zu erzielen, was ihr auch gelang. Azu war schon in der ersten Woche aufgefallen, wie Kagura die neue Lehrkraft ansah. Sie geriet regelrecht ins Schwärmen, wenn sein Name in Unterhaltungen fiel. Isamu war aber auch ein toller Lehrer. Er sah nicht nur annehmbar aus, sondern hatte auch das Talent, den Unterrichtsstoff so zu vermitteln, dass wirklich jeder Idiot ihn verstehen konnte – wenn man mal von Ichigo absah, aber die konnte ja noch nicht einmal einen Elefanten von einem Hausschuh unterscheiden. Dass Kagura von Isamu schwärmte, konnte Azu gut verstehen, aber es hatte überhaupt keinen Zweck. Aus den beiden würde nie ein Liebespaar werden. Glücklicherweise war es noch niemandem aus der Klasse so stark aufgefallen wie ihr, dass Kagura sich immer häufiger zum Trottel machte. Azu tat es regelrecht weh, wenn sie daran dachte, dass ihre Freundin sich selbst quälte. Aber sie traute sich nicht, ihr die Wahrheit zu sagen, zumal sie diese sowieso nicht als Wahrheit akzeptieren würde. Azu entschloss sich, ihrer Freundin zu helfen. „Nun ja, ich könnte vortäuschen, dass es mir ziemlich dreckig geht. Dann hast du auch einen Grund, bei mir zu bleiben. Ich kann mich auf die Krankenstation bringen lassen und dort geht es mir dann plötzlich wieder richtig gut und ich lasse dich mit ihm alleine.“ Kagura strahlte. „Das ist ein wahnsinnig guter Plan.“ „Muss es auch, denn er kommt ja schließlich von mir“, grinste Azu. Kagura war sich absolut sicher, dass Azus Idee funktionieren würde. Und dann würde Isamu ihr Rede und Antwort stehen müssen. Die Schülerin hatte absolut keine Lust, sich weiterhin wie Luft behandeln zu lassen. *****
Zehn Minuten vor dem Ende des Unterrichts begann Azu mit ihrer Vorstellung. Sie verzog immer häufiger schmerzhaft das Gesicht. Fünf Minuten vor der Pause knöpfte sie ihren Blazer auf und presste die Hand auf den Bauch. Dabei achtete sie darauf, dass sie es nicht übertrieb. Den Höhepunkt wollte sie sich für den Moment aufsparen, in dem Isamu normalerweise das Klassenzimmer verließ. Der Japanischlehrer verteilte die Hausaufgaben. Er war gerade damit fertig, als der Gong die Stunde beendete. Sofort strömten die Schüler in Richtung Tür, so dass er noch eine Zeit warten musste, ehe er das Klassenzimmer verlassen konnte. Das war Azus Chance. Das Mädchen erhob sich von ihrem Stuhl, schrie auf, legte beide Hände auf ihren Bauch und sackte zusammen. „Azu“, rief Kagura erschrocken und packte ihren Oberarm, um sie zu stützen. Auch wenn Isamu schon vorher bemerkt hatte, dass es Azu augenscheinlich nicht gut ging, so hatte er sie doch nicht darauf angesprochen. Jetzt allerdings konnte er nicht mehr still darüber hinwegsehen. Auch einige Schüler waren stehen geblieben und schauten in Azus Richtung. „Gehen Sie bitte in die Pause“, forderte der Lehrer sie auf und ging zu Azu und Kagura hinüber. Widerwillig gehorchten die anderen Schüler. Da gab es endlich einmal ein bisschen Action und Abwechslung vom doch eher langweiligen Schulalltag und dann durften sie noch nicht einmal daran teilhaben. „Was haben Sie?“, erkundigte sich Isamu und beugte sich leicht zu Azu hinunter. „Mein Bauch“, jammerte sie. „Das fing gerade erst an mit ihren Bauchschmerzen“, sagte Kagura. „Ausgerechnet jetzt“, stöhnte Azu und hielt sich am Tisch fest. „Wieso? Schreiben Sie gleich eine Arbeit?“ „Nein, wir haben jetzt Naturkunde. Das ist ihr Lieblingsfach“, erklärte Kagura. Azu richtete sich ganz langsam auf. „Es geht schon wieder“, behauptete sie, um gleich darauf mit einem Schmerzlaut Kaguras Schulter zu umklammern und sich an ihr festzuhalten. „Wir gehen am besten ins Krankenzimmer“, schlug ihr Lehrer vor und Kaguras Herz machte vor Freude einen riesigen Sprung. Der Plan schien tatsächlich zu klappen. Azu war aber auch eine sehr tolle Schauspielerin. Hätte Kagura nicht gewusst, dass das alles nur gestellt war, dann hätte sie sich ernsthafte Sorgen um ihre Freundin gemacht. Das kranke Mädchen wurde von ihrer Klassenkameradin gestützt und zu dritt machten sie sich auf den Weg zum Krankenzimmer. Außer in der dritten Etage gab es in jedem Stockwerk ein Krankenzimmer. Im Gang blickten ihnen die Schüler neugierig hinterher. Die Japanischstunde wurde immer im ersten Stock des Gebäudes A abgehalten, so dass man nicht lange laufen musste, um den Krankenraum zu erreichen. Auch das Trio hatte ihn in zwei Minuten erreicht, die Azu aber wie eine Ewigkeit vorkamen. Es war ziemlich anstrengend, die kraftlose Schülerin zu mimen und dass man ihr hinterher starrte, als habe sie Ausschlag im Gesicht, machte die ganze Sache auch nicht besser. Sie war heilfroh, als Isamu endlich die Tür ihres Zieles öffnete. Ganz vorsichtig bugsierte Kagura sie zur Liege, wo sich Azu erst einmal ausstreckte. Nach dieser Anstrengung durfte sie sich wohl ein bisschen erholen. „Wo tut es denn genau weh?“, wollte Isamu wissen. „Hier.“ Die Schülerin drückte vorsichtig mit den Fingern auf ihren Bauch und stutzte. Dann drückte sie ein wenig fester. „Da tut gar nichts mehr weh“, sagte sie langsam und ihr Lehrer blickte sie skeptisch an. Das Mädchen schlug sich die Faust in den Bauch, dann strahlte sie und stand auf. „Moment mal“, begann Isamu, aber er wurde von Azu unterbrochen, die unbeirrt zur Tür ging. „Das ist ja toll. Ich habe keine Bauchschmerzen mehr. Dann kann ich ja doch Naturkunde mitmachen. Super.“ Und im nächsten Moment hatte sie den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugemacht. Isamu und Kagura starrten ihr hinterher. Auch ihre Freundin war ein wenig überrascht. Sie hatte gedacht, dass Azu ihre Rolle noch ein wenig länger spielen würde. Gleichzeitig war sie froh, denn nun konnte sie endlich mit ihrem Japanischlehrer Klartext reden. „Ich muss mit Ihnen sprechen.“ Isamu deutete zur Tür. „Was war das denn?“ Kagura zuckte mit den Schultern. „Azu hat sich eben sehr schnell wieder erholt. Sind wir doch froh darüber. Aber ich denke, Sie sind mir eine Erklärung schuldig.“ Langsam dämmerte es Isamu, dass hier ein überaus mieses Spiel mit ihm gespielt wurde. „Das war Ihre Idee, stimmt’s?“ „Was war meine Idee?“ „Na, Sie wollten doch mit mir reden. Und um auf Nummer sicher zu gehen, haben Sie sich zusammen mit Azu diese Komödie ausgedacht, damit Sie mich auch wirklich alleine erwischen können.“ „Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden“, meinte Kagura mit unschuldiger Miene. „Ich wollte mit Ihnen sprechen, das stimmt. Und zwar möchte ich gerne wissen, warum Sie mich neuerdings im Unterricht ständig ignorieren. Ich melde mich und versuche alles, um mich an den Stunden zu beteiligen. Aber es ist so, als sie ich gar nicht im Raum. Ständig werde ich übersehen. Und ich bitte Sie, mit zu verraten, was ich falsch gemacht habe. Habe ich Sie irgendwie verärgert?“ Der Mann schüttelte den Kopf, was aber nicht als Verneinung ihrer Frage zu verstehen war. „Sie sind einfach unglaublich. Was für eine Show Sie abziehen, nur um mit mir alleine zu sein. Merken Sie eigentlich selber, was Sie da tun? Das ist unfassbar.“ „Sie lassen mir ja keine andere Wahl. Nach Unterrichtsende rennen Sie so schnell wie möglich aus dem Raum. Sie achten darauf, dass Sie nicht mal in meine Nähe kommen. Und jetzt behandeln Sie mich so, als sei ich gar nicht in Ihrem Unterricht. Ich muss doch zu einem Trick greifen, um mal mit Ihnen reden zu können.“ „Aber das, worüber Sie mit mir reden wollen, hat absolut nichts mit dem Unterricht zu tun, oder?“ Kagura druckste herum: „Nun ja, in gewisser Weise …“ „Hat es etwas mit dem Stoff zu tun, den wir im Unterricht durchnehmen? Haben Sie Verständnisfragen zum gelernten? Oder wünschen Sie irgendwelche anderen Auskünfte, die nur – und ich betone: nur – etwas mit dem Japanischunterricht hier an dieser Schule zu tun haben?“, unterbrach ihr Lehrer sie. Kagura sagte nichts. „Also nicht“, stellte Isamu fest. „Aber nur diese Fragen bin ich bereit, Ihnen zu beantworten. Privat haben Sie und ich nichts miteinander zu tun und werden auch nie etwas miteinander zu tun haben. Daran ändert sich nichts. Mit Fragen, die den Unterrichtsstoff betreffen, können Sie jederzeit gerne zu mir kommen. Ansonsten gibt es überhaupt keinen Grund, weshalb Sie nach dem Unterricht noch auf mich warten oder mich zu anderen Zeiten ansprechen. Und ich hoffe, dass ich mich jetzt endlich klar genug ausgedrückt habe.“ Wütend stürmte der Lehrer aus dem Krankenzimmer und schmetterte die Tür hinter sich zu. Zurück blieb eine verdatterte Schülerin. So ein Mist! Anfangs hatte alles so gut ausgesehen. Doch seit Azu den Raum verlassen hatte, hatte alles eine ganz andere Wendung genommen. Kagura fragte sich, ob überhaupt jemals ein Plan klappen würde, der ausgeheckt wurde, damit sie mit ihrem Japanischlehrer allein sein konnte. *****
„Hol ihn“, rief Tetsuya, warf den Stock in hohem Bogen durch die Luft und der Schäferhund jagte wie der Blitz hinter dem Holzzweig her. „Der wird echt nicht müde“, meinte der Zwilling grinsend zu seinem Bruder, der ein paar Meter neben ihm stand und nur leise brummte. Makoto war ziemlich sauer, denn er war mit den Plänen des älteren Bruders absolut nicht einverstanden. Seit sie die Schule verlassen hatten, hatte Tetsuya in den höchsten Tönen davon geschwärmt, wie gut sie es mit ihrem neuen Mitbewohner haben würden. Er hatte tatsächlich vor, den Hund mit nach Hause zu nehmen. Die ganzen Einwände, die Makoto vorgebracht hatte, wurden einfach beiseite gewischt. Doch diese Einwände waren keineswegs ungerechtfertigt. Das größte Problem war die räumliche Enge in ihrer Wohnung. Sicher, zu zweit konnten sie wunderbar darin leben, aber für einen Hund war es einfach zu klein. Davon abgesehen hätten sie ihn unter der Woche tagsüber alleine lassen müssen, da sie ja die Schule besuchten. Zusätzlich brauchte der Vierbeiner seinen Auslauf. Und jetzt, wo er noch so klein war, war es umso wichtiger, dass man mit ihm spielte, spazieren ging oder einfach nur zeigte, dass man für ihn da war, und alle diese Punkte waren im Zeitplan der Zwillinge absolut nicht vorgesehen. Sie hätten nur ab dem späten Nachmittag für ihn da sein können. Doch Tetsuya wollte von alldem überhaupt nichts wissen. Für die Betreuung tagsüber könnte man einen Hundesitter beauftragen. Die Zwillinge kannten ja viele Leute und einer von denen würde es garantiert übernehmen, so lange auf den Hund aufzupassen, mit ihm Gassi zu gehen und zu spielen, bis sie aus der Schule wieder zurück waren. Und wenn die Wohnung zu klein war, dann konnte sich der Hundesitter doch dementsprechend länger im Freien aufhalten und ihren neuen Mitbewohner dort beschäftigen. Makoto hatte erwidert, dass der zu geringe Platz in ihren eigenen vier Wänden sich nicht auf die Stunden beschränkten, in denen sie Unterricht hatten. Auch abends und nachts war zuwenig Platz für einen Hund vorhanden. Wo sollte er seine Mahlzeiten zu sich nehmen? Wo sollte er seinen Schlafplatz haben? Und wenn er nachts plötzlich nach draußen musste, wer würde das übernehmen? Es fielen Untersuchungskosten für das Tier an, Futter musste angeschafft werden, Hundebürsten und anderes Equipment fiel auch nicht einfach so vom Himmel. Das alles waren Dinge, um die sich Makoto Gedanken gemacht hatte. Er hatte zu Tetsuya gesagt, dass man sich um so etwas eigentlich kümmern solle, bevor man sich ein Haustier anschaffe. Doch dieser hatte nur gelächelt und gemeint, dass Freunde ihnen das Geld für die ersten Anschaffungen schon leihen würden. Der eine Minute jüngere Zwilling hatte sich strikt geweigert, den Hund zu sich nach Hause zu bringen, also hatten die beiden Brüder einen Umweg über einen Park gemacht, in dem sich Tetsuya einen Stock gesucht und mit dem Vierbeiner gespielt hatte. Für ihn war offensichtlich alles in Ordnung und er tat so, als habe es nie eine hitzige Diskussion gegeben. Er schien immer noch entschlossen, den Hund in die kleine Wohnung zu bringen. „Was ist? Bist du immer noch verärgert, weil ich den Hund behalten will?“ „Ach, du merkst aber auch alles. An den ganzen Bedenken, die ich geäußert habe, hat sich nichts geändert. Deine Vorschläge, wie wir alle diese Bedenken ausräumen können, bringen uns überhaupt nichts, weil noch keiner von ihnen in die Tat umgesetzt wurde. Und du kannst nicht erwarten, dass wir diese Vorschläge von einer Minute auf die andere realisieren können. Darüber hätten wir uns Gedanken machen müssen, bevor wir zu dem Hund gekommen sind.“ „Nur leider hatten wir bis vor wenigen Stunden noch keinen Hund.“ Der Vierbeiner hatte den Stock inzwischen ausfindig gemacht und kehrte mit ihm wieder zu den Zwillingen zurück. „Sehr richtig. Und deshalb sollten wir ihn auch nicht behalten.“ Makoto ging zu dem Tier hinüber und packte es am Hals. „Außerdem hat er ein Schild um den Hals, falls du es vergessen haben solltest“, erinnerte Makoto seinen Bruder. „Und auf diesem Schild steht ein Name und eine Adresse. Das ist bestimmt die Adresse von seinem Besitzer. Das heißt, der Hund gehört uns nicht einmal. Er hat schon jemanden, der für ihn sorgt und der ihn vielleicht furchtbar vermisst. Vielleicht ist der Hund ihm weggelaufen. Wir wissen ja nicht, wie lange er schon in der Hecke war, in der wir ihn gefunden haben. Ich bin dafür, dass wir ihn zu der Adresse bringen, die hier auf dem Schild steht.“ „Du bist ein richtiger Spielverderber“, sagte Tetsuya, beugte sich zum Hund hinunter, nahm das Schild in die Hand und studierte es ausführlich. „Das ist aber eine richtig feine Gegend, in der unser kleiner Wolf hier wohnt“, stellte er fest. „Vielleicht gehört er irgendeinem reichen Schnösel, der sich mit etwas Trinkgeld erkenntlich zeigt, wenn wir ihm sein Haustier bringen.“ „Dir ist aber schon klar, dass wir das nicht tun sollten, weil wir auf eine Belohnung spekulieren, oder?“ „Hältst du mich für materialistisch?“, fragte Tetsuya vorwurfsvoll. „Ohne meinen Anwalt sage ich dazu nichts.“ Noch ehe die beiden Jungen reagieren konnten, peste ihr neuer Freund los. Er lief in die Richtung eines anderen kleinen Hundes, der von einer jungen Frau an der Leine spazieren geführt wurde. Als der Vierbeiner der Frau seinen Artgenossen anrennen kommen sah, wedelte er heftig mit dem Schwanz. Dann beschnupperten sich die beiden Tiere ausgiebig, bevor sie sich ansprangen und mit den Vorderpfoten gegenseitig festhielten. Es sah aus, als würden sie einen Ringkampf ausführen. Die Frau ließ die beiden Wesen schmunzelnd gewähren. Sie hatte schon bemerkt, dass die Zwillinge ihrem Hund hinterher gelaufen waren. „Entschuldigung, das hätte eigentlich nicht passieren sollen“, meinte Makoto. „Ach was“, lachte die Angesprochene. „Wenn die beiden herumtollen möchten, dann sollen sie das auch tun. Es wird ihnen so viel von uns verboten, da können wir ruhig ein bisschen Verständnis zeigen. Wir wollen ja auch unter unseresgleichen sein. Bei Tieren ist das genauso.“ „Vielen Dank“, meinte Tetsuya, aber die Frau winkte nur ab. „Einen niedlichen Hund habt ihr“, meinte sie, während die beiden besten Freunde des Menschen immer noch damit beschäftigt waren, ihre Kräfte zu messen. „Das gilt auch für Ihr Exemplar“, grinste Tetsuya. „Aber das ist gar nicht unserer. Wir haben ihn heute morgen in einem anderen Park gefunden. Vielleicht hat man ihn ausgesetzt, vielleicht ist er weggelaufen, das wissen wir auch nicht. Zum Glück hat er ein Schild mit einer Adresse um den Hals. Dorthin wollen wir ihn jetzt bringen, da wir annehmen, dass es die Adresse von seinem Besitzer ist.“ Makoto fasste es einfach nicht. Noch vor zehn Minuten war Tetsuya fest entschlossen gewesen, den Hund zu behalten und nun hatte er offenbar seine Meinung geändert. Natürlich freute Makoto dies, aber er fand das Motiv, aus dem heraus die Ansicht seines Bruders umgeschwenkt war, nicht gerade logisch. Seiner Ansicht nach wollte Tetsuya nur deshalb den Hund an der angegebenen Adresse abliefern, um dort eventuell eine Belohnung in Empfang nehmen zu können. Tetsuya stritt dies zwar ab, aber so plötzlich, wie er dazu bereit war, den Hund nicht bei ihnen einzuquartieren, konnte es nur aus diesem einen Grund geschehen. „Dann hoffe ich, dass der kleine Frechdachs auch tatsächlich zu der Adresse auf dem Schild gehört“, meinte die Frau. Die Zwillinge verabschiedeten sich, trennten die beiden Hunde voneinander und setzten ihren Weg fort. Kurz vor dem Ausgang des Parks nahm Makoto ihren neuen Freund auf den Arm und streichelte ihn ausgiebig. Der kleine Schäferhund stupste mit der Nase im Gesicht des Schülers herum und ließ immer wieder seine Zunge vorschnellen. Es war unumgänglich, den Hund außerhalb des Parks zu tragen. Zu leicht hätte er auf die Straße laufen und von einem Auto angefahren werden können. Bestimmt kannte das Tier noch nicht die Gefahren, die von diesen Fahrzeugen ausgingen. Außerdem liefen auf der Straße noch mehr Menschen mit ihren Haustieren herum als im Park. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Vierbeiner plötzlich wieder davon stürmte, war durchaus gegeben. Auf dem Arm eines Menschen konnte ihm nicht so leicht etwas passieren. Das Haus, das die Zwillinge aufsuchen wollten, war zwar etwas entfernt, aber der Weg war durchaus zu Fuß zu schaffen. Also gingen sie unermüdlich weiter und trugen abwechselnd den Hund, der neugierig in der Gegend umher schaute. Tetsuya ging ein wenig schneller als gewöhnlich. Offenbar konnte er es nicht abwarten, zu seinem Ziel zu kommen. Beide Zwillinge waren gespannt, was sie an der Adresse erwarten würde. *****
„Stimmt es wirklich, dass Katzen immer auf ihren Pfoten landen?“ „Nein, natürlich nicht. Aber je größer die Höhe ist, von der die Katze herunterfällt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf allen vieren landet. Wenn sie vom Balkon einer Wohnung im zweiten Stock fällt, dann ist die Zeit zu kurz, um sich noch zu drehen. Bei einem höheren Stockwerk kann sie sich noch so drehen, dass sie auf den Beinen landet.“ „Das ist ja echt interessant.“ Rei schaute den neben ihr gehenden Jungen mit großen Augen an, doch Ren war entsetzlich gelangweilt. Schon seit Beginn der Pause hing das Mädchen an ihm wie eine Klette und war einfach nicht abzuschütteln. Sie zeigte sich unheimlich interessiert an Katzen und fragte den Jungen Löcher in den Bauch, doch Ren ließ sich nicht täuschen. Ihm war klar, dass sich Rei nur deshalb über Katzen informierte, um in seiner Nähe zu sein. Manchmal war es wirklich ein Fluch, dass man so beliebt bei Mädchen war. Wie gerne wäre der Junge jetzt auf das Dach der Schule geflüchtet, doch dieser Zugang war ihm leider versperrt. Seit die Japanischlehrerin ihn an seinem Zufluchtsort aufgespürt hatte, war der Schüler immer wieder zur Falltür gegangen, um zu prüfen, ob sie nicht doch versehentlich unverschlossen gelassen wurde. Aber da hatte er leider kein Glück gehabt. „Sag mal, wollen wir nicht mal irgendwo hingehen und etwas trinken und uns dabei weiter über Katzen unterhalten?“ Na endlich. Ren hatte sich schon gefragt, wann das Mädchen die Initiative ergreifen und ihn um ein Date bitten würde. Die meisten anderen Schülerinnen, die mit ihm ausgehen wollten, gingen nicht so geschickt vor wie Rei. Sie fielen meist schon in den ersten zwei Minuten mit der Tür ins Haus. Doch auch in diesem Fall würde der Junge hart bleiben. Er hatte absolut keine Lust, sich mit einem Mädchen zu treffen und wenn sich daran etwas ändern sollte, dann wollte er selber bestimmen, wann es soweit war. „Sag mal, warum willst du denn soviel über Katzen wissen?“, erkundigte sich der Schüler. Diese Frage brachte Rei aus dem Konzept. Ihr Redefluss stockte und Ren merkte, wie sehr sie sich um eine plausibel klingende Antwort bemühte. „Ich … ähm … ich habe vor, mir selber eine Katze zu kaufen. Da muss ich natürlich so einiges über Katzen wissen, oder?“ Das Mädchen gratulierte sich innerlich dazu, auf solch elegante Art die Kurve gekriegt zu haben. Mit ihrer Antwort verwirrte sie Ren, der sie so schnell wie möglich loswerden wollte. Das war ihm jetzt nicht mehr möglich, denn immerhin konnte ihre Antwort ja der Wahrheit entsprechen. Aber der Schüler verlor nur für einen kleinen Augenblick die Fassung und schoss dann seine nächste Frage ab. „Welche Rasse denn?“ Der Sieg war ihm gewiss, denn jetzt geriet Rei vollends ins Stocken. Sie hatte absolut keine Ahnung, welche Katzensorten es gab. Sicher, sie kannte Siamkatzen, aber sie wollte eine originelle Antwort geben, die etwas nicht so alltägliches wie die Siam- oder Perserkatze zum Ausdruck brachte. Unglücklicherweise verlor sie immer mehr die Fassung, je länger sie über eine Antwort nachdachte. Gerade als ihr Begleiter sie zum Teufel jagen wollte, tauchte ein anderer Junge mit glatten schwarzen Haaren auf der Bildfläche auf. „Hallo Rei“, begrüßte er das Mädchen. „Hör mal, Akira sucht dich schon überall. An deiner Stelle würde ich schnell zu ihm gehen. Es scheint wichtig zu sein.“ „Oh, tatsächlich?“, antwortete die Schülerin, die erleichtert darüber war, das jemand sie aus ihrer misslichen Situation befreite. Der Junge nickte. „Er steht draußen am Teich. Und er sieht ziemlich genervt aus, weil du nicht bei ihm bist.“ Akira war Reis Freund und es war bekannt, dass er ziemlich eifersüchtig war und sein Mädchen gerne auf Schritt und Tritt beobachten wolle. Sobald sie sich länger als eine Minute nicht in seiner unmittelbaren Nähe befand, wurde er schon nervös. Rei gab sich zwar alle Mühe, dem Schüler, der in die letzte Klasse der Carlton Jouchi Daigaku ging, keinen Grund zur Eifersucht zu geben, aber das nutzte sehr wenig. „Dann … dann gehe ich wohl besser“, meinte Rei und warf Ren einen entschuldigenden Blick zu. Es tat ihr leid, dass sie ihn einfach stehen lassen musste, aber es war jetzt wichtiger, Akira zu beruhigen. Nachdem Ren ihr einen Abschiedsgruß entgegen gemurmelt hatte, lief sie davon. „Jetzt wäre ein Dankeschön angebracht“, grinste der Junge Ren an. „Du willst doch nicht etwa sagen, dass du Rei angelogen hast?“ Der Junge pfiff leise vor sich hin und blickte in die Luft. „Schäm dich, Kiyoshi. Hat man dir nicht beigebracht, dass das nicht sehr höflich ist?“, fragte Ren mit gespielter Empörung. „Nervensägen einfach über sich ergehen zu lassen wäre dann wohl die bessere Alternative, was?“ Ren lachte. „Und du bist immer noch dabei, die Welt zu retten?“, erkundigte sich der Katzenliebhaber. Kiyoshi nickte. „Du darfst es nicht weitersagen, aber ich bin schon ganz dicht dran. Die Befreiung der Erde liegt nah vor mir.“ „Natürlich. Aber was machst du danach? Ich meine, wenn du deine Aufgabe erledigt hast, dann gibt es doch nichts mehr für dich zu tun.“ „Da irrst du dich aber gewaltig, Ren. Schließlich gibt es da noch viele andere Dinge, die getan werden müssen. Der Weltraum ist voll von Dreck, der beseitigt werden muss. Die ganzen Satelliten und alles, was wir sonst früher nach oben geschossen haben. Das muss alles weg.“ Ren schüttelte lächelnd den Kopf. „Du hast wirklich den kompletten Knall, Kiyoshi. Aber abgesehen von deinem Tick bist du total okay.“ Der Junge erwiderte das Lächeln. Es war gut, wenn Ren auch weiterhin diese Gedanken hegte. Es war vor etwa drei Monaten gewesen, als Ren mitbekommen hatte, dass sich Kiyoshi mit etwas beschäftigte, das ziemlich geheimnisvoll sein musste. Als Ren ihn daraufhin angesprochen hatte, hatte Kiyoshi sich kurzerhand die Geschichte von der Welt, die durch ihn gerettet werden musste, aus den Fingern gesaugt. Seitdem war er bei dieser Version geblieben, auch wenn er von vielen Schülern eigenartig angeguckt wurde. Die Wahrheit würde Kiyoshi auf keinen Fall erzählen, denn das war streng verboten. Und wenn ihm tatsächlich jemand auf die Schliche kam, dann würde er einfach alles leugnen. Denn die Wahrheit war viel zu verrückt, als dass sie irgendjemand glauben konnte. „Mädchen sind manchmal ein Fluch“, wechselte Kiyoshi das Thema. Ren seufzte. „Wem sagst du das? Ich frage mich, ob ich einen Magneten verschluckt habe, der auf Ringe, Halsketten und sonstigen Schmuck, den Mädchen tragen, reagiert. Kaum erscheine ich irgendwo auf der Bildfläche, bin ich auch schon von Girls umringt. Und von Minute zu Minute werden es mehr.“ „Jetzt bin ich ja da.“ „Ja, dich habe ich mir als Ehrenmädchen in meinem Fanclub gewünscht.“ Die beiden Jungen lachten lauthals. „Zum Glück hast du ja einen Ort, an dem du dich vor deinen Verehrerinnen verstecken kannst. Du musst nur aufpassen, dass dir niemand folgt, sonst bist du dort auch nicht mehr sicher.“ Diese Sätze überrumpelten Ren völlig. Bisher war er immer davon ausgegangen, dass niemand von seinem Versteck auf dem Dach der Schule wusste. Wie konnte Kiyoshi davon erfahren haben? War er ihm irgendwann heimlich gefolgt? Aber Ren hatte immer gut acht gegeben, dass sich kein Mensch in der Nähe befunden hatte, wenn er sich in sein Versteck zurückgezogen hatte. „Woher weißt du das denn?“, wollte Ren wissen. „Ach, ich halte eben Augen und Ohren offen. Und da bekommt man so einiges mit. Auch Dinge, die man nicht mitkriegen soll.“ „Ja, den Eindruck habe ich auch. Aber diesen Ort gibt es leider nicht mehr. Nicht nur du, sondern noch jemand ist mir auf die Schliche gekommen. Und der hat dafür gesorgt, dass ich mich nicht mehr auf das Dach zurückziehen kann.“ „Sehr schade“, sagte Kiyoshi und machte ein trauriges Gesicht. „Hast du denn eine neue Zuflucht?“ „Na, ich werde dich doch nicht arbeitslos machen und es dir einfach so verraten. Um das rauszukriegen, musst du dich ein bisschen anstrengen. Aber das bereitet dir sicher keine Schwierigkeiten.“ Kiyoshi hatte auch nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Ren ihm ein neues Versteck einfach so mitteilen würde. Und es war ihm auch ziemlich egal. Viel wichtigere Dinge mussten von ihm in Angriff genommen werden. Und an erster Stelle stand dieser neue Schüler. Kiyoshi hatte den ersten Kontakt herstellen müssen, was ihm auch gelungen war. Jetzt mussten nur noch einige Informationen über Takeo beschafft werden, aber das war nicht seine Aufgabe. Und wenn alles erledigt war, musste er den nächsten Schritt in Angriff nehmen, der wohl der schwierigste sein würde. Er musste Takeo dazu bringen, ihn zur Gruppe zu begleiten. Wie er das anstellen sollte, davon hatte er noch keine Ahnung, aber es waren ja auch noch einige Wochen Zeit, um sich etwas zu überlegen. Auf jeden Fall war es wichtig, Takeo nicht zu verschrecken. Man hatte Kiyoshi unmissverständlich klar gemacht, dass man den Jungen in der Gruppe haben wollte. Den Grund dafür kannte Kiyoshi zwar nicht, aber bei Takeo musste es sich zweifellos um einen besonderen Schüler handeln. Denn nur auserwählte Personen wurden in die Gruppe aufgenommen. *****
Mit einem Lächeln auf den Lippen und vor sich hin summend schlenderte Haruka nach Hause. Sie hatte gehofft, dass Kazuki ihr Essen schmecken würde, aber mit dieser Begeisterung hatte sie nicht gerechnet. Das Mädchen freute sich über das Lob, das sie von ihrem Mitschüler bekommen hatte. Sie freute sich darüber, dass sie ihm zeigen konnte, wie Essen zubereitet wurde. Eigentlich freute sie sich über alles. Der Tag war einfach wunderschön. „Hallo Haruka“, hörte sie die Stimme neben sich. Sie schaute zur Seite, sah Nobu und wurde sofort wieder unsicher. Waren sie verabredet gewesen und sie hatte es vergessen? Als hätte der Junge ihre Gedanken erraten, sagte er: „Keine Angst, wir hatten heute keinen Termin. Aber es ist schön, dich so fröhlich zu sehen. Man merkt richtig, dass du gute Laune hast. Und wenn du so unbeschwert die Straße entlang läufst, dann wird man ebenfalls froh. Das steckt richtig an.“ Haruka war viel zu glücklich, um über das Lob verlegen zu werden. Sie antwortete nur: „Stimmt, mir geht es richtig gut.“ „Magst du mir den Grund verraten?“ Haruka schüttelte den Kopf. Nobu lächelte sie an. „Ich wette mit dir, dass es nichts mit unserem Unterricht zu tun hat.“ „Dann wette ich nicht mit dir, denn du würdest gewinnen“, antwortete das Mädchen. Nobu lachte. „Hast du etwas dagegen, wenn ich dich weiter ausfrage? Ich bin furchtbar neugierig. Und bestimmt habe ich mit mindestens fünf Fragen den Grund herausgefunden.“ „Na, dann viel Glück. Deine erste Frage war ja schon ein Erfolg“ „Hey, das ist unfair“, empörte sich Nobu. „Du kannst doch meine Wette nicht als Frage ansehen.“ „Du kannst gerne gleich aufgeben.“ „Na warte. Hat es etwas mit der Schule zu tun?“ Die Schülerin verneinte. „War deine Laune heute morgen, als du die Schule betreten hast, auch schon so gut?“ „Nein“, lachte Haruka. „Damit hast du mir einen dicken Hinweis gegeben. Der Grund deiner guten Laune muss also passiert sein, als du in der Schule warst. Und da es nichts mit schulischen Dingen zu tun hat, lassen sich die Möglichkeiten ziemlich stark eingrenzen.“ „Aber nicht so stark, dass du sie mit nur noch zwei Fragen herausfindest.“ „Jemand hat dich zu etwas eingeladen.“ „Falsch.“ „Du hast eine positive Mitteilung auf etwas bekommen, worauf du schon lange gewartet hast?“ „Habe ich dir nicht gesagt, dass du es nicht erraten würdest?“ Nobu machte ein enttäuschtes Gesicht. „Das ist total gemein. Ich habe mich so angestrengt. Willst du mich wirklich schmoren lassen?“ „Eigentlich warst du mit deiner vorletzten Frage schon sehr dicht an der Lösung. Ich wurde nicht von jemandem eingeladen, sondern ich habe jemanden eingeladen.“ Nobu machte große Augen. „Wirklich? Das ist ja toll? Was werdet ihr unternehmen?“ „Wir kochen zusammen.“ „Hey, klasse. Und du hast ihn von dir aus zum Kochen eingeladen? Das finde ich richtig gut von dir. Das ist ein ziemlicher Fortschritt. Vielleicht siehst du es nicht als große Sache an. Ich kenne ja die Situation nicht, in der du die Einladung gemacht hast. Aber auch wenn es dir verhältnismäßig leicht gefallen ist, die Person einzuladen, so ist das doch ein toller Schritt. War es denn leicht?“ Haruka druckste ein wenig herum, doch das Lächeln auf ihrem Gesicht blieb. „Ist ja auch total egal, ob es dich viel Überwindung gekostet hat. Du hast es getan und nur darauf kommt es an. Du hast es von dir aus getan. In diesem Fall hast du deine Scheu überwunden. Und damit zeigst du, dass du etwas ändern willst. Bist du froh, dass du es getan hast.“ Die Schülerin nickte und drehte am obersten Knopf ihrer Schuluniformjacke. „Darf ich noch einmal einen Tipp abgeben? Du hast einen Jungen zum Kochen eingeladen, oder?“ Haruka war es schon gewohnt, dass sie rot wurde, wenn die Rede auf Jungen kam, aber im Moment machte es ihr überhaupt nichts aus, dass ihr Gesicht die Farbe einer Tomate annahm. Ihren glücklichen Moment würde sie sich für den Rest des Tages nicht zerstören lassen. „Da ist gar nichts schlimmes dabei“, lächelte Nobu sie an. „Ich kann mir auch vorstellen, dass es Kazuki ist, mit dem du dich verabredet hast. Und wenn ich ehrlich bin, dann hätte ich an deiner Stelle auch nicht lange mit einer Einladung gewartet. Er sieht gut aus, behandelt dich normal, macht sich nicht über dich lustig und unterstützt dich. Und das ist es, was du verdient hast, Haruka. Deine Schüchternheit wird dir bestimmt noch sehr oft hinderlich sein. Doch du kannst dich jetzt nicht mehr mit der Ausrede schützen, dass dir Kazuki egal ist. Du magst ihn, sonst hättest du ihn nicht eingeladen. Und er ist ein toller Junge.“ Haruka stimmte Nobu gedanklich in allen Punkten zu. Sie ärgerte sich ja über sich selbst. Wie oft wollte sie Kazuki schon sagen, dass sie ihn süß fand. Doch die Hemmungen waren stets größer gewesen. Heute war sie jedoch über ihren Schatten gesprungen, wobei es ihr Kazuki aber auch leicht gemacht hatte. Und sich mit jemandem zum Kochen zu verabreden hatte etwas unverfängliches. Außerdem war es etwas, das auch Haruka sehr gerne tat. Und ihr Mitschüler war immer so lieb zu ihr, dass sie ihm gerne etwas zurückgeben wollte. Ihm das Kochen beizubringen war eine tolle Gelegenheit dafür. „Dein Selbstvertrauen ist schon ein ganz kleines Stück gewachsen und es wird noch besser werden“, versprach ihr Nobu. „Wir werden weiterhin daran arbeiten, dass du ganz normal alles einfach tun kannst, ohne dass dir lästige Gedanken im Weg stehen. Und mache dir keine Gedanken über eine Gegenleistung. Ich will keine haben. Ich mache das quasi als Wiedergutmachung.“ „Wiedergutmachung?“ Haruka sah den Jungen fragend an. „Ist nicht so wichtig“, winkte dieser ab. „Wichtig ist nur, dass du ganz viel Spaß bei deiner Verabredung hast.“ Nobu wollte die gute Laune von Haruka nicht zerstören. Vielleicht würde er ihr irgendwann einmal mitteilen, warum es ihm so wichtig war, dass das Mädchen mehr Selbstbewusstsein erlangte. Doch zum jetzigen Zeitpunkt hätte es sie nur deprimiert. Und traurig sehen wollte er sie unter keinen Umständen. Insgeheim schloss er mit sich ein Abkommen. Wenn der Unterricht durch ihn beendet war, würde er ihr den wahren Hintergrund dieser Aktion erzählen. Nobu war klar, dass er mit seinen Bemühungen an seiner Situation absolut nichts änderte, aber er konnte und wollte nicht anders handeln. ******
Es war nicht zu leugnen, dass sich die Sakurai-Zwillinge in einer nobleren Wohngegend befanden, als sie aus dem Bus ausstiegen. Zu Fuß hätten sie mindestens zwei Stunden gebraucht, um zu der Adresse zu kommen, die auf dem Halsbandschild des Hundes stand. Nun waren die Jungen froh, dem Bus entkommen zu sein. Es war ziemlich warm und stickig im Inneren gewesen. Zum Glück gab es den Schäferhund, der sie von der schlechten Luft und dem Mief im Fahrzeug abgelenkt hatte. Das Tier hatte sich intensiv mit Makotos Nase beschäftigt und von Tetsuya war der Vorschlag gekommen, dass man den Hund doch so abrichten könne, dass es ihm möglich war, mit seiner Zunge ins Innere von Makotos Nase zu gelangen. Dieser Vorschlag stieß jedoch auf wenig Gegenliebe. Die Häuser am Straßenrand sahen aus, als seien sie unglaublich teuer. Die Vorgärten waren allesamt gepflegt und gut erhalten. Während auf den Gehwegen in Carlton allerhand Müll herumlag, konnte man hier keine weggeworfenen Verpackungen, Papierfetzen und anderen Abfall erkennen. Es schien so, als würde jede Stunde einmal ein Reinigungswagen durch die Gegend fahren. Aber schließlich befanden sich die Zwillinge auch nicht mehr in Carlton, sondern in einem kleinen Ort, der etwas außerhalb lag. Und dieser war dafür bekannt, dass sich in ihm nur niederlassen konnte, wer über sehr viel mehr Geld verfügte als der durchschnittliche einer Tätigkeit nachgehende Amerikaner. Ab und zu waren andere Fußgänger zu sehen, ansonsten war dieses Viertel ruhig und friedlich. Selbst die Autos fuhren hier nicht so zahlreich durch die Straßen. Es war einfach idyllisch hier. Der kleine Schäferhund kannte die Gegend offenbar. Er gebärdete sich wie wild in Tetsuyas Arm und schließlich setzte ihn der Junge auf den Bürgersteig und er sauste davon. Doch nach ein paar Metern blieb er stehen, drehte sich um, rannte wieder zu den Schülern zurück und tänzelte um sie herum. Dieses Spiel wiederholte sich mehrmals. Beide Zwillinge dachten das gleiche. Sie brauchten gar nicht groß nach dem Haus des Vierbeiners zu suchen, er würde sie schon von selbst darauf aufmerksam machen. Der Hund bog in eine Seitenstraße ein und bellte. „Scheint nicht mehr weit zu sein“, mutmaßte Tetsuya. Als die Schüler den Hund wieder sehen konnten, wuselte er aufgeregt vor einem weißen Haus hin und her. Es hatte ein rotes Dach und passte perfekt zu den anderen Häusern, die hier standen. Hätte es direkt in Carlton gestanden, wäre es auffällig gewesen wie ein sonnengelber Elefant und vermutlich wäre es gleich in der ersten Nacht von Einbrechern heimgesucht worden. Der Grund, warum der Hund vor dem Gebäude wie wild auf und ab lief, bestand in einem kleinen geschlossenen Tor. Die schwarzen Eisenstäbe wanden sich wie Ranken ineinander und endeten in Höhe des Halses in kleinen rechteckigen Platten. Auffordernd schaute das Tier die Zwillinge an, als sie beim Eingang angelangt waren. Makoto öffnete das Tor und sofort nutzte der Vierbeiner seine Chance. Er rannte den kleinen Weg hinauf bis zur Haustür, wo er sein Gebell fortsetzte. Hinter ihm folgten seine Finder, die sich nach beiden Seiten umschauten. Links vom Weg erstreckte sich eine Rasenfläche, an deren Rand eine Blumenreihe zu sehen war. Rechterhand gab es einen Johannisbeerbusch und davor drei kleine Reihen, in denen offenbar Gemüse angebaut wurde. Der Rest war mit Blumen und Sträuchern aufgefüllt. Das Betätigen des Klingelknopfes wurde den Jungen abgenommen, denn kaum waren sie die drei kleinen Steinstufen vor der Haustür hinaufgestiegen, so wurde diese auch schon geöffnet. Ein älterer Mann stand vor ihnen, dessen Bein sofort von den Pfoten des Schäferhunds umklammert wurde. Das Tier fiepte und winselte aufgeregt und es erhielt tatsächlich die Aufmerksamkeit, die es wollte. „Tracy, wo warst du denn die ganze Zeit?“, lachte der Mann und hob Tracy in die Höhe. Diese ließ sich nicht zweimal bitten und schleckte dem Mann übers Gesicht. Grinsend betrachteten die beiden Jungen die Szene. Der Besitzer des Hundes war etwa Mitte fünfzig, untersetzt, hatte einen dunklen Vollbart und dunkelblonde Haare. Er trug ein weißes Hemd und eine graue Stoffhose, die durch Hosenträger gehalten wurde. Nachdem sich die Aufregung ein wenig gelegt hatte, setzte der Mann den Vierbeiner auf den Boden, worauf dieser direkt in die Wohnung lief, „Wo haben Sie Tracy denn aufgelesen?“, wollte der Mann wissen. „Im Park“, antwortete Makoto. „Ja, sie hatte sich in einem Busch verkrochen und es war ziemlich schwer, sie dazu zu bewegen herauszukommen.“ „Kommen Sie doch bitte herein“, bat der Mann und gab die Tür frei. Die Zwillinge folgten der Aufforderung und betraten den Flur des Hauses, von dem auf der rechten Seite eine Wendeltreppe ins obere Stockwerk führte. Sie folgten dem Hausherrn ins Wohnzimmer, wo Vitrine an Vitrine stand, in denen man Medaillen und Pokale sehen konnte. Die Münzen standen aufrecht in kleinen Schachteln, die mit blauem Samt ausgeschlagen waren. Gegenüber der Eingangstur waren Regale in die hintere Wand eingelassen worden, in denen sich viele Bücher tummelten. Tummelten, das war der richtige Ausdruck. Im Gegensatz zu den Stücken in den Vitrinen waren die Lesestoffe nicht ordentlich aufgestellt, sondern lagen wie Kraut und Rüben durch- und übereinander. Während der kleine Hund aufgeregt im Wohnzimmer umher rannte, fragte der Gastgeber seinen Besuch, ob er einen Kaffee wolle. Die Jungen nahmen das Angebot an und der Mann trug eine Thermoskanne und drei Tassen zum Tisch, schenkte Kaffee ein und setzte sich ebenfalls. „Mein Name ist Harvey Scoggins und ich möchte mich sehr herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass sie Tracy zu mir zurückgebracht haben. „Das war dank des Schildes um ihren Hals auch sehr einfach“, meinte Makoto und ließ einen Löffel Zucker in seinen Kaffee rieseln. „Eine Freundin von mir sollte Tracy heute morgen ganz früh zum Tierarzt bringen, ist durch diesen Park gelaufen und hat dort einen Freund getroffen. Natürlich musste sie sich mit ihm unterhalten und in diesem Moment ist ihr Tracy wohl entwischt. Sie hat Stunden nach ihr gesucht, aber natürlich konnte sie den Hund nicht finden, wenn Sie ihn unter Ihre Fittiche genommen hatten.“ Tracy fand die Unterhaltung zwischen den drei Menschen langweilig und es gefiel ihr viel besser, mit ihren Zähnen die Fransen aus dem Teppich zu zerren. Zweimal schaute sie sich vorsichtig um, aber als keine Ermahnung folgte, ging sie davon aus, dass das schon in Ordnung war und verrichtete weiter ihr Zerstörungswerk. „Ihr Tierarzt liegt aber ganz schön weit von Ihnen weg“, bemerkte Tetsuya. „Gibt es keinen in Ihrer Nähe?“ „Sicherlich, aber ich werde meine Hunde doch nicht zu irgendeinem beliebigen Tierarzt schicken. Es muss sichergestellt sein, dass sie nur die beste Pflege und Behandlung erfahren und da nehme ich auch mal den weiten Weg auf mich, um zu einem angesehenen Spezialisten zu gehen.“ „Ihre Hunde?“, fragte Makoto erstaunt. „Haben Sie denn mehrere? Ich habe gar keinen Zwinger gesehen. Ist Ihr Grundstück denn so groß?“ Harvey Scoggins lachte. „Nein, die Hunde sind nicht bei mir, sondern im Umkreis untergebracht. Ich besuche Turniere und Agility-Wettkämpfe. Daher auch die vielen Auszeichnungen, die Sie in den Vitrinen hier sehen. Im oberen Stockwerk hängen hauptsächlich Urkunden, die ich erhalten habe. Und ich nehme nicht nur an Wettkämpfen teil, sondern bereite auch Hunde von anderen Besitzern darauf vor. Und ein hoffnungsvoller Nachwuchskandidat ist Tracy. Deshalb war ich auch ziemlich bestürzt, als mir die Freundin gebeichtet hat, dass sie weggelaufen ist und sie sie nicht mehr gefunden hat.“ „Offenbar übt sie gerade für die Disziplin Teppich rupfen“, grinste Tetsuya, der einen raschen Blick in Richtung des Hundes geworfen hatte. Der Hausherr folgte dem Blick des Jungen und rief laut und empört Tracys Namen, die daraufhin wie ein Blitz aus dem Wohnzimmer schoss. „Ich setze alle Hoffnungen in Tracy“, beteuerte Scoggins. „Sie ist noch jung und hat noch Unsinn im Kopf, wie junge Lebewesen nun mal sind. Aber schon jetzt stiehlt sie allen die Show, wenn wir sie irgendwohin mitnehmen. Und sie ist mit Feuereifer bei der Sache und genießt es richtig, durch einen Parcours zu laufen. Wir müssen früh anfangen, mit ihr zu trainieren. Es ist wichtig, dass die Vorbereitungen nicht zu spät einsetzen.“ „Wie viele Hunde trainieren Sie denn und wie viele gehören Ihnen selbst?“ „Ungefähr zehn Tiere bereite ich auf die Wettkämpfe vor. Noch einmal so viele sind die Hunde, mit denen ich selbst Turniere besuche und für die ich die Auszeichnungen erworben habe. Für die Tiere ist es wie ein Spiel. Sie haben nicht dieses Siegerdenken wie wir Menschen. Man muss ihnen das ganze spielerisch vermitteln. Nur so hat man überhaupt die Chance, bei einem Turnier den ersten Platz zu erringen. Und zwingen kann man seine Lieblinge schon gar nicht. Wenn sie keine Lust haben, dann haben sie keine Lust. Von wegen, du musst jetzt aber. Die Tiere husten Ihnen was. Sie können manchmal genauso stur sein wie Esel.“ „Ist aber wirklich eine beeindruckende Sammlung, die Sie sich da erworben haben“, sagte Makoto anerkennend, was von einem Nicken seines Bruders bestätigt wurde. „Vielen Dank. Ich mache das auch bereits seit über fünfzehn Jahren. Da kommt schon so einiges zusammen.“ Der Hausherr erhob sich von seinem Stuhl und kehrte mit einer kleinen Kassette an den Tisch zurück. Er hob den Deckel kurz an, stockte, blickte die Zwillinge an und fragte: „Halte ich Sie von einem wichtigen Termin ab?“ Tetsuya schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben Zeit. Für heute haben wir nichts weiter vor.“ Nun öffnete Scoggins den Deckel ganz und holte viele kleine und große Fotos hervor. „Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie einzusortieren“, sagte er entschuldigend. „Und ich hasse diese Digitalkameras. Um mir Bilder ansehen zu können, muss ich Papier in der Hand haben.“ Gemeinsam schauten sich die drei Fotos von früheren Turnierschauplätzen und ganz vielen Hunden an, die auf einigen Bildern ihre Kunststücke zeigten. Dabei erzählte der Mann lustige und auch traurige Begebenheiten aus seiner mehrjährigen Laufbahn. Alle drei mussten lachen, als beispielsweise die Rede auf eine Dogge kam, der es im Tunnel – einem schlauchartigen Durchgang, den der Hund durchlaufen musste – so gut gefiel, dass sie sich in dessen Mitte hinlegte und durch nichts dazu zu bewegen war, wieder zum Vorschein zu kommen. Natürlich verursachte das einen Stau der nachfolgenden Hunde und das Training musste ohne den Tunnel weiter absolviert werden. Es wurde ein kurzweiliger und vergnügter Nachmittag, an dem die Zwillinge viel von den Trainingsmethoden und den Menschen, die Harvey Scoggins bei seiner Arbeit unterstützten, erfuhren. Die Stunden vergingen wie im Flug, bis der bärtige Mann sagte: „Noch einmal vielen Dank, dass Sie Tracy zu mir gebracht haben. Ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten. Aber Sie werden mein Haus nicht verlassen, ohne dass ich Ihnen eine Anerkennung gegeben habe.“ Er öffnete eine Schublade des Tisches, an dem sie saßen, zog zwei Fünfzig-Dollar-Noten hervor und überreichte jedem Jungen einen Schein. „Aber das ist doch nicht nötig“, protestierte Makoto. „Ich bestehe darauf, dass Sie das Geld annehmen.“ Tetsuya zupfte seinen Bruder am Ärmel der Uniformjacke. „Nimm es lieber an, ansonsten jagt uns Mister Scoggins vielleicht persönlich durch den Agility-Parcours. Obwohl, ich könnte mir vorstellen, dass das bei dir gar nicht so schlecht aussähe. Vielleicht kannst du auch mal durch den Tunnel krabbeln. Du kriegst zur Belohnung auch ein Leckerli.“ „Du bist so blöd“, rief Makoto, während Scoggins vor Lachen kaum noch Luft bekam. „Das Geld ist angemessen für das, was Sie beide getan haben. Andere Leute hätten Tracy vermutlich behalten und gar nicht gewusst, welch ein großartiges Talent bei ihnen verkümmert wäre. Seien Sie so froh über das Geld, wie ich über die Rückkehr von meinem Hund bin.“ Als die beiden Zwillinge wieder auf der Straße waren und in Richtung des Busses schlenderten, meinte Tetsuya: „Habe ich es nicht gesagt? Da sprang doch eine fette Belohnung für uns raus. Wenn ich daran denke, dass uns die fast durch die Lappen gegangen wäre, weil du unbedingt den Flohmagneten bei uns behalten wolltest.“ „Ich glaube, da verwechselst du ein bisschen was“, stellte sein Bruder richtig. „Weiß ich doch“, grinste dieser. „Ich wollte dich doch nur etwas ärgern. Neben dem Geld haben wir auch noch allerlei interessante Dinge über Hundetrainings erfahren, einen netten Nachmittag mit Kaffee gehabt und einen extrem öde gewesenen Schultag versäumt. Man kann seine Stunden ganz bestimmt mit unangenehmeren Sachen verbringen.“ *****
Erleichtert stöhnte Takeo auf, als das Klingelzeichen verkündete, dass der Unterricht für diesen Tag beendet war. Heute war es wirklich sehr anstrengend gewesen. In rasender Geschwindigkeit hatte jeder Lehrer sein Pensum durchgezogen. Takeo hatte sich schon in der zweiten Stunde gefragt, ob man ihnen den Stoff der nächsten Monate an einem Tag hatte beibringen wollen. Und zusätzlich hatte er sich mit Chizuru, wie vereinbart, in der letzten Stunde, in der beide eigentlich frei gehabt hätten, in ein leeres Klassenzimmer verzogen und Physik gelernt. Nun war zum Glück Feierabend und der Schüler konnte es kaum erwarten, endlich von seinem Chauffeur abgeholt und nach Hause gefahren zu werden, wo hoffentlich ein leckeres Abendessen auf ihn wartete, denn er hatte riesigen Hunger. „Endlich ist dieser Tag vorbei“, seufzte Takeo erleichtert, während er das Schulbuch in seinen Rucksack stopfte. Chizuru grinste ihn an. „Du scheinst nicht sehr viel von neuer Wissensvermittlung zu halten.“ „Doch, nur nicht, wenn sie mit der Geschwindigkeit der Concorde an uns übertragen wird.“ Die beiden Teenager gingen den Flur entlang und verabschiedeten sich von anderen Schulkameraden, die es offensichtlich furchtbar eilig hatten und das Verbot, dass in den Fluren nicht gerannt werden durfte, ganz einfach ignorierten. Nach einer Minute hatten Takeo und seine Mitschülerin die Tür erreicht, die zum Schulhof hinaus führte. Sie wurde von ihnen vorauseilenden Jungen und Mädchen aufgehalten. „Freiheit“, jubelte Chizuru und streckte ihr Gesicht ein wenig näher der Sonne entgegen. Der Junge neben ihr lachte. Vor dem Tor blieben die beiden Teenager stehen. „Sag mal, wollen wir morgen nach der Schule nicht noch irgend etwas unternehmen?“, fragte Takeo. „Morgen kann ich leider nicht“, schüttelte Chizuru den Kopf. „Aber wie wäre es denn mit Freitag? Hast du da Zeit?“ „Klar, Freitag passt mir gut. Wir sprechen dann noch mal ab, wann und wo wir uns treffen wollen. Ist ja noch ein bisschen Zeit.“ „Alles klar. Komm gut nach Hause. Tschüss.“ Chizuru winkte ihm noch einmal und ging die Straße hinunter, während Takeo die Straße überquerte und in eine Seitenstraße einbog, wo der Chauffeur schon auf ihn wartete. Der Junge bemerkte das Mädchen nicht, das die ganze Zeit hinter ihm hergelaufen war und seine Unterhaltung mit Chizuru genauestens verfolgt hatte. Ein gemeines Lächeln umspielte ihre Lippen. Takeo wollte sich also am Freitag mit dieser Chizuru treffen. Daraus würde allerdings nichts werden, denn Chiyo hatte bereits den Entschluss gefasst, die Verabredung zu sabotieren. Sie dachte angestrengt darüber nach, wie es ihr gelingen konnte, ihre Rivalin aus dem Rennen zu werfen. Anstelle von Chizuru wollte sie sich mit Takeo treffen und ein paar nette Stunden mit ihm verbringen. Und dann fiel ihr tatsächlich ein Zug ein, der Chizuru matt setzen konnte. Doch um diesen Plan in die Tat umsetzen zu können, benötigte Chiyo noch eine kleine Information über ihre Kontrahentin. Aber an diese Info zu kommen, durfte nicht allzu schwer sein. „Wir sehen uns am Freitag, Takeo“, flüsterte Chiyo und lachte leise. Kommentare zu "Ein Hundstag" |